32

Der graue Tag musste trübem Zwielicht weichen. Noch bevor es dunkel wurde, hatte sich eine tödliche Stille über den Wald gelegt. Kein Wintervogel war zu hören, und nirgends raschelte ein Tier im Laub. Es rührte sich kein Lüftchen. Nur ab und an knarrte oder brach ein Ast unter der Last des Schnees. Sie gelangten schließlich an eine Lichtung, die von dichtem, dornigem Gebüsch umsäumt war. Rhapsody registrierte beiläufig, dass es sich um Brombeersträucher handelte, die aber, verkümmert wie sie waren, wahrscheinlich nie mehr Früchte tragen würden. Hinter dem Dickicht erkannte sie die vagen Umrisse eines Hauses.

Langsam und vorsichtig gingen sie noch ein Stück weiter und drückten sich am Rand des Wegs entlang, bis sie eine Stelle erreichten, die ihnen einen besseren Ausblick auf die Lichtung und das Haus erlaubte. Kein Zweifel, es war das Haus, wonach sie suchten. Seitlich erhob sich ein aus Bruchsteinen gemauerter Turm, der einen quadratischen, ummauerten Hof überblickte. An den vier Ecken dieses Hofes waren bewaffnete Wachen postiert.

In der Mitte des Hofes stand ein kahler Baum, der auf Rhapsody aus der Entfernung einen abgestorbenen Eindruck machte. Seit ihrer Lehrzeit bei Llauron war sie sehr wohl in der Lage, den Gesundheitszustand von Bäumen einzuschätzen. Und dieser Baum schien ihr unrettbar verloren zu sein.

Die Mauern rings um den Hof waren einmal weiß getüncht gewesen, doch mit der Zeit hatten sich Moose und Flechten darauf breit gemacht. Das Dach des Hauses war mit Schiefer gedeckt, und eine große Eingangstür stand einen Spaltbreit offen, als erwartete man Besuch. Achmed und Grunthor trennten sich, um im Schutz des Dickichts um das Haus zu schleichen, der eine links, der andere rechts herum. Rhapsody war immer wieder aufs Neue erstaunt darüber, wie lautlos sich die beiden im Unterholz zu bewegen verstanden. Überdies waren sie kaum zu erkennen, was vor allem bei Grunthor und seinen gewaltigen Ausmaßen überraschte. Sie sah sich um und hoffte inständig, dass die beiden unentdeckt blieben. Sie richtete ihren Blick zurück auf das Haus. Zu beiden Seiten des Tores stand ein Mann in einem Harnisch aus Leder und Ketten, mit einem langen Speer bewaffnet. Obwohl es inzwischen recht dunkel geworden war, brannte hinter den Fenstern des Hauses keine einzige Kerze. Zu hören war nichts als ein leises, unregelmäßiges Klicken, das von einer Birke herrührte, die mit ihren langen Zweigen an die Mauern und das Dach des Hauses schlug. Einmal glaubte Rhapsody auch, ein unterdrücktes Schluchzen zu hören, das sie nach kurzem Innehalten aber dem Wind zuschrieb.

»Bist du so weit? Sieh zu, dass wir dich immer im Auge behalten können«, riet Achmed, und es war, als flüsterte er ihr ins Ohr, obwohl er etliche Schritte entfernt stand. Offenbar war er von einer kurzen Erkundungstour zurückgekehrt. Sie nickte ihm zu, worauf er wieder im Dunkeln verschwand. Rhapsody fasste sich ein Herz, trat hinter dem Dickicht hervor und näherte sich dem Haus. Kaum hatten sie die Frau erblickt, senkten die Wachen ihre Speere. Rhapsody wurde vor Angst und Nervosität ganz schwindlig. Sie lächelte, obwohl ihr ganz und gar nicht danach zu Mute war, zumal sie den Gestank faulenden Fleisches wahrzunehmen meinte.

»Hallo«, grüßte sie freundlich. Die Wachen waren offenbar sehr angetan. Einem der beiden Männer klappte bei ihrem Anblick der Unterkiefer herunter, und fast wäre ihm der Speer aus der Hand gefallen. »Bin ich hier richtig, am Haus der Erinnerung?«

Der eine Posten nickte stumm. Rhapsody bemerkte, dass der andere sehr viel beherrschter und weniger leicht aus der Fassung zu bringen war, was sie beklommen machte.

»Das war ja dann leicht zu finden«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln. Jetzt fingen auch die Hände des zweiten Wachpostens zu zittern an. Nach dem Gang durch das große Feuer sehe ich anscheinend zum Fürchten aus, dachte sie. Von ihrer eher schmächtigen Statur waren die beiden Kerle gewiss nicht eingeschüchtert.

»Ich bin mit Freunden hier verabredetet. Habt ihr sie gesehen?« Rhapsody wählte die Worte mit Bedacht und versuchte mit ihrer Frage herauszufinden, ob Grunthor oder Achmed auf ihren Schleichwegen um das Haus womöglich entdeckt worden waren.

»Willst... willst du meine Frau werden?«, fragte der erste Posten.

Rhapsody stutzte, fing aber dann zu lachen an. Sie stellte sich vor, wie wohl Grunthor auf diese Frage reagiert hätte, wäre er zur Stelle gewesen.

Vertraulich beugte sie sich ihm zu und sagte: »Ich fürchte, meinem Freund würden solche Anträge, auch wenn sie nur scherzhaft gemeint sind, überhaupt nicht gefallen. Er ist sehr fürsorglich und wird fuchsteufelswild, wenn er glaubt, dass man mich beleidigen will.«

Der junge Mann wurde nervös. »Nein, Fräulein, ich ...«

»Schwamm drüber. Habt ihr ihn schon gesehen? Er müsste euch jedenfalls aufgefallen sein, so groß und, nun ja, Furcht erregend, wie er aussieht.«

Die beiden Wachen tauschten flüchtige Blicke; ihnen war, wie Rhapsody bemerkte, nicht wohl in ihrer Haut. Ihre Worte hatten eine Wirkung ausgeübt, die gar nicht beabsichtigt gewesen war.

Der zweite Wachposten fasste all seinen Mut zusammen und sprach: »Du bist hier mit ihm verabredet? Nein, er ist zwar für heute angekündigt, allerdings noch nicht eingetroffen. Aber tritt ein, drinnen ist’s wärmer. Und lass dir versichern: Meinem Freund lag nichts ferner, als dich zu beleidigen.«

Zuvorkommend stieß der erste Posten die Tür auf und machte ihr den Weg frei. Rhapsody warf einen Blick über die Schulter zurück, konnte aber weder von Grunthor noch Achmed irgendeine Spur erkennen. Gleichwohl glaubte sie Achmed leise vor sich hin fluchen zu hören, verärgert darüber, dass sie sich nun anschickte, ins Haus zu gehen, wo er sie nicht mehr würde unter Beobachtung halten können. Die Hand wie beiläufig auf den Knauf des Schwertes gelegt, folgte sie dem ersten Wächter über die Schwelle. Sie betraten eine verdunkelte Vorhalle. In die Seitenwände links und rechts waren schwere Türen eingelassen. Vor ihnen öffnete sich ein Portal in einen großen Garten. Rhapsody erstarrte und hielt die Luft an.

Eine geradezu sichtbare Wolke aus eklig süßlichem Gestank wie von faulendem Fleisch schlug ihr entgegen. Rhapsody wurde kreidebleich, würgte und schluckte die Galle hinunter, die ihr hochgekommen war. Noch mehr als der Gestank entsetzte sie der Anblick, der sich ihr bot. Sie starrte in den als Garten gestalteten, großen Innenhof hinaus, in dessen Mitte der abgestorbene Baum aufragte. Der blutverschmierte Schnee lag wie eine rosige Decke auf dem Boden ausgebreitet. Inmitten des Gartens standen zwei Holzgerüste, wie man sie zum Schlachten von Schweinen nutzte. Dazwischen befand sich ein großer Altar aus dunklem Gestein. In dessen Sockel war eine Rinne eingemeißelt worden, die in eine kunstvoll gestaltete Wanne führte. Links und rechts daneben standen zwei ähnliche Wannen, die ihrerseits über eine Zuleitung mit zwei großen, unter den Schlachtgestellen platzierten Fässern verbunden waren.

Von den drei Wannen führten wiederum drei Rinnen ab, die auf verschlungenen Wegen in einen großen kupfernen Kessel führten, der außen mit einer dicken Rußschicht bedeckt war. Im Kessel selbst wie auch in den Rinnen und Wannen stand eine schwarze, dicke Flüssigkeit.

Um was es sich bei dieser Flüssigkeit wohl handeln mochte, war nicht schwer zu erraten. Auf dem Altar und in den Holzgestellen rechts und links davon hingen drei Kinder mit aufgeschlitzten Kehlen und Handgelenken, aus denen all ihr Blut ausgelaufen war. Rhapsody überkam ein schrecklicher Ekel, und vor ihren Augen drehte sich plötzlich alles.

Diese Reaktion überraschte die beiden Wachen offenbar. Der Erste sah sie mit fragender Miene an. Im Rücken hörte Rhapsody den anderen unruhig auf der Stelle treten, und es schien, als bereitete er sich auf einen Angriff vor. Plötzlich vernahm sie das Sirren von Projektilen aus Achmeds Waffe, worauf die Wache hinter ihr zu Boden stürzte.

Spontan zog sie die Tagessternfanfare. Als das Langschwert aus der Scheide glitt, ertönte ein Schall wie aus einem melodischen Hörn. Die Klinge flammte auf und brannte heller, als sie es je gesehen hatte.

Merklich in Panik geraten, begann der andere Wachsoldat einen wüsten Angriff. Die Flammen des Schwertes loderten auf.

»Lass den Speer fallen!«, befahl sie, die Stimme voller Angst und Wut.

Der Mann warf sich ihr entgegen, doch sein Speer war alles andere als gut geführt. Rhapsody trat zur Seite, wie sie es von Grunthor gelernt hatte, und schlug ihm das Schwert vor die Brust, die nur wenig Widerstand bot.

Mit weit aufgerissenen Augen und aufgesperrtem Mund, dem nur mehr ein gurgelndes Röcheln entfuhr, knickte der Mann in den Knien ein.

Rhapsody packte ihn und bremste seinen Fall. Schmerz und Verwirrung verzerrten sein Gesicht, als er ihr wie aus einer anderen Welt entgegenstarrte und mit seiner Miene zu fragen schien: Was ist eigentlich passiert?

Über dieselbe Frage zerbrach sich Rhapsody den Kopf. Der Mann war schon erschlafft, als er mit schmauchender Wunde auf dem Boden auftraf. Erst jetzt wurde ihr das Zischeln bewusst, mit dem das von der Klinge getroffene Fleisch verbrannte. Entsetzt ließ sie die Waffe fallen, obwohl sich das Heft angenehm kühl in der Hand angefühlt hatte. Sie starrte auf die Leiche am Boden, und wieder drehte sich für sie alles im Kreis.

»Was ist los?«, flüsterte Achmed von hinten. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Als sie sich umdrehte, sah sie auch Grunthor an seiner Seite. Die beiden schauten sich im Garten um.

»Er ist tot«, antwortete Rhapsody mit wackliger Stimme.

»Ja, deine Schwerthiebe werden immer besser.«

»Ich habe noch nie jemanden getötet.«

»Jetzt hast du’s«, entgegnete Achmed. »Komm, wir haben noch was vor.«

Rhapsody stieß einen Schwall Luft aus und nickte. Lass dich nicht hängen, schärfte sie sich ein und richtete ihren Blick erneut auf die makabere Szene im Garten. Achmed bedeutete ihr, das Schwert vom Boden aufzuheben.

»Hast du sonst noch jemanden gesehen?«

»Nein, aber es werden angeblich Besucher erwartet«, antwortete sie. Sie berührte die kühle Stahlklinge, an der keine Spur von Blut zu erkennen war, und steckte sie erschaudernd in die steinerne Scheide zurück.

»Dem lässt sich ’n Riegel vorschieben«, sagte Grunthor. Er machte das Eingangstor zu und legte einen schweren Querbalken davor. »Tja, mein Guter, es dürfte wohl klar sein, wieso sich dein Blutgespür wieder gemeldet hat.«

»Lasst uns nachsehen, wer sonst noch hier ist«, schlug Achmed vor. Er wandte sich der Tür zur Rechten zu und forderte die Gefährten mit einer Handbewegung auf vorzugehen.

Rhapsody nahm rücklings auf der einen, Grunthor auf der anderen Seite Stellung. Auf ein Zeichen von Achmed hin rammte Grunthor die flache Hand gegen das Türblatt, das splitternd und krachend aus den Angeln fiel. Sie blickten in einen leeren Raum.

Es war ein lang gezogener Saal mit poliertem Mobiliar, das in sehr organisch anmutenden Formen getischlert war. Mitten auf dem Boden lag ein großer gewebter Teppich, der an einer Ecke durch einen dunklen Fleck verunstaltet war. Eine lange Fensterreihe öffnete den Blick in den Innenhof mit seiner rosa verfärbten, schmelzenden Schneedecke.

Achmed trat an den Rand des Teppichs, bückte sich und berührte den Fleck mit der Hand. Es war zweifelsfrei Blut, das sich da über den Teppich ergossen hatte, und zwar vor langer Zeit, vor Jahren vielleicht, denn es war längst ausgetrocknet. Hier schien jemand niedergestochen worden und verblutet zu sein.

Grunthor stand noch bei der Tür. Er hätte gern sein Stangenbeil in der Hand gehalten, doch weil für dessen Gebrauch in geschlossenen Räumen zu wenig Platz blieb, nahm er mit dem Langdolch Vorlieb. Obwohl ihn so schnell nichts aus der Fassung bringen konnte, spürte er angesichts der ekelhaften Szene vor den Fenstern, wie sich ihm der Magen zuschnürte.

Rhapsody schlich bis zur nächsten Tür und lauschte. Wenig später schüttelte sie den Kopf.

»Nichts. Und nun?«

»Weiter«, drängte Achmed. Sie nahmen die gleiche Stellung auf wie zuvor und wiederholten die Prozedur.

Die Tür führte in einen großen Saal, der sich bis zur Turmmauer erstreckte. An der einen Längs wand waren eine Reihe großer Fenster eingelassen, die wiederum in den Hof hinausblickten. Die Wand gegenüber hing voller Wandteppiche, die ausgeblichen und mit Dreck beschmiert waren.

Die ferne Stirnwand war Teil des Turms, der früher einmal als Teil der Verteidigungsanlage ausgebaut gewesen sein mochte, jetzt aber über einen offenen Torbogen frei zugänglich war.

Vor der mit Gobelins geschmückten Wand stand ein aus Knochen zusammengesetzter Thron.

Oberschenkelknochen, Rippen, Wirbel waren zu einem schaurig aussehenden Stuhl verdrahtet und verschraubt worden. Die hohe Lehne krönte eine Reihe aus sieben Schädeln. Auf dem Sitz lag ein weiches rotes Samtkissen.

In der Mitte des Saales kauerten, hockten und lagen etliche Kinder, die mit schreckerfülltem Blick den drei Eindringlingen entgegenstarrten. Im spärlichen Licht funkelten ihre Augen wie die einer Meute ausgehungerter, geprügelter Wölfe.

Sie waren halb Mensch, halb Lirin, unterschiedlichen Alters, in Lumpen gekleidet und mittels eiserner Handschellen aneinander gekettet.

Die Gesichter und Körper waren übel zugerichtet und voller Blutergüsse und Wunden. Sie zitterten in der kalten Winterluft, die durch die geöffneten Türen drang und die langen Vorhänge aufbauschen ließ. Keines der Kinder gab einen Laut von sich. Ihre Blicke huschten zwischen Rhapsody und den beiden Männern hin und her. Die Kinder von Navarne.

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