Die Sanitäter trugen immer noch einen Verwundeten nach dem anderen herbei, als Rhapsody mit ihrem Medizinbeutel eintraf, noch im Nachthemd und mit offenem Haar, das ihr ungebändigt über die Schultern fiel. Sie lief auf Grunthor zu, der gerade einen seiner Soldaten auf ein Feldbett legte.
»Was ist passiert, Grunthor? Hast du was abgekriegt?«
Der Riese nahm dem Verletzten den ledernen Brustharnisch ab, unter dem eine schreckliche Wunde zum Vorschein kam, die sich vom Hals bis zur Taille erstreckte.
»Mir geht’s gut, Herzchen, aber unsern Freund Warz hier hat’s böse erwischt«, antwortete der Sergeant mit sorgenvoller Stimme.
Rhapsody öffnete ihren Beutel. Was es hier für sie zu tun galt, war ihr schon fast zur Routine geworden, doch so viele Patienten auf einmal hatte sie noch nie versorgen müssen. Da schien etwas Schreckliches vorgefallen zu sein.
»Saubere Kompressen und Pipsissewa, bitte«, sagte sie zu Krinsel, der Hebamme, die ihr zu Hilfe eilte.
Grunthor erschrak, als er hörte, dass sie nach dem Kraut verlangte. Er wusste, dass man es Sterbenden gab, um deren Schmerzen zu lindern.
»Ist er nich mehr zu retten, Gräfin?«
»Ich fürchte nein, Grunthor. Sogar das Herz ist verletzt.« Sie nahm die von der Amme gebrachten Tücher und versuchte, die Blutung zu stillen. »Aber wir werden dafür sorgen, dass er sich nicht quälen muss.«
»Hoheit?«, flüsterte der Bolg-Leutnant.
Rhapsody blickte ihn mit freundlicher Miene an. »Ja?«
»Das ham Feuerauge und sein Klan angerichtet.«
Sie verstand nicht, was er damit sagen wollte. »Ruh dich aus«, sagte sie leise.
Der sterbende Soldat zwinkerte mit den Augen und suchte ihren Blick. »Feuerauge ... Bolg ... nennen ihn so, aber ... sein Name ist... Saltar.«
Sie ließ sich von der Amme das Kraut geben. »Ich werde es dem König melden.«
»Hoheit?«
Sie verabreichte ihm das Kraut. »Ja?«, fragte sie sanft und sah, wie es mit ihm zu Ende ging.
»Wie ... der Sonnenaufgang ... seid Ihr.« Die Augen des Leutnants brachen.
Rhapsody schluckte. Sie beugte sich herab, drückte einen Kuss auf die verschwitzte Stirn und spürte, wie sich die Falten glätteten. Die Lippen dicht an seinem Ohr, sang sie den Anfang des lirinschen Geleitliedes, das nach alter Tradition während der Einäscherung gesungen wurde, um den Toten zu helfen, sich von der Erde zu lösen und ins Licht aufzusteigen.
Der Lärm und die Schreie wurden immer lauter und machten es ihr unmöglich, den Gesang fortzusetzen. Soldaten und Sanitäter trugen mehr und mehr Verwundete herbei. Es war eine schaurige Parade der Toten und Sterbenden, und sie schien kein Ende nehmen zu wollen.
»Gütiger Himmel«, raunte Rhapsody. Das Blut Dutzender Soldaten ergoss sich über den Boden, und in der Luft hing der Gestank verbrannten Fleisches. Sie sprang auf und hastete mitten ins Gewimmel. Achmed stand in der Vorhalle und half, dem Ansturm des Grauens Herr zu werden. Den Verletzten, die sich noch auf den Beinen halten konnten, wies er den Weg zu den behandelnden Sanitätern. Die auf Tragen gebracht wurden, untersuchte er flüchtig, und ließ diejenigen, die ihren Verletzungen schon erlegen waren, aus der Krankenstation herausschaffen. Von der Schlacht selbst hatte Achmed nichts mitbekommen; umso finsterer war sein Gesichtsausdruck.
Rhapsody nahm einem Soldaten, der selbst verletzt war und am ganzen Körper zitterte, einen Kameraden aus dem Arm, den sie ein paar Schritte weiter aus dem Gedränge schleppte und auf einer freien Stelle am Boden ablegte. Grunthor kümmerte sich um den anderen.
»Was ist passiert?«, fragte sie wieder, während sie die Rüstung des Verwundeten öffnete.
»Wir ham ein ganz friedliches Manöver durchgeführt«, antwortete der Riese und schnürte seinem Patienten einen Wickel um den Oberschenkel, um das Blut zu stauen.
»Das sieht man.«
»Ich mach keine Witze, Gräfin«, blaffte der Sergeant. »Normale Routine: Rekruten ausheben und sehn, was sonst noch zu holen ist. Sind ziemlich weit ins Verborgene Reich vorgedrungen. Warz und Ringram hatten das Vorauskommando. Sei bloß froh, dass du keinen von denen zu sehen brauchst, die wir nicht mehr ham bergen können.«
Rhapsody schüttelte sich und wickelte den provisorisch angelegten Verband ab.
»Räpsdii?«
Sie blickte auf und sah Krinsel zitternd vor sich stehen. Rhapsody kannte die Amme als eine eher hartgesottene, unerschütterliche Person, der nie auch nur die geringste Regung vom Gesicht abzulesen war. Jetzt aber rang sie merklich um Fassung.
»Krinsel?«, fragte sie und sprang auf, um sie zu stützen.
»Komm mit.«
Rhapsody und Grunthor folgten ihr durch das Chaos aus Schlachtopfern und stiegen vorsichtig über Schwerverletzte und Tote hinweg.
Krinsel führte sie in einen entlegenen Winkel der Krankenstation. Der Gestank von versengtem Fleisch war unerträglich. Rhapsody hielt sich die Hand vors Gesicht in der vergeblichen Absicht, die Luft zu filtern.
Jedes Opfer, das man hierher geschafft hatte, war von Schwertwunden grausam entstellt. Rhapsody traute ihren Augen kaum, so unglaublich schien die Szene, die sich ihr bot.
»Achmed!«, rief sie und suchte nach Lebenszeichen unter denen, die da lagen. Wie sich herausstellte, war nur noch einer am Leben und hielt verzweifelt am Bewusstsein fest.
Wenig später war der König an ihrer Seite. Er sah mit an, wie Grunthor die Gefallenen herumdrehte und deren Verletzungen untersuchte.
»Sieh dir das an«, sagte Rhapsody und zeigte auf den letzten Überlebenden, auf dessen Rücken eine schauderhafte Wunde klaffte. Vorsichtig betupfte sie das rohe Fleisch mit einer Lösung aus Thymianextrakt und destilliertem Wasser. Die Ränder der tiefen, breiten Wunde waren blutleer und wie verödet, wie von einem scharfen Brandeisen zugefügt. Das Gewebe schmorte noch.
Achmed ging neben ihr in die Hocke. »Was hältst du davon?«
»Ich weiß nicht, aber solche Wunden schlägt die Tagessternfanfare«, antwortete sie und zog schnell die Hand zurück, als der Verwundete vor Schmerzen aufstöhnte.
»Nur deutlich tiefer und breiter«, erwiderte Achmed.
»Für mich sieht’s aus, als war da ’ne Klaue Reingefahren«, sagte Grunthor.
Rhapsody warf einen Blick auf Krinsel, die mit kreidebleichem Gesicht dastand und in Ohnmacht zu fallen drohte.
»Was meinst du, Krinsel? Hast du eine Ahnung, was solche Wunden geschlagen haben könnte?«
Die Bolg-Frau nickte; sie hielt die Arme krampfhaft um den Leib geschlungen.
»War der Geist. Feuerauges Geist.«
Rhapsody blieb auf der Krankenstation bis zum Abend des folgenden Tages, als alle Verwundeten versorgt und die Toten in die Krypta nahe der großen Esse gebracht worden waren. Die fir-bolgschen Sanitäter und Ammen kümmerten sich um die Patienten, wie es die Filiden in Khaddyrs Hospital nicht besser gekonnt hätten.
Sie hatte Jo bei Grunthor zurückgelassen, der darauf bestand, bei den verletzten Männern zu bleiben. Er sprach kaum ein Wort und hatte einen Ausdruck in den Augen, den er immer dann annahm, wenn er von seinen Truppen aus der alten Welt erzählte; jetzt aber schien dieser Ausdruck noch intensiver zu sein. Rhapsody hatte ihn zu trösten versucht – vergebens. Der Riese war nur noch verschlossener geworden. Er hatte sich darauf versteift, Wache zu halten, und war davon nicht abzubringen gewesen. Und so hatte sie ihn allein gelassen und Jo gebeten, ihn im Auge zu behalten.
Obwohl sie nichts sehnlicher wünschte als ein ausgiebiges Seifenbad in Anwyns Wanne, zog sie den Gürtel ihres blutdurchtränkten Kittels enger und steuerte auf den Stollen zu, der hinaus auf die Verdorrte Heide führte.
Die Nacht brach herein. Dunkelheit breitete sich über dem bleichen, mit rötlichen Flecken verschmierten Himmel aus. Die Wolken wirbelten gleich einer Spirale dem Horizont entgegen, wie ein Sinnbild für ihre aus den Fugen geratene Welt. Nur halbherzig sang sie ihren Nachtgesang, fand keinen Trost darin und hoffte, die Angst, die sie verspürte, in Schach zu halten. Die Bolg hatten Schreckliches erleiden müssen.
Achmed saß genau da, wo sie ihn vorzufinden erwartet hatte: vorm Stollenausgang, von wo aus man die Schlucht und die Heide dahinter überblicken konnte. Von dieser Stelle aus war er seinen Untertanen zum ersten Mal gegenübergetreten, um seine Herrschaft zu proklamieren. Er hockte auf der Felskante und ließ die Beine über dem mehr als hundert Klafter tiefen Abgrund baumeln. Sein Blick war starr auf den Horizont jenseits der Heide gerichtet.
Rhapsody nahm an seiner Seite Platz, und gemeinsam schauten sie zur Sonne hin, die schnell hinterm Rand der Welt wegtauchte, als schämte sie sich, über ihre Zeit hinaus noch am Himmel zu sein. Mit ihrem Verschwinden kam ein kühler Wind auf, der heulend durch die Schlucht fuhr und Rhapsodys Haare wehen ließ.
Als sich die Schatten vollständig über das Reich der Firbolg gesenkt hatten, gab Achmed endlich einen Laut von sich und sagte: »Danke, dass du es dir verkniffen hast, die Stille mit wohlmeinenden Worten aufzufüllen.« Rhapsody schmunzelte und blieb stumm. Der Kriegsherr gab einen tiefen, schmerzlichen Seufzer von sich. »Hat Grunthor schon etwas erzählt?«
»Nein, noch nicht.«
Achmed nickte versonnen; in Gedanken war er auf der anderen Seite der Zeit. »Er hat Ähnliches schon einmal durchgemacht, vielleicht Schlimmeres. Er wird’s überstehen.«
»Daran zweifle ich nicht.« Sie musterte sein Gesicht, in dem tiefe Sorge und Kummer standen. Vielleicht sogar Furcht, doch davon ließ er sich nichts anmerken. »Einer seiner Leutnants hat mir, kurz bevor er starb, etwas mitgeteilt.« Achmed wandte sich ihr zu. »Was?«
Sie strich eine Locke zurück, die ihr der Wind vor die Augen geblasen hatte. »Er nannte Feuerauges Namen, den richtigen, glaube ich.« Achmed kniff die Brauen zusammen, sagte aber nichts. Sie hüstelte nervös. »Er sagte, sein Name sei Saltar.« »Ja, ich weiß.«
»Sagt dir der Name etwas? Kannst du ihn mit irgendeinem anderen Namen in Verbindung bringen?«
»Ja. Mit Tsoltan.«
Rhapsody atmete hörbar aus. Die nervöse Anspannung legte sich. »Es kann wohl kaum überraschen, dass du Bescheid wusstest.«
»Ich wusste nicht Bescheid, habe aber damit gerechnet. Auf diesen Tag habe ich gewartet, seit wir der Wurzel entstiegen sind.« In der Ferne sah er den Wind durch die Sträucher der Heide fahren. »Über die Ironie des Universums staune ich immer wieder aufs Neue«, sagte er wie im Selbstgespräch, und seine Stimme war ohne jede Spur von Sarkasmus. Er nahm einen Stein vom Boden auf und befingerte ihn, in Gedanken versunken. »Was soll das heißen?«, fragte Rhapsody leise. Wieder richtete Achmed den Blick in die Ferne, als versuchte er, in die Vergangenheit zu schauen.
»Zeit meines Erwachsenenlebens war ich ein Kämpfer und als solcher sehr gut. Man hat mich erzogen mit dem Ziel, den brutalen Feldzügen und dem Völkermord der F’dor Einhalt zu gebieten. Das hat mich ähnlich brutal gemacht.
Zur Geburt bekam ich ein Geschenk, nämlich eine Blutsbande, die mich mit allen anderen Menschenwesen verbrüderte. Ich habe dieses Geschenk im Namen des Todes genutzt, das heißt, ich zog allein in unserem Land umher, spürte die Herzschläge anderer auf, stellte ihnen nach und ließ Blut vergießen, anstatt mich mit anderen zu verbinden. Ich war ebenso wenig aufzuhalten wie der Lauf der Zeit, Rhapsody. Wer mir entrinnen wollte, fand Zuflucht nur auf dem Meer.
Und jetzt bin ich hier, auf der anderen Seite der Zeit. Ich habe alles zurückgelassen, sogar die natürlichen Waffen, die ich hatte, und versucht, dem einen Verfolger zu entkommen, gegen den ich nie eine Chance hatte, nämlich mir selbst. So wie ich nie einen Kampf verloren habe, verliert auch der F’dor nie. Falls er tatsächlich einmal unterliegen sollte, ergreift er von dem Sieger Besitz und macht ihn zu seinem neuen Wirt. Er gewinnt also immer. Es ist besser, man stirbt durch seine Hand, als dass man ihn in der eigenen Gestalt leben lässt. Ich für mein Teil bin mir nicht sicher, ob ich nicht so oder so an ihn gebunden bin. Ich hätte wissen müssen, dass diese Welt nicht groß genug ist, um als Versteck vor ihm dienen zu können – vor mir selbst. Die Lawine ist ausgelöst und in Bewegung. Ich werde sie nicht aufhalten können.«
Rhapsody sagte nichts und legte ihre Hand in seine. Achmed starrte darauf.
»Und dann bist du gekommen, Rhapsody. Mit dir hat sich alles verändert. Du hast mir eingeredet, dass der F’dor keine Macht mehr über mich hätte, dass ich ihm entwischt wäre. Wie dumm von mir, auch nur einen Moment daran geglaubt zu haben, wo ich doch selbst der Vollstrecker des Unausweichlichen bin. Es war nur eine Frage der Zeit, dass er mich wieder finden würde.« Er warf den Stein, den er in der Hand hielt, in den Abgrund.
»Das ist noch nicht sicher«, entgegnete Rhapsody leise. »Vielleicht hast du ihn zurückgeschlagen. Vielleicht bist du ja immer noch sein Widersacher, dazu bestimmt, ihn zu stellen und zu töten. Vielleicht wird er tatsächlich dein letztes Opfer sein. Aber in einer Hinsicht hast du Recht: Du kannst jetzt nicht mehr weglaufen. Früher oder später wird er dich finden. Pass nur auf, dass du ihm nicht den Rücken zukehrst.«
»So kann nur jemand reden, der keine Ahnung davon hat, was ich für Folgen tragen muss«, knurrte er und zog seine Hand zurück.
»Wie dem auch sei, was mir droht, weiß ich. Ich könnte meine Angehörigen verlieren, die mir in dieser Welt noch geblieben sind, im Besonderen meinen problematischen Bruder, die Kehrseite meiner Münze.« Sie sah, wie sich seine Miene noch weiter verfinsterte. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich davor Angst habe. Aber was auch immer geschehen mag, ich werde wie Grunthor zu dir stehen. Dafür sind Familien schließlich da.« Sie lächelte, und Achmed spürte, wie ihm trotz aller Bemühungen um eine verdrossene Miene das Herz aufging.
»Hast du gehört, was die Bolg über Feuerauges Geist munkeln?«, fragte sie.
»Ja.«
»Weißt du, was das zu bedeuten hat? Könnte es sein, dass Tsoltans Dämonengeist vom Untergang Serendairs verschont geblieben und mit einem der Flüchtlinge hierher gekommen ist? Wäre es möglich, dass sie davon erfahren haben?«
Achmed schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Allerdings müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass hier andere Regeln herrschen und wir nicht mehr voraussetzen können, was uns in der alten Welt noch selbstverständlich gewesen ist. Normalerweise sind F’dor, wenn sie die Gestalt eines Menschen angenommen haben, nicht zu erkennen; allerdings kann man manchmal einen Hauch ihres üblen Geruchs wahrnehmen. Das kommt aber nur in den seltensten Fällen vor. Darum sind sie so verflucht gefährlich.«
»Wer oder was könnte dieser Geist denn deiner Meinung nach sein?«
Achmed stand auf und klopfte den Staub aus den Kleidern. »Keine Ahnung. Aber was es auch ist, es setzt dunkles Feuer wie eine Waffe ein. Daher rühren offenbar die Brandwunden. Die Bolg halten den Geist für einen Ausfluss von Saltars Magie, mit dem er sich zu wappnen und unverletzbar zu machen versucht, um immer die Oberhand behalten zu können.«
»Können wir dagegen vorgehen? Kämpfen wir gegen einen besessenen Mann?«
»Ich weiß nicht.« Er reichte Rhapsody die Hand und half ihr auf. »Wir dürfen kein Risiko eingehen. Darum werde ich Feuerauge persönlich aufsuchen müssen. Es gibt einen uralten dhrakischen Zauber, die Zauberacht; sie ist dazu angetan, Dämonengeister in Schach zu halten und sie daran zu hindern, ihren menschlichen Wirt zu verlassen, was zur Folge hat, dass beide sterben, Mensch und Dämon. So könnten wir also auch den F’dor unschädlich machen, wenn er sich denn tatsächlich im Körper von Feuerauge aufhält. Das einzig Komplizierte ist, ihn erst dann zu töten, wenn der Zauber wirkt. Sollte Feuerauge aber am Ende doch nicht der Wirt des F’dor sein, wird alle Anstrengung umsonst gewesen sein.«
»Wirst du ihn denn überhaupt zu fassen kriegen?«
Achmed lehnte sich an die Stollenwand und schloss die Augen. Er konzentrierte seinen Spürsinn auf die tiefe Schlucht und das weite Heideland dahinter. Sein zweites Gesicht flog an den Felswänden von Kraldurge entlang, über die Felder, die für die Frühjahrssaat gepflügt worden waren.
Er kannte den Weg. Er hatte ihn während seines gemeinsam mit Grunthor unternommenen Eroberungszuges häufig genug eingeschlagen. All diese Länder waren nun in seinem Besitz, unter seiner Herrschaft und Kontrolle.
Sein Blick kreuzte die in einer Flussniederung gelegenen alten Weingärten, mit großem Fleiß von jenen Bolg gepflegt, die Rhapsody zu Weinbauern ausgebildet hatte. Er flog über die Wälder und Lichtungen der Hügellandschaft, die früher einmal das Reich der Nain und Gwadd gewesen waren, jener cymrischen Volksgruppen, die es vorgezogen hatten, unter der Erdoberfläche zu leben, und durchstreifte die tiefen Wälder, worin sich früher die Gwylliam-treuen Lirin niedergelassen hatten. Bald erreichte sein zweites Gesicht das Verborgene Reich hinter den Überresten ehemaliger Cymrer-Dörfer und Vorposten, die nur noch ein Schatten ihrer selbst waren. Das Land war fruchtbar und ungestört; seine Bevölkerung hauste in labyrinthischen Höhlensystemen, die sich tief unten im Fels der weiten Berge erstreckten.
Und weiter ging es im Flug über hohe Gebirgspässe hinweg und durch verschlungene Stollen. Schließlich war eine riesige Grotte erreicht, wo sein Blick jählings vor einer Bolggestalt innehielt, die schlafend auf einem breiten Felsbett lag. Der Schamane schlug die Lider auf und starrte ihm aus blutunterlaufenen Augen entgegen. Dann löste sich das Bild auf; die Vision riss ab.
Achmed atmete tief durch und schmunzelte unwillkürlich, als er Rhapsody ansah, die ihre grünen Augen auf ihn gerichtet hatte und vor Ungeduld zu platzen schien.
»Ich weiß jetzt, wo er sich aufhält«, sagte er. »Und das weiß er nun auch von mir.«