Ein voller Mond zeichnete mit seinem Licht sonderbare weiße Schatten auf den schmelzenden Schnee. Es ging ein starker Wind, der Rhapsodys Umhang wie eine Fahne im Rücken flattern ließ, als sie auf dem Fuchs über den Forstweg in die Dunkelheit hinausritt.
An der Stelle in der Nähe von Tref-Y-Gwartheg angelangt, wo sie sich von ihren Firbolg-Freunden getrennt hatte, stieg sie von Pferd, band es am Stamm einer kahlen Platane fest und hängte ihm einen Sack Hafer ums Maul. Dann stapfte sie durch den aufgeweichten Waldboden auf die Lichtung zu, wo sie sich, wie verabredet, mit Achmed und Grunthor treffen wollte.
Den Treffpunkt wieder zu finden fiel ihr überhaupt nicht schwer, denn zum einen hatte sie diese Gegend an der Seite Gavins ein ums andere Mal durchstreift und dabei stets die von Achmed hinterlassene Markierung entdecken können. Zum anderen waren schon von weitem zwei unverkennbare Silhouetten auszumachen, zwei in ihren Ausmaßen sehr unterschiedliche Gestalten, die auf sie warteten.
Wie sehr sie ihre Gefährten vermisst hatte, spürte sie erst jetzt, da sie die beiden wieder sah. Im Hinblick auf Grunthor überraschte sie diese Empfindung weniger. Dass ihre Gefühle Achmed gegenüber ebenso herzlich waren, verblüffte sie umso mehr. Unterwegs auf der Wurzel hatte sie ihn noch verabscheut und für die Schrecken, die ihr zugemutet wurden, verantwortlich gemacht. Und auch nach der langen Reise war die Stimmung zwischen ihnen nur langsam und allmählich besser geworden.
Als sie jetzt aber seinen Schatten unter dem vom Mondlicht durchdrungenen Dach des Waldes erspähte, wurde ihr bewusst, dass er ihr sehr viel mehr bedeutete, als sie es vordem für möglich gehalten hätte. Vielleicht war die Erklärung dafür ganz einfach, und sie hatte sich mit der Zeit an ihn gewöhnt. Vielleicht lag es daran, dass er neben Grunthor der Einzige war, der sie noch aus ihrem früheren Leben kannte.
Sie warf sich in Grunthors ausgestreckte Arme und versuchte den scheußlichen Geruch zu ignorieren, der ihm noch von der Wurzel anhaftete. Im Unterschied zu ihr hatten die beiden Firbolg während der vergangenen zwei Monate wohl keine Gelegenheit gefunden, sich gründlich zu waschen. Es grenzte an ein Wunder, dass sie die ganze Zeit über unentdeckt geblieben waren. Allein der Gestank, den sie verbreiteten, hätte sie verraten müssen.
»Hab mir Sorgen gemacht, Gräfin«, sagte der Sergeant mit einem Knacks in der Stimme. »Umsonst, wie ich sehe: Dein Anblick ist Balsam für trübe Augen.«
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, dich wieder zu sehen«, sagte sie und schmiegte sich an ihn. Als er sie wieder auf dem Boden absetzte, wandte sie sich Achmed zu und öffnete auch für ihn die Arme. Es schien ihr, als huschte ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht. Er nahm sie kurz in den Arm und führte sie dann in ein Dickicht, das ihnen Schutz vor dem Wind gewährte.
Dort nahmen sie auf einem umgefallenen Baumstamm Platz und rückten nahe zusammen.
»Bist du anständig behandelt worden? Oder hat man dich womöglich belästigt?«, fragte Achmed und tippte die behandschuhten Fingerspitzen aneinander.
»Nein, ganz und gar nicht. Und habt ihr was herausfinden können?«
»Etliches. Was dich besonders interessieren dürfte: Wir haben uns im Süden umgesehen, in einem Fürstentum namens Avonderre, und den Haupthandelsweg zum Seehafen ausfindig gemacht. Dort wird bestimmt auch ein Schiff ablegen, das dich nach Hause zurückbringt.«
Rhapsody senkte den Blick und musste an sich halten, um nicht in Tränen auszubrechen. »Das hat keinen Sinn mehr«, antwortete sie mit tonloser Stimme.
»Was? Wieso nicht?«, fragte Achmed irritiert.
»Weil es dieses Zuhause seit vierzehn Jahrhunderten nicht mehr gibt.«
Als sich Rhapsody wieder gefasst hatte, fragten sie die beiden Firbolg darüber aus, was sie während ihres Aufenthaltes bei Llauron erfahren hatte, insbesondere über Serendair.
Sie berichtete alles, woran sie sich erinnerte, wiederholte manches auch, erzählte die Geschichte von Gwylliam wieder, dem letzten Seren-König, der den Untergang der Insel vorhergesehen hatte. Sie schilderte die Ankunft der Cymrer, ihre Eingliederung in die Kultur dieses Landes und wie das stolze Reich, das sie gegründet hatten, vor hunderten von Jahren durch einen großen Krieg verwüstet worden war.
Achmed stellte viele Fragen, auf die sie keine Antwort wusste. Zum Beispiel konnte sie nicht sagen, auf welche Weise und wie lange nach ihrem Weggang das Unglück über die Insel hereingebrochen war.
»Danach zu fragen erschien mir unpassend«, sagte sie ein wenig gereizt und müde geworden vom vielen Erzählen. »Was hätte ich sagen sollen ... ›He, Llauron, von Gwylliam habe ich noch nie was gehört; er muss nach Trinian an die Macht gekommen sein, dem Kronprinzen aus meiner Zeit. Wie viele Jahre später hat dieser Gwylliam eigentlich gelebt?<«
Unter Achmeds zerrissener Kapuze zeigte sich ein amüsiertes Lächeln. »Geschenkt. Ich hätte nur gern gewusst, wie es nach uns auf der Insel weitergegangen ist, ob von dem, was geplant war, noch irgendetwas umgesetzt werden konnte.«
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal, ob Gwylliam der Linie von Trinian entstammte und ob Trinian den Thron überhaupt bestiegen hat. Wenn ich es richtig verstanden habe, so hat sich Gwylliam oder einer seiner Vorgänger die Krone widerrechtlich angeeignet.«
»Das wäre durchaus wahrscheinlich.«
»Was kümmert mich das noch!«, herrschte sie ihn so wütend an, dass Grunthor ihr vorsichtshalber seine Hand auf den Mund legte.
Sie senkte die Stimme, in der aber unverkennbar zornige Erregung mitschwang. »Begreifst du denn nicht? Es macht keinen Unterschied mehr. Alles, was mir am Herzen gelegen hat, ist verloren gegangen, und das schon vor vielen hundert Jahren. Was kümmert es mich noch, welcher König welcher Linie abstammte? Ob eure Feinde noch ein oder zehn Jahre gelebt haben? Sie sind auf alle Fälle tot. Also freut euch! Ihr seid frei! Aber erwartetet nicht, dass ich mit euch feiere.«
Achmed und Grunthor tauschten fragende Blicke. »Ich hoffe, du hast Recht, Herzchen«, sagte Grunthor schließlich.
»Zweifelst du noch daran? Hast du denn nicht gehört, was ich gesagt habe? Vierzehnhundert Jahre.«
»Das besagt noch nicht alles, Rhapsody«, entgegnete Achmed. »Es gibt so manches Unheil, das jede Zeitspanne überdauert.«
»Na schön, Achmed. Du wirst Gelegenheit haben, dem Fürbitter deine Fragen persönlich zu stellen. Er will euch beide kennen lernen.«
Achmed schreckte auf. »Was?«
Rhapsody erstarrte unter seinem eisigen Blick. »Er weiß, dass ihr hier seid; er hat es mir gestern Abend gesagt. Ich habe euch nicht verraten, das schwöre ich. Er ist das Oberhaupt der Filiden, einer religiösen Gemeinschaft. Wir befinden uns hier auf ihrem Land. Er konnte euch offenbar in der Nähe spüren. Wie auch immer, er will euch treffen und ist sogar bereit, zu euch zu kommen, wenn euch das lieber ist.«
Grunthor legte die Stirn in Falten, und Achmed schlug die Hände vors Gesicht. »Gütiger Himmel. Aber es war wohl nicht anders zu erwarten. Wir sind hier in einer sehr seltsamen Gegend gelandet. Wo wir auch gewesen sind, überall spielten sich vollkommen absurde Dinge ab.«
»Inwiefern?«
»Es kommt ständig zu Grenzkonflikten, Überfällen und Plünderungen, und obwohl jeder darauf vorbereitet sein müsste, scheint sich niemand wirklich dagegen zu wehren. Zuerst dachten wir, dass dieses Land hier im Krieg mit den Ländern im Süden liegt, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Die Raubzüge und Plünderungen, die Gewalttaten und Verwüstungen lassen sich so nicht erklären. Die Angreifer kommen mal aus dieser, mal aus jener Richtung und haben offenbar nichts anderes als Terror und Zerstörung im Sinn. Einmal haben wir beobachtet, wie auf einem Marktplatz ein Berg aus kostbaren Gegenständen aufgehäuft und dann in Brand gesteckt wurde; dabei hätte sich das Zeugs gut als Beute wegschleppen und verkaufen lassen. Ein anderes Mal sind wir einer solchen Bande von Angreifern gefolgt, nachdem sie eine Stadt in Avonderre in Schutt und Asche gelegt hatten. Wie sich herausstellte, wohnten sie am Rand der Stadt in Kasernen, wo sie als Wachsoldaten eben dieser Stadt stationiert waren. Man hätte die ganze Sache vielleicht als Verrat abtun können, aber nur ein paar Tage später kam es zu einem neuerlichen Überfall, diesmal aber von einer anderen Bande, und dieselben Wachsoldaten setzten jetzt ihr Leben für die Verteidigung der Stadt ein, die sie kurz zuvor noch geplündert hatten. In dieser Gegend gehen üble, diabolische Dinge vor sich. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann zwischen den Ländern der Lirin im Süden und den Grafschaften von Roland ein Krieg ausbricht.«
Rhapsody seufzte. »Na, wunderbar. Ist es zu spät, zurückzugehen und an der Wurzel zu leben?«
Grunthor kicherte. »Tut mir Leid, Euer Liebden, das Gasthaus hat geschlossen.«
»Vielleicht kann ja der Priester beantworten, was wir nicht verstehen«, dachte Achmed laut nach. Dann verzog er das Gesicht und fügte hinzu: »Ich kann dieses Pack zwar nicht riechen, aber zur Not werde ich mir, so lange wir miteinander reden, die Nase zuhalten.«
Rhapsody lachte. »Nichts für ungut, Bruder, aber ich glaube, es wird Llauron sein, der allen Grund hat, sich die Nase zuzuhalten.«
Obwohl Grunthor weiten Abstand hielt, spürte Rhapsody, wie nervös ihr Fuchs auf ihn reagierte und die Flanken unter ihren Schenkeln zitterten.
»Ich werde morgen früh zurück sein«, sagte sie und tätschelte den Hals des Pferdes, um es zu beruhigen. »Ich werde Llauron nur kurz Bescheid geben und dann sofort umkehren, um mit euch hier auf ihn zu warten.« Sie nahm die Zügel zur Hand.
»Augenblick«, sagte Achmed. Er langte in die Tasche seines Umhangs und zog das Wachstuch daraus hervor, in das er die Schrift kopiert hatte. »Kannst du das lesen?«
Rhapsody nahm das Tuch entgegen und hielt es ins spärliche Mondlicht. Achmed half nach, indem er einen Docht aus seiner Zunderdose zum Brennen brachte.
Sie kniff die Brauen zusammen. »Was soll das sein?«
»Das habe ich abgepaust von einer Tafel, die an dem Tempelschiff hängt, von dem wir dir erzählt haben.«
»Hmmm. Ich weiß nicht so recht. Aus den oberen Zeichen lese ich Kirsdirke heraus ... nein, Kirsdarke. Aus dem, was darunter steht, werde ich nicht schlau. Es geht wohl darum, dass die Kirsdarke dem Meer und der Hand des Allgottes übergeben wird, der hier, wenn ich mich nicht irre, ›Schöpfer‹ genannt wird. Und dann ist da noch vom Altarstein im Tempel des Allgottes die Rede.«
»Das Schild hing an einem großen Obsidianblock.«
»Vielleicht ist das der Altarstein. Hier, an der Stelle, wird Serendair erwähnt, wenn ich die Zeichen richtig deute, aber es könnte noch ein anderer Name sein. Und dann steht da noch, dass die Kirsdarke von jemandem geschaffen wurde, der Magint – oder so ähnlich – Monodier heißt.«
»MacQuieth vielleicht? MacQuieth Monodier?«
Rhapsody nickte. »Kann sein. Hast du etwa MacQuieth, den Helden aus unserer Heimat, im Sinn?«
»Ja. Wir dachten, hier womöglich in Monodier zu sein, aber ich fürchte, wir sind von Serendair noch sehr viel weiter entfernt.«
»So ist es«, bestätigte Rhapsody. »Monodier gehörte zur bekannten Welt von damals; der Kontinent, auf dem wir uns jetzt befinden, war unseren Kartografen damals noch so gut wie unbekannt. Wir dachten, er sei unbewohnt...« Ihr versagte die Stimme.
»Ich kann mir vorstellen, wie schwer es dir gefallen sein muss, den Gedanken zuzulassen, dass es uns so weit aus der Zeit verschlagen hat«, sagte Achmed in ungewöhnlich sanftem Tonfall. »Aber wir werden darüber hinwegkommen.«
Rhapsody versuchte zu lächeln, was ihr aber nicht sonderlich gut gelang. »Du vielleicht«, antwortete sie. »Bis später.« Sie schnalzte dem Pferd zu und ritt in die Nacht hinaus.
In der übernächsten Nacht kam Llauron ins Lager der Firbolg. Um das Lagerfeuer herum hatte Rhapsody für Sitzgelegenheiten gesorgt, in der Hoffnung, der Unterhaltung, die erwartungsgemäß schwierig zu werden versprach, zumindest einen halbwegs bequemen Rahmen zu geben. Achmed hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass von ihm nur mehr die Augen zu sehen waren. Grunthor gab sich dagegen ganz leger und hatte den Helm vom Kopf genommen, zumal er ohnehin davon ausgehen konnte, dass er, und wenn er sich noch so sehr verkleidete, immer auf Anhieb zu erkennen sein würde.
Der Fürbitter trug wie gewöhnlich das schlichte graue Gewand seines Ordens, das in der Mitte mit einem einfachen Hanfseil gegürtet war. Erst als er ausdrücklich dazu eingeladen wurde, näherte er sich dem Feuer und nahm im Kreis der anderen Platz. Dann öffnete er den Sack, den er mitgebracht hatte, und packte aus: Früchte, Brot und Käse sowie eine Flasche Branntwein. Sogar an silberne Schwenker hatte er gedacht.
»Ich freue mich, euch endlich kennen zu lernen«, sagte er und schenkte den beiden Firbolg großzügig ein. »Freunde meiner Freundin Rhapsody sind in diesen Wäldern und in meinem Haus jederzeit herzlich willkommen. Wenn wir uns erst einmal persönlich ein wenig näher gekommen sind, werdet ihr mir vielleicht den Gefallen tun und eine Weile meine Gäste sein. Ich wohne nicht besonders luxuriös, aber die Betten in meinem Haus sind bequem und das Essen ist schmackhaft und gut. Darüber hinaus werdet ihr euch bei mir auch neu einkleiden können.« Funken sprühten aus dem prasselnden Feuer, um sogleich in der kalten Luft zu verglimmen.
»Wir werden sehen«, sagte Achmed zurückhaltend.
»Es wäre schön, Llauron, wenn Ihr uns etwas von der Geschichte dieses Landes erzählen könntet. Ich habe Grunthor und Achmed schon verraten, dass Ihr ein großartiger Geschichtenerzähler seid«, warf Rhapsody ein.
»Das will ich gern tun.« Er beugte sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Knie und hob die gefaltete Hand für einen kurzen Moment an den Mund. Seine Augen funkelten im Feuerschein.
»Vor langer Zeit und so vielen Jahren, dass nicht einmal Der-der-zählt sich mehr daran erinnern kann, lebte eine uralte Drachenfrau am Fuß des Großen Weißen Baums, der damals zu der Zeit der Kindheit der Erde noch ein kleiner Schössling war. Sie herrschte über dieses Land, das sich vom Nordrand des lirinschen Reiches im Süden bis an den Hintervold im Norden erstreckte, und sie lebte ganz allein hier, denn sie war voller Argwohn allen Fremden gegenüber, besonders Menschen. Ihre Macht über die Erde war so groß, dass ihr Hoheitsgebiet ganz und gar unangefochten und somit für die Außenwelt ein Rätsel blieb. Den Lirin vertraute sie, denn sie lebten im Einklang mit der Natur und waren friedliche Nachbarn. Der Name dieser Drachenfrau war Elynsynos. Eines Tages blickte sie aufs Meer hinaus und sah ein Licht auf den Wellen, das sie bis dahin noch nie gesehen hatte. Es rührte von einer Flamme her, die einer Kerze gleich in einer Kristallkugel brannte und als Leuchtboje an der Wasseroberfläche schwamm. Dieses unmittelbare Nebeneinander der so Entgegengesetzten Elemente von Feuer und Wasser faszinierte Elynsynos, und sie verstand es als Zeichen dafür, dass ein Zeitenwechsel bevorstand. Wenig später landete ein Seemann an der Küste ihres Reiches. Er war groß gewachsen, hatte eine goldene Haut und gehörte jenem Volk an, das wir heute Alt-Seren nennen, also den Ureinwohnern von Serendair, der Insel auf der anderen Seite der Welt. Von dort war der Seemann gekommen. Die Drachenfrau erkannte in ihm einen Nachfahren der Erstgeborenen, also jener fünf Stämme, die zu Beginn der Welt geschaffen worden waren und zu denen eben auch die Drachen zählten.«
»Und wer zählte sonst noch dazu?«, wollte Grunthor wissen.
»Jedes der fünf Elemente – Äther, Wasser, Wind, Erde und Feuer – hat einen Stamm hervorgebracht. Die Seren sind die Ältesten und entstammen dem Äther, dem Stoff, aus dem auch die Sterne gemacht sind. Die Kinder des Wassers wurden Mythlin genannt, die des Windes hießen Kith. Die Drachen waren Abkömmlinge der Erde. Schließlich gab es da noch die F’dor, die dem flüchtigsten aller Elemente, dem Feuer, entsprangen. Aber das ist eine andere Geschichte, die man besser bei helllichtem Tag erzählt. Der Name des Seemanns war Merithyn. Er stand als Kundschafter in den Diensten von Gwylliam, dem letzten hohen König der Seren, und hatte den Auftrag, einen Ort zu finden, an dem sein Volk würde siedeln können. Gwylliam wusste, dass der Heimatinsel der Untergang drohte, und wollte verhindern, dass mit ihr auch das Volk und dessen Zivilisation verloren gingen. Vermutlich hatte er nicht zuletzt auch die Fortsetzung seiner Herrschaft im Sinn. Jedenfalls schickte er Merithyn in die Fremde, um eine geeignete Kolonie ausfindig zu machen. Es verschlug ihn an die Küste des Reiches von Elynsynos, und was bislang keiner geschafft hatte, sollte nun ihm gelingen: Er konnte unbehelligt die Grenze passieren, was womöglich darin begründet lag, dass er als Angehöriger eines der Erstgeborenenstämme eine noch besonders enge Verbindung zu den Elementen unterhielt. Wahrscheinlicher aber ist, dass sie, die Drachenfrau, sein Kommen begrüßte. Sie hatte Menschengestalt angenommen und sich ein Äußeres zugelegt, das ihm gefallen musste. Und tatsächlich: Kaum war sie ihm zu Gesicht gekommen, verliebte er sich auch schon in sie. Und Elynsynos verlor ihr Herz an den Seefahrer. Als sie von seiner Mission erfuhr, beschloss sie, seinem Volk eine neue Heimat zu bieten, in der Hoffnung, ihn für immer an ihrer Seite zu haben. Überglücklich segelte Merithyn nach Serendair zurück, um Gwylliam die Einladung zu übermitteln und den Auszug der Inselbewohner vorzubereiten. Als Unterpfand für sein Versprechen, zu ihr zurückzukehren, hatte er Elynsynos die Kerze der Crynella geschenkt, jenes leuchtende Notsignal, das sie vor seiner Ankunft auf dem Wasser hatte treiben sehen und das nach der Seren-Königin benannt war, die diese Leuchtkugel zum Schutz für den eigenen seefahrenden Liebhaber hatte fertigen lassen. Gwylliam war von der Nachricht seines Kundschafters begeistert. Er hatte in dessen Abwesenheit bereits selbst Vorbereitungen zur Evakuierung der Insel getroffen, und schon bald waren über tausend Schiffe zur Reise gerüstet. Damit wenigstens ein Teil davon das Ziel erreichte, wurden die Schiffe in drei Verbände aufgegliedert und nacheinander auf den Weg geschickt. Weil das neue Land nach Merithyns Auskunft unbewohnt war, hatte der König beschlossen, dass die Erste Flotte keiner bewaffneten Truppen bedurfte. Stattdessen schickte er diejenigen voraus, die für den Aufbau der Kolonie am wichtigsten waren: Ingenieure und Architekten, Heiler und Bauern, Mauerer und Zimmerer, Gelehrte und schließlich auch die Filiden. Es waren alle Volksstämme vertreten, doch der der Lirin machte, ihrem Anteil an der Gesamtzahl entsprechend, die Hälfte der Besatzung aus. Für den Schutz der Ersten Flotte sollte Oelendra sorgen, eine lirinsche Heldin, die den Titel Iliachenva’ar trug.«
»Wie bitte?«, fragte Rhapsody nach.
»Iliachenva’ar. Grob übersetzt, bedeutet dieses Wort Träger des Lichtschwertes‹, einer Waffe, die auch unter dem Namen Tagessternfanfare bekannt war. Es handelte sich um eine flammende Klinge, den Elementen Feuer und Äther geweiht.«
Achmed nickte, sagte aber nichts. Jetzt war klar, wie das Schwert der Seren an diesen Ort hatte gelangen können.
»Mit Merithyn als Führer und Oelendra als Beschützerin war die Erste Flotte bestens ausgestattet und hatte alle Aussicht, das neue Land sicher zu erreichen. Die Zweite Flotte war ganz ähnlich zusammengesetzt, führte aber auch einen großes Kontingent an Soldaten mit sich und stach ein paar Wochen später in See. Der Aufbruch der Dritten und letzten Flotte wurde möglichst lange hinausgezögert, um denjenigen Gelegenheit zur Flucht zu geben, die sich bislang gesträubt hatten, die Insel zu verlassen. Auch die restlichen Teile des Heeres wurden nun eingeschifft. Gwylliam ging an Bord des Seglers, der ganz zum Schluss die Anker lichtete, und sah als Allerletzter seine Insel am Horizont verschwinden. Die Reise muss wohl sehr gefährlich und strapaziös gewesen sein. Mitten auf dem Meer überraschte sie ein Sturm, der gewaltiger war als alles bisher Dagewesene. In den Legenden heißt es, dass im Auge dieses Orkans ein böser Dämon gesteckt habe, ein Monstrum, dem es darum gegangen sei, die Flotten zu versenken.« Anstelle der scheinbar selbstvergessenen Miene, die Llauron zu Beginn seiner Erzählung aufgesetzt hatte, blitzte jetzt ein geradezu verschlagener Ausdruck in seinen Augen auf.
»Wer aber die Cymrer näher kennt, weiß, dass sie in ihrer Selbsteinschätzung gern zur Übertreibung neigten, und darum glaubten sie wohl auch, dass diese Naturkatastrophe ausschließlich ihnen gegolten hätte. Zurück zur Geschichte. Merithyns Schiff ging unter. Den Legenden nach hat er sich freiwillig geopfert, um die Erste Flotte vor der Wut des Dämons zu schützen. Wahrscheinlicher aber ist, dass er schlicht und einfach dem Sturm zum Opfer fiel, der das Schiff zerstörte und mit allen, die sich an Bord befanden, auf den Grund des Meeres schickte. Es war im Übrigen nicht das einzige Schiff, das verloren ging. Nach Merithyns Tod musste Oelendra, die Iliachenva’ar, die Führung übernehmen und die Flüchtlinge an einen Ort bringen, den sie vorher nie gesehen hatte. Als Richtungsweiser diente ihr das flammende Schwert der Sterne; es hielt die Flotte in dem unablässig wütenden Sturm zusammen, bis sie endlich wieder in stillere Gewässer kam und das Ufer erreichte. Diese Erste Flotte landete an der Küste von Avonderre, Wundersamerweise ganz in der Nähe jener Stelle, an der auch Merithyn seinerzeit vor Anker gegangen war. Als schließlich auch das letzte Schiff aus diesem Verband aufgeschlossen hatte, führte Oelendra die Besatzung an Land, auf das Hoheitsgebiet der Gastgeberin, die zu kommen sie eingeladen hatte. Doch nun gab es zwei Probleme.«
Auch Rhapsody hörte diese Geschichte zum ersten Mal. Sie drängte darauf, dass Llauron weitererzählte, und fragte: »Was waren das für Probleme?«
»Elynsynos war, wie sich leicht verstehen lässt, äußerst bestürzt, erfahren zu müssen, dass Merithyn nie zurückkehren würde. Einzig und allein ihm zuliebe hatte sie die Grenzen ihrer Länder für Fremde geöffnet. Zu sagen, sie sei enttäuscht gewesen, wäre stark untertrieben. Sie fühlte sich betrogen, zumal niemand beweisen konnte, dass der Geliebte tatsächlich untergegangen und nicht einfach woanders hingesegelt war. In ihrer Wut ließ sie den Baum und ihre Länder im Stich und zog sich in ihre Höhle im Norden zurück, an jenen Ort, wo Merithyn die Botschaft Gwylliams in Stein gemeißelt hatte: Cyme we inne frið, fram the grip of deaþ to lif inne ðis smylte land.«
»Was soll das heißen?«, fragte Achmed ruppig.
Llauron lächelte. »Wie unhöflich von mir, dass ich nicht gleich übersetzt habe. »Kommen wir in friedlicher Absicht, den Klauen des Todes entronnen, um in diesem schönen Land zu leben.« Vielleicht ließe sich smylte treffender mit heiter übertragen. Wegen dieses Satzes, den sie bei jeder Gelegenheit zum Besten gaben, wurden die Flüchtlinge von Serendair später ›Cymrer‹ genannt. Eines der vielen tragischen Momente dieser Geschichte ist, dass Merithyn womöglich am Leben geblieben wäre, hätte er Elynsynos nicht so sehr geliebt und ihr Crynellas Kerze, sein Notsignal, als Unterpfand zurückgelassen. So klein dieser Gegenstand auch war, er hatte eine enorm große Wirkung, da er die Entgegengesetzten Elemente Feuer und Wasser in sich vereinte. Hätte er ihn, als er Schiffbruch erlitt, bei sich gehabt, wäre die Geliebte auf die Gefahr aufmerksam gemacht worden und ihm zu Hilfe geeilt. Aber um sie zu trösten und zum Zeichen seiner Verbundenheit hatte er ihr die Kerze zum Geschenk gemacht. Nun ja, so ist schon aus mancher guten Absicht gerade das geworden, was man am wenigsten wollte. Und jetzt taugt das Ding, von dem ich spreche, nur noch als Schlüsselanhänger.«
Llauron langte in eine Tasche seines Gewandes und zog eine kleine Kristallkugel in der Größe einer Walnuss daraus hervor. Das kleine Licht in ihrer Mitte durchdrang die Dunkelheit und umhüllte den Fürbitter mit einem Strahlenkranz, der heller war als das Feuer.
Rhapsody ging vor Staunen der Mund auf. »Das ist sie? Crynellas Kerze?«
Llauron schmunzelte. »Ja, es sei denn, man hat mir eine ausgezeichnete Fälschung angedreht. Bei Antiquitätenhändlern weiß man nie so recht.«
»Ihr habt sie gekauft, als Antiquität?«
»Ja, und eine schöne Stange Geld dafür ausgegeben.«
»War nicht von zwei Problemen die Rede?«, meldete sich Achmed mit schneidender Stimme zu Wort.
»Worin bestand das andere?«
Llaurons Gesicht wurde plötzlich ganz ernst. »Als Merithyn von ihr wegging, wusste er nicht, dass Elynsynos schwanger von ihm war.«