»Hat sie dir vielleicht Schwierigkeiten gemacht, Euer Liebden?«
Rhapsody zerrte an den Armschienen des Harnischs, den Achmed ihr gegeben hatte.
»Kein bisschen«, erwiderte sie, vergeblich darum bemüht, die Schnallen zu schließen. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie sich die am schlimmsten zugerichteten Opfer von Feuerauges Geist aus der Nähe ansieht. Danach war sie mehr als glücklich darüber, zurückbleiben und auf der Krankenstation aushelfen zu dürfen. Ja, sie hat sich sogar freiwillig bereit erklärt, auf meine Enkelkinder aufzupassen.«
Grunthor grinste, doch sein Blick blieb freudlos.
»Gut. Dann ist wenigstens sie in Sicherheit. Und du bist wirklich nich umzustimmen, Gräfin?«
Sie tätschelte seine Hand, dankbar dafür, dass er ihr die Armschienen festschnallte. »Nein.«
»Na, dann freu ich mich über deine Begleitung. Hoffentlich erinnerst du dich an das, was du von mir gelernt hast.«
»Aber sicher doch. Und natürlich auch an Achmeds weisen Rat: Augen auf; Schwierigkeiten werden dir nicht erspart bleiben, sei also darauf gefasst. Es ist besser, du siehst sie kommen.«
Der Firbolg-König schmunzelte hinter seinem Schleier. »Du bist also bereit?«
Rhapsody trat vor die Tunnelöffnung und stellte sich neben ihn. In der Schlucht waren zehntausende von Bolg zusammengekommen. Sie brannten darauf, ihre toten Brüder zu rächen. Die Emotionen schlugen über, und der Lärm, den die schwer bewaffneten Soldaten machten, war ohrenbetäubend. Immer mehr Kämpfer, Männer wie Frauen, strömten herbei; der Aufmarsch schien kein Ende nehmen zu wollen.
»Seid ihr sicher, diese Menge unter Kontrolle halten zu können?«, fragte sie nervös.
»Nee«, antwortete Grunthor, fast heiter. »Aber ich weiß, an wem sie sich abreagiert, wenn wir die Kontrolle verliern.«
Die Pferde trippelten auf der Stelle, ihre Schenkel zitterten vor Anspannung. Rhapsody stellte sich vor, ebenso wild aus den Augen zu blicken wie die Tiere.
Von hoher Warte aus auf die vielen tausend Bolg in der Tiefe herabzusehen hatte ihr schon Angst genug gemacht. Jetzt, da sie sich auf der Sohle der Schlucht mitten unter ihnen befand, kam sie sich vor wie im Zentrum eines Wirbelsturms.
Ringsum herrschte verstörendes Gewimmel. Es stank nach Schweiß und Angriffsfieber. Die Kampfeslust der Bolg war förmlich greifbar und spiegelte sich in unzähligen Augenpaaren wider.
»Siehst du irgendwo ein Hügel-Auge?«, fragte Achmed seinen Freund, der auf Steinschlag hockte, seinem riesigen Schlachtross, das er von Stephen Navarne geschenkt bekommen hatte.
»Nee. So verrückt werden sie wohl auch kaum sein, uns jetzt anzugreifen.« Zufrieden sah sich Grunthor in der Schlucht um, die sein mächtiges Heer kaum fassen mochte.
Rhapsody trat einen Schritt zurück, um den Quartiermeister passieren zu lassen, der das Zaumzeug ihrer Stute prüfte.
»Gehören die Faust-und-Feuer-Vertreter einem Augen-Klan an oder den Beuschel?«, fragte sie.
»Den Beuschel«, antworteten Achmed und Grunthor wie aus einem Munde.
»Warum wird dann deren Anführer Feuerauge genannt? Ich dachte, die Häuptlinge tragen immer die Klanbezeichnung im Namen.«
Achmed stieg aus dem Sattel und kam auf sie zu, um zur Antwort auf ihre Frage nicht gegen den allgemeinen Lärm anbrüllen zu müssen.
»Im Grunde ist jeder Klan im Verborgenen Reich ein Beuschel-Klan. Den besonderen Namen hat der Schamane seiner blutunterlaufenen Augen wegen. In solchen Augen zeigt sich manchmal auch ein F’dor. Das weißt du aus eigener Erfahrung, nicht wahr?« Rhapsody nickte. »Gelegentlich benutzt so einer auch das Symbol, wie wir es in der Basilika von Bethania gesehen haben. Es war auch Tsoltans Erkennungszeichen.«
Rhapsody musste an ihren jüngsten Albtraum zurückdenken. »Ja, wenn ich mich nicht irre, habe ich es in einer Vision gesehen.«
»Nun, als ich darauf geachtet habe, ist mir nichts dergleichen aufgefallen; es war auch nirgends in seinen Sachen eingestickt. Keine Ahnung, ob er das Zeichen auf seinem Ornat trägt, falls er denn überhaupt so etwas hat.«
Achmed hielt das Pferd, auf dem Rhapsody saß, beim Zügel gepackt, als drei Armbrustschützen, die in Streit geraten waren, prügelnd näher rückten. Grunthor herrschte sie an und schickte sie in die Reihen zurück, die sich in chaotischer Auflösung befanden.
»Denk daran, was ich dir über die Zauberacht gesagt habe. Erschlag ihn nicht, bevor du ganz sicher sein kannst, dass der Zauber wirkt.«
Rhapsody kam mit ihrer Stimme nicht gegen den Lärm an und nickte bloß. Achmed gab ihr einen Klaps auf den Schenkel und stieg zurück in den Sattel seines Pferdes.
Der lange Ritt ins Verborgene Reich war überaus anstrengend. Rhapsody hatte Mühe, im Sattel zu bleiben, und verkrallte sich in der Pferdemähne, als gälte es, ihr Leben festzuhalten.
Sie ritten einem endlos langen Tross voran, dem sich immer mehr Firbolg anschlössen, die von den Hängen und Tälern des Gebirges herbeikamen, Mitglieder verschiedener Klans, einzelne Jäger oder Soldaten in Gruppen, Väter mit einem oder mehreren Söhnen – sie alle stießen zu dem großen Heer, bis es schließlich den Eindruck erweckte, als wären die Berge selbst in Achmeds Gefolge. In Gedanken hörte Rhapsody wieder seine Stimme, mit der er, strotzend vor erwartungsvoller Energie, seine neuen Untertanen von dem Felsvorsprung hoch über der Schlucht aus zum ersten Mal angesprochen hatte.
Was immer ihr einmal gewesen sein mochtet, jetzt seid ihr ohne Kraft. Ziellos irrt ihr umher, und jeder Schritt tut euch weh. Nicht so, wenn ihr euch mir anschließt. Dann wird es sein, als setzte sich der Berg in Bewegung.
Genauso, wie er es vorausgesagt hatte, war es nun gekommen.
Zu ihrer Linken fing der Sergeant plötzlich mit seiner tief tönenden Stimme zu schmettern an.
So der kluge Volksmund spricht:
Rache ist ein Kaltgericht.
Doch ich mag es lieber warm.
Und wenn ich komme,
dich zu holen,
fress ich erst mal deinen Arm.
Die nächste Strophe begleiteten tausende heiser grölende Kehlen.
Ich fress dich auf mit Haut und Haar,
egal, ob’s roh ist oder gar;
Nur die Knochen spuck ich aus.
Und kommen uns von euch
noch andere quer,
ist es bald mit denen aus.
Allein das Echo, das von dem Felsen widerhallte, war so wuchtig, dass es Rhapsody aus dem Sattel zu werfen drohte. Es war ein gewaltiges Donnern, das, so lächerlich die Worte an sich auch sein mochten, Angst und Schrecken verbreitete. Rhapsody spürte die unumstößliche Entschlossenheit und Härte in diesen Stimmen.
Aus Furcht und Aufregung liefen ihr prickelnde Schauer über den Rücken. Sie warf einen Blick zur Seite auf Achmed, der ihr aufmunternd zulächelte, dann auf Grunthor, der, kaum dass das Lied zu Ende war, ein weiteres folgen ließ, irgendeine grauenvolle Kriegsballade, die bereits sehr viel finsterer klang. Das Gemetzel an seinen Männern hatte ihn ins Mark getroffen. Er würde sie, wie Rhapsody ahnte, auf entsetzliche Weise rächen. Sie machte sich auf das Schlimmste gefasst. Im Laufe der ersten drei Tage schlössen sich dem ohnehin schon riesigen Heer mehr und mehr Firbolg an. Von nah und fern eilten Mitglieder verschiedener Klans herbei; auch von den Beuschel hatten sich etliche anlocken lassen, nachdem ihnen klar geworden war, dass nicht die Erde selbst bebte, sondern ein Heer vorbeizog, das den ganzen Umkreis erzittern ließ.
Nachts wurde Rast gemacht. Diejenigen, die Wache hielten, ließen riesige Feuer abbrennen und sangen kriegerische Lieder. Rhapsody sah eine gewaltige Rauchwolke den Himmel verhängen, den Feuerschein und bizarre Schatten über die Felswände huschen.
Am Abend des vierten Tages kam es zu kleineren Gefechten. Die Bolg, die nun von den Hügeln herbei gelaufen kamen oder aus den Ruinen der verlassenen Cymrer-Siedlungen auftauchten, hatte nicht etwa die Absicht, sich den rächenden Reihen anzuschließen. Vielmehr versuchten sie, das königliche Heer an seinen Rändern aufzureiben. Doch diese Angriffe wurden an anderer Stelle des Riesentrosses nicht einmal bemerkt und vor Ort niedergeschlagen, ohne dass die Kämpfer ihren Gesang unterbrochen hätten.
Am fünften Tag wurde alles anders.
Im flackernden Schein hoch auflodernder Lagerfeuer hatte Achmed bereits in der Nacht darauf hingewiesen, dass nun das Territorium des Faust-und-Feuer-Klans erreicht sei. Er rechnete zwar nicht damit, dass ein wirklich ernst zu nehmender Gegner gegen sie aufmarschieren würde, doch waren Hinterhalte zu befürchten, denn man hatte es hier mit einem heimtückischen Stamm zu tun. Seine Ahnung sollte sich schon bei Tagesanbruch bestätigen. Dank ihrer von Achmed verordneten Diät aus Wurzeln und Innereien konnten seine Soldaten selbst bei spärlichem Licht so gut sehen, dass sie die Angreifer schon früh erkannten. Sie stürmten in zwei Schlachtreihen aus dem grauen Dunst herbei, wobei die hintere Formation einen weiten Halbkreis bildete und das Gelande – eine nur noch aus wenigen Grundmauern bestehende Ruinenstadt – von drei Seiten umstellte. Die erste Angriffswelle bestand aus losen Truppen, die mit brennenden Fackeln aus den Kellerlöchern der Stadt hervorzubrechen schienen.
»In einer Linie!«, brüllte Grunthor. Rhapsody zügelte ihr Pferd und sah, wie die Armbrustschützen in Stellung gingen und die Front der Angreifer methodisch und präzise mit ihren Geschossen bestrichen. Überall schlugen Flammen auf. Der äußere Ring der feindlichen Truppen hatte große Felder von Öl und Pech in Brand gesteckt, die alle Fluchtwege versperrten und die Luft mit beißendem Rauch füllten.
An Rhapsody gewandt, rief Grunthor: »Sing!«
Von Rauch umhüllt, fächerte sie sich Luft zu und fing zu singen an: das einstudierte Kriegslied, ein Lied, das dem Takt bolgischer Herzen entsprach und deren Blut in Wallung brachte. Es erhob sich ein wildes Geschrei, und angestachelt von ihrem Gesang warfen sich die Kämpfer ins Getümmel. Wie eine schwarze Rauchfahne flog Achmed plötzlich herbei und streckte die Hände nach ihr aus.
»Komm, runter vom Pferd! Wir müssen uns in die Höhle verkriechen, ehe uns das Feuer eingeschlossen hat.«
Er zog Rhapsody aus dem Sattel und hielt sie bei der Hand gefasst. Zusammen rannten sie durch das Gedränge, geduckt den Schwertgefechten ausweichend und über Gefallene hinweg setzend. Wenig später tauchte auch Grunthor auf, die Nasenflügel vor Wut gebläht. Mit Sal, seinem Stangenbeil, schlug er sich eine Schneise durch die Kämpfer der Faust-und-Feuer-Sippe, gesellte sich zu seinen Freunden und schützte Rhapsody mit seiner Waffe vor den Hieben, die ringsum niedergingen.
»Gehn wir jetzt rein?«, fragte er keuchend.
Achmed zeigte auf ein Loch inmitten des fauchenden Infernos. »Dahinten, da ist der Eingang«, sagte er.
Saltar hatte die Augen geschlossen. Seine Hände zuckten nervös. »Sie kommen«, sagte er. Seine Worte hallten von den Wänden der dunklen Höhle wider, dann aber war es still.
Er sperrte die rot geränderten Augen weit auf.
»Hast du nicht gehört? Ich sagte, sie kommen.«
Ein kalter Dunsthauch kühlte seine Stirn, doch er war nicht sicher, ob das Geistwesen dahintersteckte oder ob es daran lag, dass er heftig zu schwitzen angefangen hatte.
Er ist nicht bei ihnen.
Feuerauge langte nach dem Willum-Schwert, seinem zweitkostbarsten Besitz. Er hatte nicht erwartet, von ihm Gebrauch machen zu müssen.
»Was soll das heißen? Natürlich ist er dabei. Sie sind hier, sie kommen.«
Ich sehe ihn nicht. Der, um den es mir geht, ist nicht bei ihnen.
Saltar stieß eine Reihe von Flüchen aus, die selbst für bolgische Geschmacksvorstellungen überaus wüst waren.
»Du musst mir helfen«, sagte er und schnappte nach Luft. »Du musst kämpfen.«
Nur das Echo antwortete.
Achmed hielt vor dem Feuer an. Gleich hinter der Flammenwand hatte sich eine Abteilung Faust-Bolg zusammengezogen, um den Eingang zur Höhle zu bewachen.
Auf ein Zeichen von Achmed hin zog Rhapsody ihr Schwert. Die Tagessternfanfare glitt aus der Scheide und ließ dabei einen Ton erklingen, der sich hell schwingend über den Tumult legte. Rhapsody holte tief Luft und hob die Klinge vors Gesicht. Das letzte Bild, das sie vor sich sah, ehe sie die Augen schloss, war der entsetzte Ausdruck auf den Gesichtern der Gegner, die kurz zuvor noch ein höhnisches Grinsen zur Schau gestellt hatten.
»Slypka«, sagte sie. Erlisch.
Von jetzt auf gleich war die Flammenwand vor ihnen verschwunden.
Mit lautem Gebrüll stürmte Grunthor voran, das Stangenbeil wie eine Sense schwingend, und wer von den Gegnern nicht schnell beiseite sprang, wurde niedergemäht. Es dauerte nicht lange, und der Eingang zur Höhle war frei. Dicht gefolgt von Achmed und Rhapsody stob der Riese geradewegs darauf zu.
Rhapsody bremste kurz ab, um ihr Schwert in die Scheide zurückzustecken. Im Hintergrund waren die stampfenden Laufschritte der Soldaten zu hören, die ihnen in die Höhle folgten. Ihr blieb keine Zeit zu unterscheiden, ob es sich um Kämpfer aus den eigenen Reihen handelte oder nicht.
Vor ihnen versperrten Wachposten den Weg, Faust-Bolg, bewaffnet mit uralten Schwertern und Speeren. Achmed zog das lange dünne Schwert, das Rhapsody ihn im Haus der Erinnerung schwingen gesehen hatte. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück.
Im Tunnel hinter ihr waren erbitterte Kämpfe ausgebrochen, Bolg gegen Bolg. Das Blut, das sie verströmten, lief am Boden zu einer großen Lache zusammen. Als sie wieder nach vorn schaute, hatte Achmed die Wachsoldaten bereits außer Gefecht gesetzt.
»Komm«, sagte er und fasste sie wieder bei der Hand.
Sie rannten hinter Grunthor her, immer tiefer in den Berg hinein, der einst cymrischen Höhlenbewohnern als unterirdische Stadt gedient hatte. Die Füße liefen mit ihren Herzen im Gleichschritt. Die von der Anstrengung und vom Feuerrauch strapazierten Lungen rangen nach Luft. Plötzlich blieb Achmed stehen und renkte ihr fast den Arm aus, als er sie, die noch in vollem Lauf war, jäh zurückhielt.
Vor ihnen stand ein Bolg, der vergleichsweise klein war, nicht größer als Achmed, und ein cymrisches Schwert in der Hand hielt. In Lumpen gekleidet und mit wild zerzaustem Haar, hatte er sich vor ihnen aufgebaut und starrte ihnen aus rot geränderten Augen entgegen. Sie waren voller Angst, wie Rhapsody zu erkennen glaubte.
Achmed stand unmittelbar vor ihm. Er schloss die Augen und öffnete den Mund einen Spaltbreit. Rhapsody legte die Hand auf das Heft ihres Schwerts, während Grunthor das Stangenbeil gegen den Lopper eintauschte. Achmed leitete die Zauberacht ein.
Aus tiefster Kehle brachte er vier verschiedene Töne hervor; ein fünfter trat hinzu, der in Stirnhöhle und Nase gebildet wurde. Es war, als hätten fünf Sänger gleichzeitig zu singen angefangen. Dazu produzierte er nun mit der Zunge rhythmische Klicklaute.
Feuerauge flackerte verwundert mit den Lidern.
Achmed hob die rechte Hand wie zu einem Haltezeichen. Die linke Hand fuhr langsam seitlich aus und nach oben, und mit zuckenden Fingern versuchte er nach einer uralten Methode der Dhrakier, die Schwingungen des F’dor aufzuspüren. Plötzlich sperrte er die Augen weit auf.
Da war nichts zu spüren, auch nicht der kleinste Hinweis auf den F’dor.
Saltars Augen klarten auf; das Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Knurrend sprang er einen Schritt nach vorn, holte mit dem Schwert aus und zielte damit auf Achmeds ungeschützten Nacken. Als die Klinge niedersauste, ließ Grunthor ein so schauerliches Heulen ertönen, dass Rhapsody die Haare zu Berge standen. Er stieß seinen König und teuersten Freund wuchtig zur Seite und fing Saltars Hieb mit der geharnischten Brust ab. Rhapsody schnappte nach Luft und zog ihr Schwert.
Saltar schlug ein zweites Mal zu. Dann sprang er blitzschnell zur Seite und wich so einer Riposte des Riesen aus. Dem Sergeanten fiel die Kinnlade herunter. Feuerauge hatte den Gegenstoß offenbar schon vorausgeahnt, noch ehe Grunthor dazu angesetzt hatte.
»Halt still, du mickriges Miststück!«, murmelte er und holte wieder aus.
Geschickt wich Saltar auch diesem Schlag des Riesenbolg aus. Schweiß brach ihm aus und mischte sich mit den blutigen Tränen, die ihm vor Anstrengung aus den Augen quollen. In Erwartung eines beidhändig geführten Hiebs sprang er zurück.
Grunthor schnaubte vor Wut. »Weiß der Scheißkerl doch wahrhaftig, was ich vorhab, bevor ich’s selbst weiß«, brummte er. Um Saltar zur Parade zu zwingen, hob er sein Schwert und ließ es mit aller Kraft auf Saltars Klinge niederfahren, die, in der Mitte getroffen, wie ein Streichholz zerbrach. Die abgetrennte Hälfte schnellte wie ein Propeller durch die Luft und trennte Saltars Kopf vom Nacken. Der hatte nur noch Zeit, die Augen aufzureißen, ehe der Kopf auf den Boden der Höhle schlug. Erschrocken sprang Rhapsody zurück. Saltars enthaupteter Leib kippte ihr mit einem dumpfen Schlag direkt vor die Füße. Der Kopf rollte noch ein paar Schritte weiter. Die gebrochenen Augen – nunmehr ohne roten Rand – starrten unter die Höhlendecke und schienen noch einmal aufzuleben im Licht der Tagessternfanfare, das sich flackernd im Glaskörper spiegelte.
Achmed schaute näher hin. »Seltsam, das Rot ist aus seinen Augen verschwunden.«
Rhapsody zitterte. »Der Dämonengeist, wo ist er? Hat er sich vom Zauber zwingen lassen?«
»Da war gar nichts, was sich zwingen ließe«, antwortete Achmed und untersuchte die Augen des Toten.
Rhapsody blickte auf den Boden. Von Saltars durchtrenntem Hals war ihr eine schwere Goldkette mitsamt Talisman vor die Füße gefallen. Sie bückte sich, um sie aufzuheben.
»Nicht anfassen!«, schrie Achmed in schriller Stimmlage.
Vorsichtig führte Grunthor die Spitze seines Schwertes unter das Medaillon und drehte es um: ein goldenes, von metallenen Feuerzungen umkränztes Schmuckstück, vor langer, langer Zeit als ein Abbild der Erde in Flammen geschmiedet. Darin prankte eine Spirale aus winzigen roten Steinen, die in der Mitte auf ein einzelnes Auge hinauslief. Es funkelte in dem von der Klinge reflektierten Flammenlicht.
Grunthor fuhr vor Schreck zusammen. »Da ... das ist er!«
Achmed wich noch einen Schritt zurück. Rhapsody warf einen Blick in die Runde, konnte aber in der Dunkelheit der Höhle nichts erkennen. Weiter hinten im Eingangsbereich waren nach wie vor Kämpfe zwischen den eigenen Soldaten und Faust-Bolg im Gange, die vom Tod ihres Schamanen noch nichts wussten. Und über alle und alles senkte sich ein kalter Nebel.
Plötzlich schrie Grunthor auf. Es war kein Kampfschrei, was er da von sich gab, nicht jenes Gebrüll, mit dem er Menschen und Tiere zu erschrecken pflegte, auch nicht das donnernd dröhnende Lachen, das von ihm zu hören war, wenn er sich am Schrecken, den er verbreitete, ergötzte.
Es war ein Schmerzensschrei.
Er wirbelte herum und schlug beide Hände vors Gesicht, getroffen von einem Hieb, der wie aus dem Nichts geführt worden war. Rhapsody eilte ihm zu Hilfe, wurde aber zurückgestoßen, von einem wuchtigen Windstoß, wie es schien.
»Grunthor!«
Geblendet taumelte der Sergeant zurück. Blut rann aus einer qualmenden Wunde, die ihm der unsichtbare Streich über die Augen geschlagen hatte. Auch auf Brust und Schulter klafften tiefe Risse. Sein Umhang hatte Feuer gefangen und ging in Flammen auf.
Achmed packte den Freund, holte ihn von den Beinen und wälzte sich mit ihm über den Boden, um die Flammen zu ersticken, genau so, wie es Grunthor mit ihm im Kern der Erde getan hatte. Von einem unsichtbaren Schlag am Kinn getroffen, flog der Kopf des Dhrakiers in den Nacken zurück, und das Feuer drohte Grunthor zu verzehren.
Rhapsody mühte sich auf die Knie und hob das Schwert mit ausgestreckten Armen. Keuchend schnappte sie nach Luft, schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, das Feuer verschwinden zu lassen.
»Slypka«, flüsterte sie.
Die Flammen verpufften. Grunthor lag auf dem Bauch und zuckte abermals zusammen, als sich plötzlich auf dem Rücken von der Hüfte bis zum Nacken ein Spalt auftat. Entsetzt starrte Rhapsody auf die offene Wunde.
»Achmed, sieh nur!«
Im Licht, das von ihrem Schwert ausging, konnte man eine Schattengestalt erkennen, die sich über den Riesen beugte. Fast unsichtbar schwebte sie über ihm, mit einem Kapuzengewand wie aus Nebelschleiern, die ihr von knorrigen Armen mit glühenden Klauen herabhingen. Nur als ein fahler Schimmer war die Silhouette auszumachen, die sich, ohne eigene Substanz, an der Schwelle zwischen Leben und Tod aufzuhalten schien. Im Ausschnitt der Kapuze war nichts als dunkle Leere. Als aber das Schwertlicht darauf fiel, blinkte es einmal kurz darin auf.
Ein letztes Zittern ging durch Grunthors Körper, dann lag er still. Der Flammenschein der Tagessternfanfare fing einen Schatten auf, der sich von dem Riesen weg auf sie, Achmed und Rhapsody, zubewegte.
»Shing«, flüsterte Achmed mit erstickender Stimme. »Himmel!«
»Shing? Was ist das?«, raunte Rhapsody kaum hörbar.
»Ein Auge des F’dor. Es kommt näher. Geh langsam zurück, und dann mach, dass du wegkommst. Ich werde es so lange wie möglich aufzuhalten versuchen.«
Noch in der Hocke kauernd, wich Rhapsody zurück. »F’dor? Du sagtest doch, da wäre nichts.«
»Ich hab ja auch keine Schwingungen von ihm aufnehmen können«, murmelte Achmed, der sich hektisch nach allen Seiten hin umsah. »Aber er ist hier. Tsoltans Sklave. Saltar war sein Wirt, ganz bestimmt; es muss so gewesen sein.«
Nicht auf das, was er ist, kommt es an, sondern auf das, was er trägt.
Rhapsody richtete den Oberkörper auf. In ihrem Inneren hörte sie die Worte so deutlich, als würde die Mutter neben ihr stehen. Und laut wiederholte sie:
»Nicht auf das, was er ist, kommt es an, sondern auf das, was er trägt.«
Achmeds Kopf schnappte zurück. Aus einer quer über die Schulter geschlagenen Wunde schlugen Flammen. Grunthor gab einen ächzenden Laut von sich und hob die riesige Pranke, als der Freund, rückwärts taumelnd, über ihn stolperte.
Nicht auf das, was er ist, kommt es an, sondern auf das, was er trägt.
Unwillkürlich richtete sich ihr Blick auf das Amulett. Mit zitternder Hand langte sie danach und hob es vom Boden auf.
»Nein«, stöhnte Achmed, der sich vor Schmerzen wand. »Berühr es nicht!«
Grunthors Körper wurde mit Gewalt herumgewälzt.
»Halt!«, befahl Rhapsody und hielt das Amulett in die Höhe.
Im Geiste hörte sie ein Wort, das so klang, als wäre es in der Ecke gegenüber ausgesprochen worden, mit gedämpfter Stimme, im Flüsterton.
Tsoltan?
Rhapsody schüttelte den Kopf und versuchte sich von dem Eindruck zu befreien, als würde sich da etwas bei ihr einschleichen und ihre Gedanken verdrehen.
Achmed hob den Arm, so hoch er konnte.
»Rhapsody, lauf!«, röchelte er. »Zuerst wird er Grunthor töten, dann bin ich dran. Davon lässt er sich nicht abringen. Mach, dass du davonkommst.« Blankes Entsetzen trat in sein Gesicht. »Himmel, Rhapsody, deine Augen!«
Nicht auf das, was er ist, kommt es an, sondern auf das, was er trägt.
»Es ist das Amulett«, sagte sie leise. Sie hob es wieder in die Höhe und blickte zu Grunthor hin. »Der Shing ist nicht an den Schamanen gebunden, sondern an das Amulett.«
Sie wandte sich wieder dem Schatten zu, der unstet durch die Dunkelheit huschte. »Lass von ihm ab«, verlangte sie. Über Grunthor glimmte ein schwacher Funke auf. »Was willst du?«
Ich suche den Bruder.
»Hast du gehört?« Rhapsody wandte sich an Achmed, der am Boden lag und sich auf dem Ellbogen abstützte, um sich aufzurichten. Er schüttelte den Kopf. »Er sucht den Bruder.«
Mit Müh und Not stand Achmed auf. Er griff nach seinem Schwert und flüsterte auf Bolgisch: »Sag’s ihm.«
»Nein. Er kann dich nicht sehen. Du bist jetzt Achmed die Schlange.«
»Sag’s ihm«, wiederholte er. »Wenn nicht, geht er wieder auf Grunthor los. Und dann wird er dich töten. Sag’s ihm.«
»Nein.«
Achmed raffte sich auf und kam wankend näher.
»Ich bin der Bruder!«, brüllte er. »Ich bin es, den du suchst! Nimm mich!«
»Achmed, nein!«
Achmed straffte die Schultern und presste die Arme an die Seiten. Entsetzt sah Rhapsody zu, wie er in die glühenden Klauen des glimmenden Schattens fiel, zu Boden gerissen und vor ihren Augen malträtiert wurde, bis er sich schließlich nicht mehr rührte.
Der Shing schwebte vor ihr in der Luft. Tief im Inneren hörte sie wieder seine Stimme.
Ich habe den Bruder gefunden und ihn, wie es mein Auftrag war, ausgeliefert. Entlasst mich jetzt aus Eurem Dienst.
Rhapsody hielt die Kette mit dem Amulett fest in der schweißnassen Hand umschlossen.
»Wo sind die anderen Augen? Wo ist der Rest eurer Tausendschaft?«
Verschwunden, verglüht in der Hitze des Schlafenden Kindes und in alle Winde verstreut. Ich allein bin zurückgeblieben, habe den weiten Ozean überquert, um ihn zu suchen. Das ist mir geglückt.
Entlasst mich jetzt.
Achmed rührte sich, blieb aber liegen. »Frag ihn nach seinem Herrn.«
»Und wer hat dich gerufen? Wo hält er sich auf?«
Er ist tot, als Mensch und Geist, sein Name fast vergessen. Ich bin der Letzte aus seinem Feuer. Er ist tot. Entlasst mich jetzt. Die Stimme wurde schwächer.
Rhapsody warf einen Blick auf Achmed. »Er will, dass ich ihn freigebe.« Achmed nickte. Sie schaute zurück, auf die Stelle, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte.
»Zeig dich ganz, damit ich dich entlassen kann.«
Es zeigte sich ein schwacher Schimmer. Rhapsody erkannte die Umrisse des Umhangs und der Kapuze. Die dürren Klauenhände glühten nur noch matt, statt zu brennen. Das Knochengerüst der Hülle schien in Auflösung begriffen zu sein. Im Ausschnitt der Kapuze war kein Licht mehr zu sehen.
»Gibt es noch andere Dämonengeister? Weitere F’dor?«
Der Shing war kaum mehr auszumachen, seine Stimme verstummt.
»Slypka«, sagte sie. Erlisch. Und die schimmernde Erscheinung löste sich auf.
Sie beugte sich über Achmed, um ihm zu helfen, doch er winkte ab, und so lief sie auf Grunthor zu. Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie die schrecklichen Wunden sah, die sein Gesicht und seinen Körper entstellten. Er atmete nur noch schwach und starrte mit glasigen Augen zur Decke. Seine Wangen hatten bereits die Farbe des Todes angenommen.
In der Stille der Höhle intonierte Rhapsody den bolgischen Namen mit all seinen schwer zu artikulierenden Schnalz- und Pfeiflauten. Kind der Sandwüste und des offenen Himmels, Sohn der Höhlen und Länder der Dunkelheit, sang sie. Grunthor bewegte sich nicht.
Bengard. Firbolg. Sergeant Major. Mein Spieß, mein Beschützer. Herr der tödlichen Waffen. Sie schluchzte und fing zu weinen an. Dero untertänigst zu gehorchender Autorität. Grunthor, stark und verlässlich wie die Erde selbst. Mein Freund, mein lieber, lieber Freund.
Draußen vor der Höhle ging die Sonne unter.