Rhapsody hatte sich schon so sehr daran gewöhnt, über kalten, nassen Grund zu kriechen, dass sie sich kaum mehr daran erinnerte, wie es war, im Trocknen zu sein und nicht frieren zu müssen. Die Gerüche der Erde und des abgestandenen Wassers waren allgegenwärtig, und ihre Kleider waren ständig feucht. Manchmal schien es ihr, als hätte es kein anderes Leben gegeben, als wären ihre Erinnerungen an die Vergangenheit nichts weiter als Träume. Die Wirklichkeit lag hier, in diesem nicht enden wollenden Treck entlang der Axis Mundi.
Sie kletterten, marschierten, krochen auf Händen und Füßen, und das nun schon so lange, dass sie nichts anderes mehr kannten. Es war unübersehbar viel Zeit vergangen, und sooft sie sich schlafend zu erholen versuchten, erwachten sie in derselben albtraumhaften Wirklichkeit.
Anders als die beiden Bolg, denen es offenbar nichts ausmachte, tief in der Erde eingeschlossen zu sein, hatte Rhapsody nach wie vor schwer mit ihren Ängsten zu kämpfen, die immer wieder Überhand zu nehmen drohten, sooft ihr gewärtig wurde, dass sie tief in der Erde steckte, eingeengt und ohne ausreichend Luft zum Atmen.
Immerhin konnte sie über weite Strecken aufrecht gehen, wofür sie dankbar war. Aber dennoch kam es häufig vor, dass auch sie sich ducken musste, was nicht weniger anstrengend war, als auf Händen und Knien zu kriechen. Ihr taten alle Glieder weh, vor allem der Rücken und die Knie, und mit jedem Schritt schienen die Schmerzen zuzunehmen. Selbst der Schlaf brachte kaum Linderung.
Es war ihr nach wie vor ein Rätsel, wie es Grunthor schaffte, seine Muskelmassen durch die engen Gänge zu schieben. Wenn Achmed dann endlich dazu aufrief, Rast zu machen, was meist nach einer besonders schwierigen Passage geschah, ließ sie sich immer dankbar auf den Boden fallen und war bald eingeschlafen – nur um von weiteren Albträumen heimgesucht zu werden.
Diese Träume wurden immer intensiver, je weiter sie im Erdreich vordrangen. Achmed fühlte sich so sehr davon belästigt, dass er einmal drohte, sie von der Wurzel zu stoßen. Wenn genügend Raum zur Verfügung stand, schlief sie auf Grunthors Brust. In seinen starken Armen fühlte sie sich geborgen, aber beim Erwachen als Erstes in sein grinsendes, grünliches Gesicht zu blicken war etwas, an das sie sich erst einmal hatte gewöhnen müssen.
Achmed war, als sie die Axis Mundi erreicht hatten, noch reservierter und einsilbiger geworden. Oft schien es, als lauschte er auf Geräusche, die nur er vernehmen konnte. Er sprach, wenn überhaupt, nur noch im Flüsterton und war anscheinend so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass Rhapsody ihn nicht stören mochte und sich stattdessen lieber an Grunthor hielt.
Wenn sich Gelegenheit dazu bot, unterrichteten die beiden Männer Rhapsody in der Sprache der Firbolg, dem so genannten Bolgisch. Nicht, dass sie irgendeinen Zweck damit verfolgten; sie wollten einfach nur freundlich sein und verhindern, dass sie sich ausgeschlossen fühlte, wenn sie sich in ihrer Sprache unterhielten. Im Gegenzug brachte sie Grunthor, sooft es die Lichtverhältnisse erlaubten, das Lesen bei. Diese Lektionen aber dauerten nie sehr lange.
Einmal wachte Rhapsody aus dem Schlaf auf und bemerkte, dass Achmed, ganz bleich im Gesicht und vor Kälte zitternd, vor sich hin murmelte, ganz so, wie sie es häufig tat. Der Stollen war über weite Strecken wieder sehr eng gewesen. Entsprechend langsam waren sie vorangekommen, obwohl sie sich nur wenige Ruhepausen gegönnt hatten.
Grunthor, der einige Stunden zuvor einen schweren Felsblock aus dem Weg hatte räumen müssen, schlief tief und ließ sich von den Albträumen des Freundes nicht stören. Rhapsody hob den Kopf von der Brust des Riesen, wartete eine Weile ab, stand dann vorsichtig auf und schlich auf Zehenspitzen auf die Stelle zu, wo Achmed sein Lager aufgeschlagen hatte. Als sie sich ihm näherte, spürte sie, wie ihr Herz aus Sorge schneller zu schlagen anfing. Sie sah seine Augenlider flattern und hörte ihn hechelnd atmen. Vorsichtig strich sie ihm mit sanfter Hand über die Stirn und flüsterte: Achmed?«
Der Dhrakier träumte noch eine Weile weiter. Dann riss er plötzlich die Augen auf. »Ja?« Seine Stimme klang noch trockener als sonst.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja.«
Sie streichelte seine Wange, gerade so, als versuchte sie ein Kind zu trösten. »Du hast anscheinend schlimm geträumt.«
Seine ungleichen Augen blitzten auf. »Hast du etwa einen Exklusivanspruch auf schlimme Träume?«
Rhapsody schreckte zurück, als wäre sie geohrfeigt worden. Er schleuderte ihr Blicke entgegen, die nicht weniger scharf waren als die scheibenförmigen Geschosse seiner Cwellan.
»Nein, natürlich nicht«, stammelte sie. »Verzeihung, ich wollte nur... mach dir nichts draus.« Eilig kehrte sie zu ihrer Schlafstatt zurück und lehnte sich wieder an die Muskelbepackte Brust des Riesen. Sie hatte Achmed nach seinem Traum befragen wollen, ahnte nun aber, dass sie im Grunde gar nicht wissen wollte, was einen Mann wie ihn derart in Angst und Schrecken versetzen konnte.
Grunthor wusste Bescheid. Er verschloss die Augen davor und versuchte, alle Gedanken daran zu verdrängen.
Endlich schien Achmed gefunden zu haben, wonach er suchte. Sie waren in eine geräumige Höhle gelangt, deren Ausmaße sich im Dunkeln nicht überblicken ließen. Achmed verlangsamte seinen Schritt und blieb schließlich stehen.
»Wartet hier und verhaltet euch möglichst leise«, flüsterte er. »Versucht, ein bisschen zu schlafen. Wenn ihr aufwacht und ich bin nicht zurück, dann geht ohne mich weiter.« Und ehe Rhapsody etwas sagen konnte, war er verschwunden.
Als sie sich umdrehte, um von Grunthor eine Erklärung zu verlangen, fuhr sie angesichts der grimmigen Miene des Riesen vor Schreck zusammen.
»Was hat er vor?«, fragte sie nervös.
Der Riese langte mit der Hand aus und zog sie wortlos zu sich auf den Boden. Die Luft war noch kühler geworden. Er schlug seinen Mantel auf und bot ihr seine Schulter als Kopfkissen an. Als sich Rhapsody hingelegt hatte, deckte er sie mit seinem Mantel zu. Den Blick unter die entfernte Höhlendecke gerichtet, seufzte er tief und flüsterte: »Ruh dich jetzt ein bisschen aus, Herzchen.«
Achmed schaute sich ein letztes Mal in der riesigen Höhle um, bevor er über die Wurzel auf jenen Gang zukletterte, den er zuvor entdeckt hatte. Im Unterschied zu den anderen Tunneln enthielt dieser Gang keinen Wurzelableger. Er stand leer, und es war völlig still und dunkel in ihm.
Dem dumpfen, flackernden Herzschlag war er nun schon lange gefolgt. Das erste Wispern hatte er bereits kurz nach dem Einstieg in die Axis Mundi wahrgenommen; es war immer lauter angeschwollen, hatte das Summen des Baums übertönt und den Grund unter seinen Füßen erbeben lassen.
Als er und Grunthor ihre Flucht aus Serendair geplant hatten, hatten sie gerade diesem Weg unbedingt ausweichen wollen. Denn dort verbarg sich ja das schreckliche Schicksal der Insel, das sich bald erfüllen sollte. Aber nicht nur davor hatten sie die Flucht ergriffen. Achmed wusste, dass etwas noch Grauenvolleres auf seine Stunde wartete, etwas, das er in der Wüste jenseits der verfehlten Landbrücke mit eigenen Augen gesehen hatte.
Dass er dessen Puls überhaupt gefühlt hatte, war ihm, Achmed, immer noch ein Wunder. Seine magische Fähigkeit, die Herzschläge der Menschen zu spüren, war ihm als Erstgeborenem seines Stammes auf dieser Insel vermacht worden. Was er hier jedoch gewahrte, war kein Mensch. Es stammte noch aus der Vorzeit, und dass er mit seinem Gespür Zugang zu ihm fand, stand womöglich irgendwie im Zusammenhang mit der von Rhapsody damals in den Straßen von Ostend getroffenen Namenswahl. Sonst hätte er von diesem Wesen wohl keine Kenntnis genommen.
Der Puls, langsam in gefrorenen Tiefen schlagend, war kaum wahrnehmbar, aber dennoch nicht zu verkennen, und die Menge an Blut, das da in den Adern zirkulierte, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er gefunden hatte, wonach er gesucht hatte.
Er blieb stehen. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit verspürte Achmed lähmende Angst. Um sein Leben bangte er nicht. Der Tod hatte ihn noch nie schrecken können; er sah ihn als einen Partner an oder mehr noch, als eigentlichen Meister seiner Zunft. Die unablässigen Schwingungen der Welt, das, was andere als das Leben bezeichneten, waren für ihn eine ständige Irritation und alles andere als erfreulich.
Manchmal beneidete er seine Opfer um den friedlichen Ausdruck auf ihren Gesichtern, der sich einstellte, wenn er ihnen das Leben genommen hatte. Für viele, das wusste er, bedeutete der Tod eine Erlösung.
Zu seinem Erbe gehörte auch ein scharfes, kritisches Urteilsvermögen. Er war beileibe nicht blindwütig wie die Pest oder der Krieg. Im Gegenteil, seine Todesurteile waren häufig gewissermaßen das einzig Vernünftige, etwas, was in dieser verrückten Welt überhaupt Sinn machte. Nein, vor dem Tod, auch und gerade vor dem eigenen, hatte er keine Angst.
Was ihm indes Angst machte, war die atmende, geistlose Art dieses düster dräuenden Etwas, das das Land zu verheeren drohte. Würde dieser Wyrm erst einmal aus der tiefen Erde, in der er überwinterte, hervorkriechen, so würde er alles, aber auch alles vertilgen. Er würde ihn als den Todbringer um ein Millionenfaches übertreffen. Als das finstere Licht des vollkommenen Ruins würde er gar eine Sonnenfinsternis in den Schatten stellen.
Er und Grunthor mochten durch ihre Flucht in einen anderen Teil der Welt eine Weile Aufschub erwirken. Womöglich konnten sie, was ihnen an Lebenszeit noch verblieben war, in Frieden verbringen und eines natürlichen Todes sterben. Auf dieses Ziel hin hatten sie ihre anfänglichen Pläne ausgelegt.
Und doch befand er sich jetzt hier, an der Schwelle zum Heiligtum, um das Gegenmittel zu einem Gift zu finden, das älter war als die Erde selbst und viel zu bösartig, als dass er es hätte missachten können. Seltsam: ausgerechnet er, der herzlose Meuchelmörder, verspürte das Bedürfnis, sich für das Überleben der ahnungslosen Bevölkerung der Insel und letztlich für den Fortbestand der Erde stark zu machen. Er konnte gar nicht anders.
Er stand am Rand der Grotte und sog die bitterkalte Luft durch die Nase ein. Irgendetwas – war es seine Berufung, den Wyrm zu befreien oder ihm als Köder zu dienen, war es sein Hass auf den Dämon, der ihn zu beherrschen getrachtet hatte, oder war es alles zusammen – irgendetwas drängte ihn wider besseren Wissens, diese monströse Kraft im Verborgenen schlafen zu lassen.
Doch stärker als der Wunsch, sich aus dem Staub zu machen, war der Zwang zum Handeln, der sich einfach nicht abschütteln ließ. Woher dieser Zwang rührte, wusste er selbst nicht, doch er ahnte, dass Rhapsody auf irgendeine Weise damit in Verbindung stand.
Sie war irgendwie in diese Sache verstrickt. Er würde ihre Hilfe nötig haben, weshalb er sie davon überzeugen musste, dass sie durchaus imstande war, dieses immense Vorhaben mitzutragen. Sie würde aus dem Vertrauen, das er in sie setzte, Kraft ziehen, auch wenn es letztlich nur vorgetäuscht war. Jeder Fehler, der ihnen unterlaufen würde, hätte fatale Folgen. Doch ähnlich verheerende Konsequenzen würde der unterlassene Versuch nach sich ziehen.
Rhapsody träumte von der Dunkelheit. Die Kerzenflamme flackerte, als die Tür zu ihrem Schlafzimmer knarrend aufging. Ihr Vater trat ein und setzte sich auf die Bettkante.
Alles in Ordnung, Kind?
Im Schlaf wälzte sich Rhapsody auf der Wurzel liegend zur Seite. Sie nickte.
Es ist dunkel, flüsterte sie wie damals schon. Ich habe Angst, Vater.
Er hob sie, in ihre Decke eingewickelt, vom Bett auf und trug sie nach draußen unter den von Sternen übersäten Himmel.
Dasselbe hab ich auch mit deiner Mutter getan, wenn sie sich fürchtete, was anfangs, als ihr bei uns noch alles fremd erschien, häufig der Fall war.
Hatte Mama auch Angst vorm Dunkeln?
Die Bartstoppeln des Vaters kratzten an ihrer Wange, als er schützend die Arme um sie legte und sie an sich drückte.
Nein, natürlich nicht. Sie ist eine Lirin, ein Kind des freien Himmels. Und der Himmel ist immerhin die halbe Zeit über dunkel. Sie hatte Angst, ihm entzogen und zwischen dunklen Mauern eingesperrt zu sein.
Schlafend faltete Rhapsody die kalten Hände und steckte sie zwischen die Knie.
Hast du deshalb das Fenster in das Dach eingebaut?
Ja. Schau in den Himmel. Siehst du die Sterne?
Ja, Vater. Wunderschön, nicht wahr?
Trotz der Dunkelheit konnte sie sein Lächeln erkennen.
Ob sie wohl auch so schön funkeln würden, wenn der Himmel ringsum nicht schwarz wäre?
Nein.
Wer das Schöne sehen will, muss auch den Schatten in Kauf nehmen. Merk dir das.
Sie glaubte zu verstehen, was er damit meinte. Es war wohl damals ganz ähnlich, als du Mama zu dir geholt hast und die Leute aus dem Dorf ihr so unfreundlich begegnet sind.
Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht, so auch sein Strahlen.
Ja, genau so.
Wie ist es gekommen, dass die Leute ihre Meinung über unsere Familie geändert haben? Und warum bist du im Dorf geblieben, obwohl Mama so schlecht gelitten war?
Sie erinnerte sich an sein Gesicht, an die Fältchen, die sich bildeten, als er wieder zu lächeln anfing.
Man muss sich auch dem stellen, was nicht so angenehm und schön ist. Und das haben wir getan. Auch wenn du alles, was ich dir je gesagt habe, vergessen solltest, versuche dich bitte stets an Folgendes zu erinnern: Wenn du in deinem Leben findest, was dir wichtiger und teurer ist als alles andere, bist du es dir schuldig, dass du daran festhältst. Einen solchen Fund machst du kein zweites Mal, mein Kind. Lass dich durch nichts davon abbringen. Auf lange Sicht werden dir auch die Leute zustimmen, die dir anfangs etwas anderes einzureden versucht haben. Finde das, was wirklich zählt – alles andere ergibt sich von selbst.
Tränen tropften auf die schimmernde Wurzel. Sie hatte aufmerksam zugehört und sich die Worte des Vaters zu Herzen genommen. Und indem sie seinen Rat befolgt hatte, hatte sie alles verloren. Selbst ihn.
»Rhapsody?«
Der Name war so leise gesprochen, dass sie glaubte, ihn bloß in ihrer Einbindung gehört zu haben. Sie schlug die Augen auf und blickte in den dunklen Ausschnitt der Kapuze Achmeds. Er sah sie an. Sie nickte stumm.
»Ich habe eine Geschichte für dich. Deren Ende ist noch nicht geschrieben. Möchtest du sie hören?«
Langsam richtete sie sich auf und ergriff die ihr gebotene Hand. Wie schon an dem Tag, als sie sich ihr zum ersten Mal gereicht hatte, drückte diese Hand fest und entschlossen zu, doch war sie diesmal bloß und ohne ledernen Handschuh.
Sie glaubte einen Moment lang, immer noch zu träumen, doch sein Blick und seine Worte waren so klar, wie sie es sich niemals hätte einbilden können. Er half ihr auf und führte sie von dem schlafenden Riesen weg in einen geschützten Winkel.
»Dort hinten«, sagte er und zeigte ins Dunkle, »liegt ein Tunnel. Er ist ganz anders als diejenigen, durch die wir bislang gekommen sind, denn er ist nicht von einer Wurzel des Baums durchstoßen worden. Es hat ihn schon gegeben, lange bevor der Baum überhaupt gepflanzt wurde. Tief in diesen Tunnel steckt ein schlagendes Herz. Du hast mich oft gefragt, wieso ich so sicher sein kann, immer den richtigen Weg einzuschlagen. Die Antwort ist: Ich kann fast jeden Puls auf meiner Haut spüren. Dir macht Angst, was ich da sage; das ist deiner Miene zwar nicht anzusehen, aber mir fällt auf, dass dein Herz schneller schlägt. Falls du hier in die Irre laufen oder in einen Wurzelschacht stürzen solltest, würde ich dich finden, denn ich weiß, wie dein Herz schlägt.«
Rhapsody rieb sich die Augen; es war, als wollte sie vor allem den Verstand klar wischen. Die Worte, sanft gesprochen in der ihr nun schon vertrauten trockenen Stimme, waren so ganz anders als alles, was sie bisher aus Achmeds Mund gehört hatte. Sie achtete auf seinen Tonfall und entdeckte echtes Mitgefühl darin. Und Besorgnis. Und Furcht. Sie schüttelte den Kopf, weil sie noch immer glaubte, nicht richtig wach zu sein.
»Hör mir zu. Ich bin einem bestimmten Puls auf der Spur. Anfangs war es der des Baums, doch er änderte sich, als wir die Axis Mundi fanden. Diesem anderen Puls sind wir bisher gefolgt. Es ruht etwas Schreckliches an diesem Ort, etwas, das mächtiger und entsetzlicher ist, als du es dir vorzustellen vermagst und dessen Namen ich nicht einmal zu nennen wage. Was tief in diesem Tunnel, im Bauch der Erde schläft, darf auf keinen Fall aufwachen. Niemals. Verstehst du mich? Du hast gesagt, dass es dir möglich sei, Schlaf zu verlängern ...« »Manchmal.«
»Ja. Ich verstehe. Aber diesmal musst du es können.« Achmed musterte das Gesicht der Sängerin und sah, dass sie immer noch nicht wach und bei der Sache zu sein schien. Hatte er sich denn nicht ausreichend verständlich gemacht? Er musste ihr begreiflich machen, was er von ihr wollte. Allmählich begann er wie sie an ihren Fähigkeiten zu zweifeln, und er erinnerte sich: Sie hatte ihn umbenannt, ohne dass es ihre Absicht gewesen wäre, und sie, die drei, unsichtbar gemacht für die Feld- und Waldlirin. Und er glaubte auch eine Ursache dafür ausmachen zu können, nämlich die, dass sie ihre Studien allein hatte abschließen müssen, weil ihr Mentor ein Jahr vor der Frist verschwunden war.
Bei diesem Gedanken wurde ihm ganz flau. Tsoltan hatte einmal beiläufig davon gesprochen, über einen Benenner verfügt zu haben. Vielleicht bestand zwischen ihm, Achmed, und Rhapsody eine noch sehr viel länger zurückreichende Verbindung, als er angenommen hatte.
Seinem Plan gemäß hatte sie fast von Anfang an vom Fleisch der Wurzel gegessen, was mit Sicherheit nicht ohne Wirkung auf sie geblieben war. Es schien, dass sie – alle drei – schon ein Leben lang hier unten in den Tiefen der Welt zubrachten und doch um keinen Moment gealtert waren. Jedenfalls glaubte er das an den Schwingungen zu spüren, die er empfing. Der Baum, selbst aufs Engste mit der Zeit verbunden, hob ihre Wirkung auf. Mehr noch: Seit dem Einstieg in die Sagia waren die drei gesünder, kräftiger und jünger geworden.
Doch Rhapsody hatte noch eine weitere Veränderung durchgemacht und eine innere Kraft entwickelt, die ihm bei der ersten Begegnung nicht aufgefallen war. Ob diese Kraft von den langen Übungsstunden herrührte oder ein Geschenk der Wurzel war, blieb dahingestellt. Jedenfalls schien Rhapsody zu einer großen Benennerin heranzureifen. Und er hoffte sehr, dass ihnen allen damit geholfen wäre.
»Ich müsste wissen, weshalb du von mir verlangst, dass ich Schlaf verlängere«, sagte Rhapsody leise.
»Du sprichst in Rätseln und versuchst, mir etwas zu verschweigen, was man auch als eine Art von Betrug bezeichnen könnte. Wie schon gesagt, liegt meine Kraft in der Wahrheit. Ich kann dir nicht helfen, solange du mich hinters Licht führst.«
Achmed stieß unwillkürlich einen Schwall Luft aus. Er starrte sie eine Weile an, als wollte er ihre Seele ausloten. »Du hast mich Achmed die Schlange genannt, weil du deine Verfolger mit diesem Namen einschüchtern wolltest. Stimmt’s?«
»Ja. Das habe ich schon zugegeben, und ich schäme mich immer noch dafür.«
»Aber nicht doch. Wer weiß, vielleicht war es mir nur deshalb möglich, den Tunnel zu finden. Als der Bruder war ich noch ausschließlich an das Blut von Männern und Frauen gebunden. Möglich, dass erst der Schlangenname, den du mir gegeben hast, es mir ermöglicht hat, dieses Herz schlagen zu hören. In der Vorzeit, als die Erde und das Meer entstanden, wurde der Urmutter aller Drachen, dem Urwyrm, ein Ei gestohlen. Wenn wir jemals wieder zurück ans Tageslicht gelangen, werde ich dir ihren Namen nennen. Es jetzt schon zu tun wäre nicht klug. Wie dem auch sei, dieses Ei wurde hier, in der Erde, versteckt gehalten, und zwar von dämonischen Wesen, die dem Feuer entsprungen waren. Mein ehemaliger Meister war einer von ihnen.«
»Der, von dem du den Schlüssel hast?«
»Pssst. Ja.« Sein Flüstern wurde noch leiser. »Der kleine Wyrm, der dem Ei entschlüpft ist, hat hier in den gefrorenen Tiefen der Erde gelebt. Er wurde größer und größer, bis er mit seinem Leib das Herz der Welt umschlingen konnte. Der Wurm ist ein angeborener Bestandteil der Erde, sein Körper Teil der Weltmasse. Noch schläft er, doch schon bald wird sich dieser Dämon regen und zur Oberfläche aufsteigen. Rhapsody, mir fehlen die Worte, dir zu erklären, wie groß er ist. Aber du verstehst vielleicht, wenn ich sage, dass der Stamm der Sagia nur ein Streichholz ist im Vergleich zu seiner Pfahlwurzel, nicht wahr?«
»Ja.«
»Die Pfahlwurzel aber ist verschwindend klein verglichen mit der Axis Mundi. Und im Vergleich zu diesem Wesen, das ich zu beschreiben versuche, ist die Axis Mundi nicht größer als eins deiner Haare. Es kann die ganze Erde verschlingen. Genau darauf haben es die Diebe angelegt, die das Ei hier versteckt haben. Es wartet nur noch auf den Befehl des Dämons, der bald erfolgen wird – dessen bin ich mir sicher.« Achmed blinzelte, und Rhapsody konnte sein Gesicht nicht mehr sehen. »Das weiß ich, weil der Dämon versucht hat, mich zu seinem Werkzeug zu machen.«
»Bist du deshalb davongelaufen?«
»Unter anderem, ja.«
Rhapsody lehnte sich zurück und betrachtete ihn mit neuen Augen. Bislang war sie wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass ihre beiden Gefährten einiges auf dem Kerbholz hatten und deshalb auf der Flucht waren. Das Gemetzel unter Michaels Männern hatte sie in dieser Vermutung aufs Drastischste bestätigt. Und doch ging von den beiden auch etwas Vornehmes aus. Der noble Zug an Grunthor war ihr sofort aufgefallen. Er hatte sich von Anfang an um sie gekümmert, Partei für sie ergriffen, ihr immer wieder geholfen und ihr Trost gespendet. Es war dessen Gefährte, dem sie allerhand Schlechtes zugetraut hatte – bis zu diesem Augenblick.
Wer das Schöne sehen will, muss auch den Schatten in Kauf nehmen. Merk dir das.
»Und anstatt einen großen Bogen um diesen Wyrm zu machen, bist du mit uns hierher gekommen, um ihn in Schach zu halten.«
»Ja, wenn das denn möglich ist.« Das ungleiche Augenpaar funkelte im Dunkeln. »Aber damit wäre nur Zeit gewonnen. Ihn vollständig zu vernichten wird weder uns noch irgendjemandem sonst jemals gelingen.«
Sie drückte ihre Fingerspitzen an die pochenden Schläfen. »Ich könnte versuchen, ihm ein Schlaflied zu singen, aber ob es auch wirkt, weiß ich nicht. Auf jeden Fall müsste ich möglichst nah heran, damit er mich auch hört.«
Aus dem Kapuzenausschnitt erklang ein Seufzer. »Das war zu befürchten. Wir, Grunthor und ich, haben diese Möglichkeit schon in Erwägung gezogen.«
»Und er war nicht einverstanden, oder? Deshalb hast du wohl auch gewartet, bis er schläft, um mit mir zu reden.«
»Wie scharfsinnig von dir. Ich werde womöglich noch mein Urteil über dich revidieren müssen.«
»Ich hätte da eine Idee, aber dazu brauchte ich meinen Rucksack«, sagte sie schmunzelnd. »Damit Grunthor nicht aufwacht, wär’s wohl besser, du holst ihn.«
»Ehe du etwas Dummes anrichtest, würde ich gern hören, was du vorhast«, sagte Achmed, als er ihr das Gepäck reichte und sich an eine Nacht vor langer Zeit erinnerte, da sie im licht einer abgedeckten Feuerstelle auf den Feldern außerhalb von Ostend ihr Lager aufgeschlagen hatten.
Ich frage dich noch einmal, Sängerin: Wozu bist du imstande? ...Ich weiß, was wahr ist, und kann, indem ich die Wahrheit ausspreche, Dinge verändern.
Als ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, blickte er wieder zu ihr auf. Rhapsody löste die Schnallen der sackleinenen Schutzhülle ihrer Bauernharfe.
»Danke für das Vertrauen, das du mir entgegenbringst.« Sie zog die Hülle ab und brachte das Instrument zum Vorschein. Es hatte trotz der beschwerlichen Reise keinen Kratzer abbekommen. »Du sagtest, die Bestie würde irgendwann gerufen.«
»Ja.«
»Was, wenn sie diesen Ruf nicht hört?« Weil Achmed nicht so recht zu verstehen schien, versuchte sie es mit einer anderen Wendung. »Wer etwas rufen will, muss wissen, wie es heißt. Ich kenne den Namen natürlich nicht, aber wenn wir dafür sorgen könnten, dass der Ruf ungehört bleibt, würde die Bestie vielleicht weiter schlafen und keine Antwort geben. Fürs Erste jedenfalls.«
In Achmeds Gesicht zeigte sich der Anflug eines Lächelns. »Und wie willst du das anstellen?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber wenn es so weit ist, wird mir schon etwas einfallen.«
Vorsichtig und schweigend krochen sie über die riesige, schimmernde Wurzel und ließen sich Zeit dabei, um möglichst jedes Geräusch zu vermeiden. Schließlich gelangten sie an den Rand der Wurzel, stiegen ab und betraten zum ersten Mal das schwarze Basaltgestein, durch das die Axis Mundi verlief. Im schattigen Hintergrund öffnete sich ein gewaltiger Tunnel, dessen Umrisse in der Dunkelheit nicht auszumachen waren.
Je weiter sich Rhapsody dem Tunnel näherte, desto kälter wurde ihr, und als die Öffnung fast erreicht war, erkannte sie auch den Grund dafür.
Aus der Tiefe der kreisrunden Höhle blies ihr ein eisiger Wind entgegen, der ihr die klammen Kleider am Leib gefrieren ließ.
»Himmel«, flüsterte sie. »Wie ist das möglich?«
Achmed wandte sich ihr zu und sprach leise und mit Bedacht: »Die dämonischen Geister haben, nachdem sie das Ei hier versteckt hatten und an die Oberfläche zurückgekehrt waren, das Element des Feuers mit sich genommen. Sie wollten den Wyrm zu seiner größtmöglichen Leibesfülle heranwachsen lassen, ehe er dann, aus seinem Winterschlaf erweckt, ans Licht und zum Feuer an der Oberfläche drängen würde.« Seine ohnehin raue, trockene Stimme rasselte in der kalten Luft.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
Schmunzelnd antwortete er: »Mir ist danach, mich selbst in den Winterschlaf zu begeben.«
»Was soll das heißen?«
Er lehnte sich nahe an sie heran, damit sie sein Flüstern hören konnte. »Du warst es doch, die mich Achmed die Schlange genannt hat.«
Besorgt hob Rhapsody die Hand und wischte den Reif ab, der sich auf seinem Gesicht gebildet hatte. Seine Bewegungen waren inzwischen extrem langsam geworden und drohten gänzlich zum Stillstand zu kommen. »Gütiger Himmel«, hauchte sie. Er steckte in der Falle und verwandelte sich den Reptiliennamen an, den sie ihm gegeben hatte.
Was habe ich da bloß getan?, jammerte sie im Stillen und sah ihn ganz und gar erstarren. Wenn ich versage und die Schlange erwacht, wird er nicht mehr fliehen können und ihr erstes Opfer sein – nein, ihr zweites.
»Komm«, sagte sie und ergriff seine steif gefrorene Hand. »Hier kannst du nicht bleiben. Ich führe dich zurück.«
Mit dem letzten Rest an Beweglichkeit, die ihm noch verblieben war, schüttelte er den Kopf und hielt den starren Blick auf sie gerichtet.
»Rhapsody«, flüsterte er unter größter Anstrengung. »Tu, was zu tun ist. Ich werde hier so lange warten.« Sein Tonfall ließ keine Widerworte zu.
Sie starrte in den Tunnel. »Kannst du immer noch seinen Herzschlag spüren?« Er bejahte ihre Frage, indem er zweimal mit den Augen zwinkerte. »Gut. Dann kann’s von mir aus losgehen. Gib mir Bescheid, sobald es auf mich reagiert – und für den Fall, dass es aufzuwachen droht. Ich werde ganz behutsam anfangen, um notfalls gleich wieder abbrechen zu können. Vorher muss ich allerdings noch herausfinden, welche Richtung der Tunnel einschlägt.«
Sie setzte die Harfe ab und schlich auf Zehenspitzen durch den riesigen Höhleneingang. Die Wände standen weiter auseinander, als ihr Blick im Dunkeln reichte. Auch das hohe Gewölbe war nicht zu sehen. Mit ausgestrecktem Arm tastete sie nach der Wand und beugte sich nach vorn, um den Neigungswinkel abschätzen zu können. Die Oberfläche fühlte sich sandig und kalt an. Der Tunnel führte abwärts, so viel stand fest. Rhapsody kehrte an die Stelle zurück, wo Achmed wartete.
»Der Wyrm scheint noch weit entfernt zu sein«, flüsterte sie. »Unmöglich, ihn von hier aus zu erreichen.«
Achmed mühte sich, etwas zu sagen. »Die Tunnel... wand...«
Sie rückte mit ihrem Ohr dicht an seine Lippen heran. »Was ist damit?«
» ... ist eine ... Schuppe ... seiner Schlangenhaut.«
Das Blut drohte ihr in den Adern zu gefrieren, als ihr dämmerte, was er meinte. Zwar hatte er schon erklärt, dass der Schlangenleib einen Großteil der Erdmasse ausmachte, doch ihr war nicht in den Sinn gekommen, dass auch die Höhlenwand selbst dazugehören könnte. Wenn sie denn nun bloß ein winziger Teil dieses Lindwurms war, so würde ihn wahrhaftig nichts aufhalten können, wenn er sich erhöbe. Und sie hatte ihn mit der Hand berührt!
Rhapsody musste schwer an sich halten, um dem Gefühl von Panik und Ekel nicht nachzugeben. Sie setzte sich auf den Boden, nahm die Harfe zur Hand und versuchte, ihren Kopf freizumachen für die diffuse Musik, die in der Luft lag. Es dauerte nicht lange, und sie konnte das monotone Summen in gleichmäßigen Abständen um einen Halbton auf- und abschwingen hören – das Begleitgeräusch eines tiefen Schlafes.
In derselben Tonart stimmte sie nun das einfachste Schlaflied an, das sie kannte, den Blick auf Achmed gerichtet für den Fall, dass er ihr einen Hinweis auf eine Reaktion des Wyrms zu geben versuchte. Doch in seinem gefrorenen Körper gefangen, starrte er sie bloß mit ausdruckslosen Augen an und regte sich nicht.
Die Melodie durchwebte die Musik in der Luft. Nach einer Weile fügte Rhapsody ein harmonisches Element hinzu und stellte fest, dass sich die Luft ringsum ein wenig erwärmte. Auf ihren fragenden Blick hin zwinkerte Achmed einmal mit dem Auge. Noch war alles beim Alten geblieben.
Sooft sie von streunenden Gedanken bedrängt wurde, machte sie sich mit einem Kopfschütteln davon frei. Es war jetzt unerlässlich, dass sie ihr Vorhaben ungestört zu Ende brachte. Ein Fehler würde unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen.
Wenn der Dämon den Wyrm riefe, würde er ihn bei seinem Namen nennen, und dieser Name würde ganz genau einem Klangmuster entsprechen, das zu den musikalischen Schwingungen passte. Es galt nun, diese Schwingungen ein wenig abzuwandeln, sie auf ein Lied umzustimmen, das den Namensruf verzerrte.
Wenn Musik in den Ohren schmerzen soll, muss sie nicht etwa krass, sondern nur ein kleines bisschen von der harmonischen Stimmung abweichen, hatte ihr Mentor sie gelehrt. Gelang es ihr demnach, ganz sachte von der richtigen zur falschen Intonation hin zu wechseln, würde der Wyrm dies hoffentlich nicht merken.
Rhapsody atmete im Takt zur Musik und konzentrierte sich auf die Rhythmen ihres Körpers. Alles Zeitgefühl schwand dahin wie damals in den Weiten Marschen. Wie lange sie die Harfe spielte, war ihr nicht bewusst; immer und immer wieder schlug sie den monotonen Refrain an und wandelte ihn mit jeder Wiederholung kaum merklich ab. Sie gestaltete ihn als einen Rundgesang, der ohne Anfang war und ohne Ende.
Als sie schließlich auch noch den Rhythmus um eine Winzigkeit verschob, sperrte Achmed plötzlich seine Augen weit auf. Das Herz hatte einen Satz gemacht, und es ging eine mächtige Flutwelle durch den Ozean des Schlangenblutes. Achmed zwinkerte wie wild.
Rhapsody achtete nicht auf ihn. Sie war mit all ihren Sinnen auf das Lied konzentriert, das ein Teil ihrer selbst geworden war. Sie spielte weiter die Harfe und änderte die Tonart um einen weiteren Halbton.
Die Tunnelwand zitterte, als sich die große Bestie einmal kurz im Schlaf regte. Die Luft wurde merklich kälter, der Herzschlag verlangsamte sich. Achmed schloss die Augen und seufzte; allzu gern hätte er das gefährliche Spiel abgebrochen.
Es waren schon mehrere Stunden vergangen, als Rhapsody endlich aufstand. Sie war völlig erschöpft, spielte aber weiter und kehrte unterdes an den Tunneleingang zurück.
Samoht, sagte sie, an ihr Instrument gerichtet. Spiel auf ewig weiter.
Der Harfenklang setzte sich fort, auch als ihre Hand von den Saiten abließ. Immer und immer wieder ertönte der Refrain. Vorsichtig legte Rhapsody das Instrument auf den Boden ab und trat zurück. Es spielte von selbst weiter. Samoth.
Rhapsody war schrecklich müde, riss sich aber zusammen und eilte zu Achmed, der die Augen wieder geschlossen hatte. Auf die Zehenspitzen aufgerichtet, sang sie ihm seinen Namen ins Ohr.
»Achmed die Schlange, warm; komm zurück.« Achmed blinzelte, rührte sich aber nicht. Die gesungene Aufforderung blieb ohne Wirkung auf ihn.
Erschöpft wie sie war, konnte sich Rhapsody kaum mehr auf den Beinen halten. Sie packte ihn aber bei den Händen und zerrte mit der ganzen, ihr verbliebenen Kraft an ihm.
»Komm, bitte.«
Aber er hörte sie nicht. Verzweifelt versuchte sie, ihn von der Tunnelmündung wegzuschleifen, doch all ihr Zerren führte nur dazu, dass Achmeds gefrorener Körper umkippte und der Länge nach auf dem harten Boden aufschlug.
Tränen stiegen ihr in die Augen, doch allein das Weinen strengte sie so sehr an, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Grunthor. Sie musste Grunthor rufen.
Mit Tränenverschleiertem Blick stolperte sie zur Wurzel zurück, die sie mit letzter Kraft erreichte. Dann aber brach sie auf der schimmernden Oberfläche zusammen. Außer Stande, sich zu erheben, lag sie da, das Ohr am summenden Boden. Das Lied der Wurzel schenkte ihr Erleichterung und Trost. Rhapsody holte tief Luft. Es war nicht das erste Mal, dass ihr die Musik neue Kraft geschenkt hätte. Sie stimmte ihren Namen gebenden Grundton an, ela, und versuchte, ihn mit der tönenden Weise des Baums in Einklang zu bringen.
Nach einer Weile fühlte sie sich so weit erholt, dass sie zumindest aufstehen konnte. Grunthor war bestimmt ganz in der Nähe. Sie musste ihn finden, und zwar rasch.
Das Lied der Wurzel im Ohr, plagte sie sich mit gesenktem Kopf Schritt für Schritt vorwärts, bis sie plötzlich von einer schweren Hand aufgehalten wurde.
»Gnädigste, was ist?«
»Achmed«, stieß sie hervor und blickte zu Grunthor auf, dem der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand. »Hilf mir, ihn zurückzuholen.«
Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, nahm der Riese Rhapsody in seine Arme und rannte den Weg zurück, den sie gekommen war.
Achmed lag immer noch reglos am Boden, als die beiden den Eingang zum Tunnel erreichten. Rhapsody betastete sein Gesicht, suchte nach Lebenszeichen und war überglücklich zu sehen, wie aus der erstarrten Maske die ihr nun schon vertrauten mürrischen Züge zum Vorschein traten. Der Bolg-Sergeant hatte inzwischen seinen schweren Mantel abgelegt, um ihn dem Gefährten überzuziehen, wozu er ihn vom Boden hob, aufrichtete und den steif gefrorenen Körper an seine Brust lehnte.
»Kommst du allein klar, Herzchen?«, fragte Grunthor.
Rhapsody nickte, ohne Achmed aus dem Auge zu lassen, in dessen Gesicht langsam ein Hauch von Farbe zurückkehrte. Bald schien es, dass er die Glieder wieder aus eigener Kraft bewegen konnte. Und tatsächlich: Er beugte sich ein Stück nach vorn und flüsterte ihr ins Ohr.
»Sieh nur.«
Sie drehte sich um und starrte in den Tunnelabschnitt, durch den nun Lichtstrahlen drangen, so dünn wie Spinngewebe. Mit jedem Refrain bildete sich ein neuer, bogenförmiger Lichtstrahl.
»Die Klänge gefrieren«, murmelte sie fasziniert.
Mit jeder neuen Runde wurden die Strahlen dicker, die Töne des Liedes lauter. Sie lagen inzwischen drei Halbtonschritte höher als zu Anfang und waren, wie Rhapsody hoffte, dazu angetan, den Namen für den Dämon unkenntlich zu machen. Dem tönenden Kehrreim entsprangen immer weitere seidene Strahlen. Und sie alle schwangen wie die Saiten der Harfe in Resonanz zur Melodie, aber jeweils um Sekundenbruchteile versetzt.
»Bald wird hier alles schrecklich durcheinander klingen«, meinte Rhapsody.
Grunthor nickte. Schon jetzt hörte es sich an, als wäre einem Orchester der Dirigent abhanden gekommen, worauf nun jeder Musiker sein eigenes Tempo durchzusetzen versuchte.
»Komm, Herzchen, lass uns von hier verschwinden«, sagte er.