Die Eingangstür zum Anwesen des Fürbitters war uralt und dick und mit Schnitzereien versehen, die Rhapsody sogleich an zu Hause erinnerten.
Die Türfüllung hatte früher einmal ein Bild aus Goldblatt geschmückt, die Darstellung eines Drachen oder anderen mythischen Tieres, wovon aber kaum mehr etwas zu erkennen war. Wind und Wetter hatten die Oberfläche inzwischen längst auf ihre Weise gestaltet. Gut zu sehen war hingegen in der rechten oberen Ecke ein Hexenzeichen, das sich von allen anderen, die Rhapsody bislang erspäht hatte, deutlich unterschied. Es war ein aus einer Spirale entworfener Kreis.
Khaddyr klopfte laut mit seinem Stecken an die Tür, wartete einen Augenblick und wollte gerade ein zweites Mal anklopfen, als die Tür plötzlich geöffnet wurde.
In der Eingangshalle stand eine Frau mittleren Alters, ein Halbblut wie Rhapsody, aber von so dunkler Hautfarbe wie die Waldlirin der Insel. Augen und Haare hatten die Tönung der Borke eines Kastanienbaums. An den Schläfen zeigten sich erste graue Schatten.
Sie trug ein langes Gewand aus ungefärbter Wolle, ähnlich denen, die Rhapsody vordem gesehen hatte. Khaddyr zugewandt, verbeugte sich die Frau ehrfurchtsvoll und richtete dann den Blick auf seine Begleitung. Ihr fiel die Kinnlade herunter, und sie riss die Augen auf. Rhapsody errötete. Ich muss schrecklich aussehen, dachte sie und schämte sich.
Khaddyr kniff die Brauen zusammen und räusperte sich hüstelnd. »Auch dir einen schönen Abend, Gwen. Ist Seine Gnaden zu Hause?«
Die Frau blinzelte und lief rot an. »Verzeiht mir, Vater. Und auch Euch, Fräulein, bitte ich um Entschuldigung. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Bitte einzutreten.« Sie trat zur Seite, um Khaddyr vorbeizulassen, der Rhapsody beim Ellbogen ins Haus führte.
Die beiden folgten Gwen über buntscheckiges Mosaik durch die mit edlen, polierten Hölzern und Schnitzereien geschmückte Halle. Vor der letzten Tür blieb sie stehen, klopfte zurückhaltend, sperrte die Tür dann einen Spaltbreit auf und rief: »Euer Gnaden?«
»Ja?« Die Stimme, die da antwortete, war wohltönend und kultiviert.
»Ihr habt Gäste, Hochwürden.« Gwen richtete ihren Blick wieder auf Rhapsody.
»Ich bin’s, Euer Gnaden«, sagte Khaddyr, und an Gwen gewandt: »Gaff nicht so, das gehört sich nicht.« Die Frau machte hastig auf dem Absatz kehrt.
Wenig später schwang die Tür zur Gänze auf, und Khaddyr führte Rhapsody in einen wohnlich eingerichteten Raum, eine kleine Kammer bloß, aber mit einem großen, bis zur Decke reichenden offenen Kamin, in dem lautlos ein Feuer brannte. Wie zur Begrüßung loderten die Flammen auf, als sie den Raum betrat, und sanken dann wieder auf ihr altes Maß zurück.
Die Kammer war voll von eigentümlichen Gegenständen, Landkarten und Schriftrollen. Hohe Bücherregale säumten drei der Wände. Mehrere bequeme Sessel standen rings um einen niedrigen runden Tisch, dessen Platte aus einem dicken Baumstamm herausgeschnitten war. Zur Einrichtung zählten ferner eine Vitrine und noch andere Möbelstücke, die im Schatten lagen und erst auf den zweiten Blick ins Auge sprangen.
Leise schloss sich die Tür hinter ihnen. Da stand ein dünner, älterer Herr in einem einfachen grauen Gewand. Er hatte ein gutmütiges, runzeliges Gesicht mit freundlichen Augen, dichten weißen Brauen und einem fein säuberlich getrimmten Schnauzbart, der ebenso dicht und weiß war. Trotz der etwas schwächlich wirkenden, großen Gestalt schien der Alte bei bester Gesundheit zu sein. Die vom Wetter gegerbte Haut ließ erkennen, dass er die größte Zeit seines Lebens im Freien zugebracht hatte.
»Schau an«, sagte der Alte. »Wen haben wir denn da?«
»Euer Gnaden, diese Frau ist aus dem Frost von Tref-Y-Gwar-theg zu mir gekommen«, antwortete Khaddyr respektvoll. »Sie spricht unsere Sprache nicht, scheint aber doch einiges zu verstehen. Wie wir besingt sie den Sonnenaufgang, allerdings ohne Worte. Ihre Stimme klingt überweltlich schön. Ich dachte, Ihr könntet Euch für sie interessieren. Mir ist sie ein Rätsel. Vielleicht ist sie ja eine Dryade oder Sylphe oder irgendein anderer Naturgeist, der Euch bekannt sein könnte. Wenn denn einer Bescheid weiß, dann seid Ihr es.«
Rhapsody starrte Khaddyr verwundert an. Was sie als Erstes hatte aufmerken lassen, war der Name der Ortschaft: Tref-Y-Gwar-theg. In der Sprache der Insel bedeutete dieser Name nichts anderes als Viehdorf.
Seine anschließende Bemerkung aber versetzte ihr einen regelrechten Schock. Anfangs hatte sie geglaubt, dass ihr die Leute aus dem Ort deshalb nachgelaufen seien, weil ihnen womöglich noch nie eine Lirin zu Gesicht gekommen war. Allerdings hatte Gwens Person diese Vermutung bereits widerlegt. Doch warum sollte der Priester sie für einen Naturgeist halten? Sie dachte zurück an Achmeds und Grunthors unbeholfene Versuche, ihr zu erklären, auf welche Weise das Feuer ihr Äußeres verändert hatte. Anscheinend war sie wirklich von ganz außergewöhnlichem Aussehen. Der alte Mann schmunzelte amüsiert. »Vielen Dank, Khaddyr.« Er ging ein paar Schritte auf sie zu und sah ihr ins Gesicht. »Mein Name ist Llauron«, sagte er ohne Umschweife und in freundlichem Tonfall. »Wie soll ich dich nennen, liebes Kind?«
»Rhapsody«, antwortete sie. Khaddyr zuckte vor Schreck zusammen.
»Ich wusste gar nicht, dass du sprechen kannst«, sagte er.
»Manchmal kommt’s einfach nur darauf an, die richtigen Fragen zu stellen, nicht wahr, Rhapsody?«
Die dunkle, vornehme Stimme des Alten hatte einen entwaffnend sanften Ton, der ihr ein Lächeln entlockte.
»Ja.«
»Wo kommst du her?«
Rhapsody zog die Stirn in Falten und suchte nach einer Antwort. Es war verabredet worden, dass sie sich bedeckt halten sollte, doch wollte sie auch nicht lügen, und außerdem haperte es bei ihr noch allzu sehr mit diesem fremden Dialekt. »Ich weiß nicht, wie der Ort in Eurer Sprache heißt«, antwortete sie vorsichtig. »Jedenfalls liegt er sehr weit entfernt.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte der Fürbitter. »Aber mach dir keine Sorgen. Kann ich dir etwas zu essen anbieten? Oder möchtest du vielleicht ein Bad nehmen?«
Ihr Gesicht leuchtete auf – und mit ihm auch das Feuer. Die Flammen tanzten vor Vergnügen. »Ja, ein Bad wäre wundervoll«, sagte sie. Der Wunsch danach war größer als ihre Vorsicht.
Llauron öffnete die Tür seiner Studierkammer. »Gwen?«
Die Halb-Lirin tauchte wieder auf. »Ja, Euer Gnaden?«
»Das ist Rhapsody. Sie wird unser Gast sein, zumindest für heute Abend. Bitte, bereite ihr ein heißes Bad mit viel Seife, und lass Vera etwas zu essen für sie machen.« Die Dienerin nickte und ging. Llauron wandte sich den beiden wieder zu. »Nun, das wäre geregelt. Und wie wäre es mit einem Schlückchen Tee?«
»Ja, bitte«, antwortete Rhapsody.
»Dagegen hätte auch ich nichts einzuwenden, Euer Gnaden.«
Llauron deutete auf die Sessel, hieß die beiden Platz zu nehmen, und hängte einen Kessel voll Wasser über das Feuer im Kamin. Dann holte er drei Tassen aus einer Vitrine neben einem der Glasfenster und stellte sie auf den Tisch. Als das Wasser zu kochen anfing, nahm er den Kessel vom Feuer und füllte eine Kanne aus Porzellan, in die er vorher ein paar Teeblätter gegeben hatte. Schließlich setzte er sich in den Sessel, der Rhapsody gegenüber stand.
»Nun, Rhapsody, ich hoffe, Khaddyr war dir ein guter Gastgeber, auch wenn er es versäumt hat, dir ein Bad anzubieten.«
Khaddyr zeigte sich zerknirscht. »Es tut mir Leid, Fräulein«, sagte er, »aber ich wollte dir nicht zu nahe treten, dich nicht in Verlegenheit bringen.«
Llauron schmunzelte. »Ach, guter Freund, Ihr habt doch gewiss schon genug Lirin kennen gelernt, um zu wissen, dass sie streng auf Reinlichkeit achten.« Er schenkte den Tee aus und reichte einen kleinen Honigspender herum.
»Lirin?«, fragte Khaddyr verwundert.
»Halb-Lirin, würde ich vermuten. Hab ich Recht, liebes Kind? Ein Elternteil von dir war bestimmt ein Liringlas.«
Rhapsody nickte. »Ja, meine Mutter.« Sie nippte an der Tasse und ließ sich den Tee schmecken.
»Dachte ich’s mir doch.«
Es klopfte an der Tür, die sich gleich darauf öffnete. »Das Bad ist fertig, Euer Gnaden.«
Llauron stand auf. »Ich kann mir vorstellen, dass du dir zurzeit nichts sehnlicher wünschst als ein Bad, hab ich Recht, mein liebes Kind?«
»Ja«, antwortete sie und ließ einen so überzeugenden Seufzer folgen, dass der Fürbitter darüber zu kichern anfing.
»Viel Vergnügen. Gwen, erfüll ihr bitte jeden Wunsch und sorg dafür, dass ihre Kleider gewaschen werden. Du hast doch bestimmt ein paar frische Sachen, die sie tragen kann, bis die eigenen getrocknet sind, oder?«
»Ja, Euer Gnaden.«
»Ausgezeichnet.«
Rhapsody folgte Gwen nach draußen. Im Flur und auf der Treppe konnte sie das Gespräch zwischen den Geistlichen noch eine Weile mit anhören.
»Eine Dryade?«, sagte Llauron offenbar erheitert. »Also wirklich.«
»So eine Lirin ist mir noch nie über den Weg gelaufen«, entgegnete Khaddyr in verteidigendem Tonfall.
»Das mag ja sein, aber muss ich Euch daran erinnern, dass es keine Naturgeister mehr gibt? Die letzten sind vor Jahrhunderten mit der Insel untergegangen ...«
Die Stimme brach ab, als Gwen die Badezimmertür ins Schloss warf.
Das Badezimmer enthielt eine große Wanne aus Porzellan, die mit dampfendem und nach Kräutern duftendem Wasser gefüllt war. Fenchel und Eisenkraut, dachte Rhapsody und drehte sich nach Gwen um, die den Blick auf sie gerichtet hielt und keine Anstalten machte, sie allein zu lassen. Merklich befangen zog Rhapsody ihre schmutzigen Kleider aus. Sie trug nur noch das Medaillon an der Kette um den Hals, als sie in die Wanne stieg und in das heiße Wasser eintauchte, was ihr ein so wohliges Gefühl bereitete, dass sie vor Freude hätte aufjauchzen können. Sie schaute sich um und sah Gwen mit ihren Kleidern im Flur verschwinden und die Tür hinter sich zuziehen.
Mit einem Seufzer glitt sie noch tiefer ins Wasser und spürte förmlich, wie sich der Schmutz aus den Poren der Haut löste. Während sie sich die Haare wusch und den Körper schrubbte, blieb das Wasser angenehm warm, obwohl es allmählich eine hässlich graue Farbe annahm. Es war, als würden alle Anspannung und Strapazen der endlos langen Reise mit dem Schmutz von ihr abfallen.
Sie trocknete sich gerade mit dem großen, flauschigen Handtuch ab, das neben der Wanne bereit lag, als Gwen mit einem weißen wollenen Umhang zurückkehrte, der der Tracht der Filiden ganz ähnlich sah, die sie auf der Waldlichtung gesehen hatte. Die Dienerin machte sofort wieder kehrt und verließ das Badezimmer, um Rhapsody Gelegenheit zu geben, sich in Ruhe anzuziehen. Der war es wiederum eine Lust, in ein frisches Kleidungsstück schlüpfen zu können. Dann warf sie einen Blick auf das Schwert und dachte, dass es doch wohl lächerlich aussähe, wenn sie es zu der Robe gürten würde. Also beschloss sie, die Waffe in der Hand zu tragen, zumal sie auf die Schnelle kein Versteck für sie fand.
Sie wartete noch eine Weile, doch Gwen ließ sich nicht mehr blicken. Rhapsody öffnete die Tür und spähte in den Flur hinaus. Da war niemand zu sehen. Langsam ging sie über die Treppe nach unten, schaute sich dabei aufmerksam um und nahm von jeder Einzelheiten Notiz, angefangen von den blank polierten Holzarbeiten bis hin zu den ungewöhnlichen Kunstwerken, die die Wände schmückten. Die Tür zur Studierkammer stand offen. Sie blieb davor stehen und rief: »Hallo?«
Llaurons Stimme antwortete wie von fern. »Ah, du bist fertig. Komm nur herein, mein liebes Kind.«
Rhapsody trat ein und sah sich allein in der Kammer. In der Regalwand gegenüber der Feuerstelle stand eine Tür offen, die ihr vorher noch nicht aufgefallen war. Sie durchquerte den Raum, bemerkte, dass das Feuer im Kamin ihr zum Gruße wieder aufflammte, und ging weiter bis in die angrenzende Kammer.
Die war dem Studierzimmer sehr ähnlich – bis auf das eine zentrale Möbelstück: einen großen, schmuckvollen Schreibtisch, der einen Großteil des Raumes einnahm und scheinbar wahllos voll gepackt war mit Papieren und Schriftrollen. Auch hier gab es eine offene Feuerstelle, die allerdings deutlich kleiner war und von zwei verglasten Fenstern flankiert wurde. Glas war eine Kostbarkeit, die Rhapsody in ihrer alten Welt nur selten gesehen hatte und seit ihrer Ankunft in der neuen Welt zum ersten Mal in diesem Haus. Llauron erhob sich aus einem großen Sessel hinter dem Schreibtisch und lächelte ihr zu.
»Na, fühlst du dich jetzt besser?« Sie nickte. »Gut, gut. Hast du die Kräuter im Wasser wieder erkannt?«
Rhapsody dachte einen Moment lang nach. Sie erinnerte sich an Lavendel, Fenchel, Eisenkraut und Rosmarin, wusste aber nicht, wie diese Kräuter in dem fremden Dialekt bezeichnet wurden, und wollte die ihr bekannten Namen lieber für sich behalten, um keinen Hinweis auf ihre Sprache zu geben. »Ja«, sagte sie.
Der Fürbitter lachte. »Sehr gut. Du bist also vom Fach, wie es scheint.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich kenne mich nur ein bisschen mit Pflanzen aus, nicht viel.«
»Nun, wenn du willst, kannst du einiges bei uns dazulernen. Lark, unsere erste Herbalogin, ist ebenfalls Lirin, wenn auch kein Liringlas.«
»Das wäre bestimmt sehr interessant.«
»Allerdings. Für gewöhnlich gibt Gwen auch eine Prise Felssalz ins Wasser. Das tut den Muskeln gut. Ich hoffe, dass es auch dir gut getan hat.«
Rhapsody lächelte. »Ja, vielen Dank. Ich fühle mich viel besser.«
Llauron wies mit geöffneter Hand auf einen bequem aussehenden Sessel und bot ihr an, darin Platz zu nehmen. »Khaddyr lässt sich entschuldigen. Er wird im Spital gebraucht. Vielleicht möchtest du mir von den vielen Fragen, die du sicherlich hast, die eine oder andere stellen. Ich muss gestehen, dass auch ich etliche Fragen habe. Setz dich ans Feuer, liebes Kind, und nimm nach Belieben von dem, was da auf dem Tablett angerichtet ist.«
Rhapsody gehorchte und atmete tief durch, um zu verhindern, dass das Feuer auf ihre Nervosität reagierte. Doch es half nichts. Die Flammen loderten auf, als sie sich in den Sessel setzte. Llauron aber schien davon keine Notiz zu nehmen.
»Was ist das für ein Ort hier?«, fragte sie, stets bemüht, den ihr fremden Dialekt zu imitieren. Llauron schmunzelte. »Du bist hier in meinem Haus, genauer gesagt: der Burg des Fürbitters der Filiden, der Glaubensbruderschaft, die den einen Gott, den Lebensspender, verehrt und ihm dient, indem sie sich um die Natur kümmert. Mein Haus steht am Scheitelpunkt des Kreises; das ist der Bezirk, in dem unser Orden lebt, lernt und sich der Pflege des Großen Weißen Baums widmet. Ich nehme an, du hast ihn auf dem Weg hierher schon bestaunen können. Er ist nicht zu übersehen.«
Rhapsody nickte. »Der Name des heiligen Waldes, in dem wir uns befinden, ist Gwynwald.«
Rhapsody lehnte sich zurück. Sie hatte weder diesen noch die Namen der anderen Orte jemals gehört. Llauron bemerkte, dass sie enttäuscht war. »Kannst du Landkarten lesen?«
»Ein wenig. Mit Seekarten kenn ich mich besser aus.«
»Ausgezeichnet. Dann komm doch einmal zu mir herüber.« Der alte Mann stand auf und führte sie vor einen eigentümlichen Globus, der in der Ecke des Zimmers an einem Stativ hing. Auf diesem Globus waren die Landmassen der bekannten Welt dargestellt. Llauron nahm die Kugel in beide Hände, drehte sie und machte im Norden auf einen Kontinent mit langer, zerklüfteter Westküste aufmerksam.
»Dort sind wir«, sagte er und zeigte auf eine Stelle landeinwärts. Rhapsody sagte nichts. Sie kannte das Land aus ihren Studien, hatte es aber bislang für unbewohnt gehalten.
Die Insel Serendair lag genau gegenüber auf der südlichen Halbkugel. Obwohl sie an diese Möglichkeit schon gedacht hatte, schnürte es ihr die Kehle zu, hatte sie doch gehofft, nicht ganz so weit von zu Hause entfernt zu sein.
»Diese runde Karte... darf ich mal sehen?«, fragte sie zögerlich, denn sie tat sich mit der Sprache schwer.
»Natürlich. Sie heißt übrigens Globus.« Llauron schwenkte ihr die Kugel am Stativ zu.
Langsam drehte Rhapsody den Globus in der Hand, entdeckte Orte, von denen sie schon gehört hatte, und viele andere, die ihr gänzlich unbekannt waren. Sie musterte die Kontinente sehr genau, versuchte aber gleichzeitig, gelassen zu wirken, obgleich ihr das Herz bis zum Hals schlug. Die Beschriftung der einzelnen Orte entsprach, ausgenommen einiger weniger Zeichen, der Schrift, die ihr vertraut war. Sie ließ sich viel Zeit, bis sie die Kugel endlich so weit herumgedreht hatte, dass Serendair zu sehen war. Die Insel befand sich genau da, wo sie hingehörte, doch war sie grau eingefärbt, und anstelle ihres ureigenen Namens stand da Die Versunkene Insel zu lesen.
Ihre Hände wurden ganz kalt. Die Versunkene Insel? Es konnte kaum überraschen, dass die Kartografen hierzulande nur wenig über die andere Seite der Welt wussten. Aber warum bezeichneten sie die Insel als versunken?
Schnell huschten ihre Blicke über den Globus. Dabei fiel ihr nicht nur der ungewöhnliche Name auf, Serendair war außerdem die einzige grau eingefärbte Landmasse. Sie drehte die Kugel so weit zurück, dass wieder jene Stelle zu sehen war, auf die Llauron als ihren jetzigen Aufenthaltsort hingewiesen hatte.
Der Fürbitter beobachtete sie mit unverhohlener Neugier. »Komm, ich will dir etwas zeigen.« Er trat vor einen großen Stapel Landkarten, der auf einem niedrigen Schränkchen lag, und stöberte darin herum, bis er das Gesuchte gefunden hatte und ihr vorlegte.
»Hier ist der Baum, in der zentralen Waldregion nahe der Südostgrenze des Waldes. Gwynwald selbst ist ein heiliger Staat und als solcher unabhängig von Roland, unserem Nachbarn im Süden und Osten.«
Rhapsody folgte mit den Augen der Bewegung seines Fingers und sah, dass die an der Küste gelegene Provinz im Süden des Waldes auf den Namen Avonderre lautete und diejenige im Osten als Navarne bezeichnet war. Ganz weit im Westen, auf der anderen Seite des großen Ozeans, lag ein Land, das wie die anderen Gebiete, auf die der Alte aufmerksam machte, grün eingefärbt war. Dieser Teil des Kontinents jenseits des Meeres hieß Manosse.
»Sind Avonderre und Navarne Teil von Roland?«
»Ja, so auch die Provinzen Canderre im Nordosten, Yarim östlich davon, Bethanien, im Osten von Navarne, wo der königliche Thron steht, und Bethe Corbair, östlich von Bethanien.«
Interessiert studierte Rhapsody die Karte. Avonderre, Navarne, Bethania, Canderre, Yarim und Bethe Corbair – sie waren samt und sonders Provinzen von Roland. Darüber hinaus gab es noch weitere grün markierte Gebiete, und das waren diejenigen, auf die es Llauron offenbar ankam.
Der Karte ließ sich entnehmen, dass sich Roland wie eine große Klammer um eine eigenständige Region an der Ostküste legte, um ein Hügelland im Süden von Gwynwald. Im Osten breitete sich eine weite Ebene aus, das so genannte orlandische Plateau.
Dieses Plateau reichte bis an die Ausläufer einer schroffen, von tiefen Tälern eingeschnittenen Gebirgskette heran, die Manteiden. Das Gebiet rund um die Manteiden schien früher einmal Canrif geheißen zu haben, doch dieser Name war auf der Karte durchgestrichen und handschriftlich durch Firbolg ersetzt worden. Rhapsody musste unwillkürlich schlucken, als sie dieses Wort las. Sie zeigte auf ein Land im Süden, das an Bethanien und Bethe Corbair angrenzte. Es bestand zu einem großen Teil aus Bergen, die allem Anschein nach zu den Manteiden gehörten und weiter südlich in eine weite, hoch gelegene Wüste ausliefen. Auch dieses Land war grün eingefärbt. »Gehört das auch zu Roland?«, fragte sie.
»Das ist Sorbold. Nein, zu Roland gehört es nicht. Sorbold ist selbstständig.«
»Und das hier?« Sie deutete auf das mit dem Wort Firbolg bezeichnete Gebiet.
Llauron lachte. »Meine Güte, nein. Das ist das Land der Firbolg, ein durch und durch düsteres, unheimliches Land.«
Rhapsody nickte. Wenn da lauter Firbolg lebten, konnte sie sich nur zu gut vorstellen, was Llauron mit seinen Worten zum Ausdruck bringen wollte. Sie fuhr mit dem Finger die Südgrenze Rolands entlang bis zu der letzten grün schattierten Fläche, die keine nähere Bezeichnung aufwies. »Warum hat dieses Gebiet denn keinen Namen?«
Lauron strich die Karte glatt, die sich immer wieder zusammenrollen wollte. »Das sind die nicht angeschlossenen Gebiete, die früher einmal Teil der cymrischen Länder waren.« Die Stimme des Alten klang wie beiläufig, doch während er dies sagte, behielt er Rhapsody aufmerksam im Blick. Rhapsody rührte keine Miene. Der Name bedeutete ihr nichts. »Cymrische Länder? Sind das die grün gekennzeichneten?«
»Ja, Roland und Sorbold wie auch die gegenwärtig nicht angeschlossenen Länder Manosse jenseits des Meeres und die Firbolg-Wüstenei. Auch in diesen Gebieten hatten sich zu ihrer Zeit die Cymrer niedergelassen – Cymrer, geschrieben mit ›y‹, obwohl der so bezeichnete Laut eigentlich ein ›u‹ ist.«
»Wer waren diese Cymrer?«
Llauron gab sich verwundert. »Hast du denn noch nie von ihnen gehört?«
»Nein.« Ihre Hände fingen ein wenig an zu zittern, was dem Alten nicht entging.
Tröstend tätschelte er eine ihrer Hände und sagte: »Die Cymrer waren Flüchtlinge, die ihre Heimat, die Insel Serendair, verlassen mussten, um nicht mit ihr unterzugehen.«