»Schwanger? Die Drachenfrau erwartete ein Kind?«
Llauron musste über Rhapsodys Miene lachen.
»Eine amüsante Vorstellung, nicht wahr?«
»Der Ansicht bin ich nicht«, sagte sie. »Ich finde das sehr traurig. Sie hat sich bestimmt schrecklich allein gelassen gefühlt, zumal sie eine Gestalt angenommen hatte, die ihr fremd war.« Die Sängerin verstummte, und das Feuer ging merklich zurück.
»Anzunehmen. Das hat sie wahrscheinlich auch dazu verleitet zu tun, was sie getan hat.«
»Und was war das?«, hakte Achmed nach, dem der hinhaltende Erzählstil des Alten nicht passte.
»Als sie sah, dass Merithyn nicht unter den Flüchtlingen der Ersten Flotte war, setzte Elynsynos ihre Kinder am Fuß des Baumes aus und ließ sie im Stich.«
»Kinder?«, fragte Grunthor, der lange geschwiegen hatte und sich nun so plötzlich einschaltete, dass Rhapsody vor Schreck zusammenfuhr. »Mehr als eins?«
»Ja, sie hatte inzwischen drei Mädchen zur Welt gebracht, Drillinge, wenn auch keine eineiigen. Das kann eigentlich nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass sie in ihrer natürlichen Gestalt eine Echse war. Als die Cymrer zu dem Baum kamen, fanden sie drei junge Frauen dort vor. Weil von der Mutter allein gelassen, waren sie umso schneller groß geworden. Drachen sind, wie man hört, außerordentlich widerstandsfähig. Die Frauen ähnelten ihrem Vater, waren wie er groß gewachsen und von goldener Haut. Und weil sie wie Seren aussahen, fühlten sich die Aussiedler der Ersten Flotte sofort verwandtschaftlich mit ihnen verbunden. Ihr könnt euch gewiss denken, dass diese Frauen, die der Verbindung zweier Vertreter von Erstgeborenenrassen entsprangen, mit besonderen Kräften und Fähigkeiten ausgestattet waren. Weil ihr Vater mehrmals den Meridian überquert hatte, standen sie sowohl mit der Zeit als auch mit den anderen Elementen in Verbindung. Als Seherinnen konnten sie über den Augenblick hinaus schauen, waren aber wegen dieser Gabe leider verrückt, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Manwyn, die Jüngste, war die Künderin der Zukunft. Es heißt, dass sie von allen dreien die Verrückteste gewesen sei, denn das Wissen um die Zukunft ist die mächtigste und bedrohlichste aller Wunderkräfte. Den Legenden nach war sie meist in Trance und redete mit sich selbst. So groß ihre Fähigkeiten auch gewesen sein mochten, waren sie doch häufig nutzlos, weil sich kaum unterschieden ließ, ob ihre Prophezeiungen wahr oder nur irrsinniges Geschwätz waren. Rhonwyn, die mittlere Schwester, war die Seherin der Gegenwart. Sie soll sehr liebenswürdig gewesen sein und auch durchaus klar im Kopf, hatte aber überhaupt kein Erinnerungsvermögen, sodass ihr alle Einsichten über die Gegenwart schon im nächsten Moment entschwunden waren. Anwyn, die Älteste der drei, war als Einzige in der Lage, die Flüchtlinge zu begrüßen. Sie bewahrte die Geheimnisse der Vergangenheit, ein Wissen, das zwar weniger flüchtig und zusammenhanglos, aber umso gefährlicher war. So wusste sie unter anderem auch, woher die Cymrer stammten und warum sie gekommen waren. Sie hieß sie willkommen in dem Land, das ihrer Mutter gehört hatte. Weil sie in ihr das lebendige Glied zwischen der alten Welt des Vaters und der neuen ihrer Mutter sahen, machten die Cymrer sie zu ihrer Schutzpatronin. Sie ließen sich nieder und lebten in friedlicher Nachbarschaft mit den Lirin von Realmalir. Kommen wir nun zur Zweiten Flotte. Im Unterschied zur Ersten, der durch den Orkan am übelsten mitgespielt worden war, hatte sie, weil weit hinter den anderen zurück segelnd, das Unwetter kommen sehen und größere Verluste abwenden können. Doch es verschlug die Schiffe in eine andere Richtung. Als der Sturm nachließ, waren sie dermaßen weit vom Kurs abgekommen, dass eine Korrektur nicht mehr in Frage kam. Es trieb sie wieder zurück, auf den Meridian zu, den sie schon überquert hatten. Da kam Land in Sicht, und anstatt die Suche nach Merithyns Paradies fortzusetzen, beschloss ihr Anführer, der große Ritter MacQuieth, die Reise zu beenden und das Land Manosse zu besiedeln. Sie und ihre Nachkommen leben noch heute dort.«
Bei der Nennung des Namens MacQuieth lief allen dreien, der Sängerin wie den beiden Firbolg, ein Schauer über den Rücken. In Serendair war MacQuieth bekannt gewesen wie ein bunter Hund. Achmed und Grunthor wussten sogar noch besser über ihn Bescheid als Rhapsody.
»MacQuieth war der Kirsdarkenvar, der Träger des legendären Wasserschwertes, der Kirsdarke. Darüber hinaus soll er auch der Meister eben dieses Elementes Wasser gewesen sein. Vielleicht war er deshalb auf dem Meer verschont geblieben. Und natürlich war er ein großer Held und Favorit des Königs, der Mann, der Tsoltan, den Anführer des Erzfeindes während des Großen Krieges, erschlagen hatte. Er...«
»Llauron, Augenblick, bitte«, unterbrach Rhapsody nervös, worauf Achmed die Brauen zusammenkniff und ungehalten schnaubte.
Doch sie achtete nicht auf ihn und bat: »Würdet Ihr noch einmal wiederholen, was Ihr da über Manosse gesagt habt? Sie, die Gruppe um MacQuieth, und ihre Nachkommen sind noch heute dort? Wie kann das sein, nach vierzehnhundert Jahren? Die erste Generation der Cymrer muss doch schon lange tot sein.«
Llauron lachte. »Das sollte man annehmen, nicht wahr? Typisch Sängerin: Immer wollen sie es ganz genau wissen. Nun, dann will ich’s dir erklären. Die erste Generation kam von einem jener fünf Orte, an denen die Zeit entsprungen ist, nämlich von der Insel Serendair. Sie überquerte den Meridian, also jene Kreislinie, die den Ablauf der Erdzeit markiert, und gelangte an einen anderen Ursprungsort der Zeit, in die Heimat der Drachen. Jedoch landete die Zweite Flotte woanders. Folglich hatte die Zeit keinen Einfluss mehr auf sie. Sie alterten nicht wie alle übrigen Sterblichen, sondern blieben so jung wie zu dem Zeitpunkt, da sie den Meridian überquert hatten. Ihre Kinder wuchsen allerdings ganz normal heran, bis sie ausgewachsen waren; und in dem Zustand verharrten sie dann, ohne älter zu werden.«
»Seid Ihr vielleicht eines dieser Kinder?«, fragte Achmed geradeheraus.
Llauron lachte laut auf. »Gütiger Himmel, nein. Aber zugegeben, manchmal wünschte ich mir ein so langes Leben und ebenso viel Kraft. Nein, so ist es leider nicht. Habt noch ein bisschen Geduld, ich bin gleich fertig mit der Geschichte der Zweiten Flotte. Ein kleiner Verband von Schiffen – Bemerkenswerterweise in der Mehrzahl besetzt von UrSeren und anderen Erstgeborenen – machte kehrt und reiste weiter nach Osten, denn ihre Besatzung war nicht zufrieden mit der Kolonie, die MacQuieth ausgesucht hatte. Man traf schließlich auf eine Insel, die zwischen den beiden großen Kontinenten gelegen war, ein von der Natur und vom Wetter begünstigtes Fleckchen Erde, ein wahres Paradies, in dem sie sich niederließen und fernab von ihren Landsleuten eine eigene Kolonie gründeten. Ihr Land ist Gaematria und wird allgemein auch Insel der Meeresmagier genannt. Bleibt nur noch die Dritte Flotte. Der von Gwylliam angeführte Verband wartete, bis auch der Letzte, der mitfahren wollte, von der Insel evakuiert war, und segelte dann im Ostwind nordwärts. Es trieb sie aber so stark nach Süden ab, dass sie weit entfernt von der Ersten Flotte an Land gingen – in einem Gebiet, das wir heute als neutrale Zone bezeichnen. Es war dies ein sehr unwirtliches Land, zum Teil ausgedörrte Ödnis, zum anderen Teil gebirgige Steppe. Schlimmer noch, es war bewohnt von Stämmen, die in den Fremden eine Bedrohung sahen und sie ein ums andere Mal ins Meer zurückzutreiben versuchten. Sie, die Cymrer der Dritten Flotte, hatten es von Anfang an sehr schwer, zu überleben und sich zu behaupten. Aber sie besaßen auch zwei große Vorteile: einmal in der Person von Gwylliam, der außerordentlich talentiert und bestens ausgebildet war als Architekt und Ingenieur. Dass die Gruppe um ihn überhaupt ansässig werden konnte, war in erster Linie seiner Führung und seinem Einfallsreichtum zu verdanken. Zum anderen kam ihnen Gwylliams weitsichtige, noch auf Serendair getroffene Entscheidung zugute, die Streitkräfte erst ganz zum Schluss einzuschiffen. Sie wurden von den beiden anderen Flotten nicht gebraucht und standen nun denen zur Verfügung, die sie am dringendsten nötig hatten. Damit war Gwylliam seiner Verantwortung, für die Sicherheit aller zu sorgen, voll und ganz gerecht geworden. Er hätte seine Sache gar nicht besser machen können. Rückschläge und Niederlagen waren ihm nicht anzulasten.«
»Hat es die denn gegeben?«, fragte Achmed und beugte sich interessiert vor.
Llauron schaute zur Seite. Als er wieder aufblickte, antwortete er mit ernster Miene: »Zumindest waren sie durch eine Prophezeiung angekündigt worden.«
»Eine Prophezeiung?«
Der alte Mann lächelte der Sängerin beruhigend zu, denn sie schien verstört. »Ja, es hatte eine gegeben, im cymrischen Zeitalter, noch vor dem großen Krieg, als Manwyn in Zungen von der Zukunft sprach, meist auf Versammlungen des cymrischen Rates. Ich muss mich auf Geschichtsquellen verlassen und weiß nicht, ob sie wirklich präzise sind. An die Texte aber erinnere ich mich ganz genau. Wollt ihr hören, was zu diesem Thema geschrieben steht?«
»Ja«, bat Rhapsody, der trotz der Wärme, die vom Lagerfeuer ausstrahlte, zunehmend kalt wurde.
»Nun, ich fürchte, ich habe zu weit vorgegriffen. Lasst mich also zuvor etwas weiter ausholen. Die Emigranten der Dritten Flotte schlugen ihre Widersacher bis an den Nordrand der Wüste von Sorbold zurück. Dort erhebt sich eine wild zerklüftete Gebirgskette, die das westliche Ende der damals bekannten Welt bildete. Die hinter diesem Gebirge versteckt liegenden Länder waren sehr fruchtbar und noch unbewohnt, und aus vielen Gründen, von denen ich soeben einige genannt habe, beschloss Gwylliam, dass dies der geeignete Ort zur Errichtung einer Kolonie sei. Er benannte dieses Gebiet mit dem cymrischen Wort für Jahrhundert, nämlich Canrif, denn man sagte allgemein, dass dort in nur hundert Jahren eine der größten Zivilisationen entstehen würde, die die Welt je gesehen hätte. Und in der Tat kam man diesem Ziel ziemlich nahe. Die Auswanderer der Dritten Flotte waren Vertreter unterschiedlichster Volksstämme mit jeweils eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen, doch Gwylliam schaffte es, alle gleichermaßen zufrieden zu stellen. Die Erdbewohner, also die Nain und die Gwadd, richteten sich in den endlosen Höhlen der Berge ein. Die Landmänner und -frauen fanden auf der Weiten Heide und noch tiefer im Versteckten Reich Gebiete, die sich für den Ackerbau und die Viehzucht eigneten, während die Lirin einen dunklen Wald für sich entdeckten, in dem sie sich häuslich niederließen. Gwylliam selbst baute eine prächtige Stadt inmitten der Berge und entwickelte leistungsstarke Maschinen, die die unterirdischen Gänge mit Frischluft versorgten und im Winter auch beheizten. Zusammen mit den Nain errichtete er riesige Schmelzöfen, in denen Stahl zum Aufbau seines Reiches und zur Herstellung von Waffen hergestellt wurden.«
»Wo liegen diese Berge«, fragte Achmed, »und wie heißen sie?«
»Sie liegen im Osten der Provinz Bethe Corbair, an der Grenze zu Roland, und erstrecken sich entlang der Nordgrenze von Sorbold. Bei den Cymrern heißen sie Manteiden; die Firbolg aber, ihre heutige Bewohnerschaft, nennen sie die Zahnfelsen.«
»Die Zahnfelsen?«, fragte Rhapsody ungläubig.
»Ja. Wenn du sie jemals zu Gesicht bekommst, wirst du auch verstehen, warum. Sie sehen so aus, wie sie heißen. Was einst der Stolz von Canrif war, ist nun das Reich der Firbolg – ein dunkles und abschreckendes Land.«
»Das will ich auch hoffen«, meinte Grunthor wie selbstverständlich.
Llauron schmunzelte und nippte an seinem silbernen Schwenker.
»Eines Tages dann, rund fünfzig Jahre nach ihrer Landung, trafen die Emigranten der Ersten und Dritten Flotte wieder zusammen. Die Freude war groß, aber auch die Verwirrung. Die Mitglieder der Ersten Flotte, von denen viele vormals Gwylliams Untergebene gewesen waren, sowie deren Nachkommen hatten Anwyn Treue und Gefolgschaft geschworen, die nun schon über ein halbes Jahrhundert ihre Herrin war. Über den Verbleib der Zweiten Flotte war ihnen nichts bekannt, und so wussten sie nicht mehr, wie sie sich nun verhalten sollten. Die Cymrer wünschten sich, wieder ein geeintes Volk zu sein, denn es war ja von Anfang an ihr Bestreben gewesen, den Fortbestand ihrer Kultur zu sichern und neue Länder unter ihre Herrschaft zu bringen. Die von Gwylliam und Anwyr beherrschten Gebiete erstreckten sich über Roland, Sorbold und Canrif. Obwohl Verbündete von Anwyn, wahrten die Lirin ihre Unabhängigkeit. Schließlich fand man zu einer friedlichen Lösung. Alle Cymrer trafen zu einer großen Versammlung zusammen, berieten einander und wählten Anwyn und Gwylliam zur Königin und zum König ihres vereinigten Reiches. Die beiden erkannten die Möglichkeiten einer neuen Dynastie und gingen den Bund der Ehe ein.«
»Liebten sie sich denn auch?«, fragte Rhapsody.
Der Fürbitter schaute ihr in die Augen; der Wind fuhr ihm durch das graue Haar. »Davon ist in den alten Berichten nicht die Rede«, antwortete er schließlich. »Immerhin führten sie das cymrische Reich zu einer Blüte, die bis heute ohne Vergleich geblieben ist. Ihre Herrschaft währte über 300 Jahre und galt als Garant für Frieden und Wohlstand.«
»Aber was hatte es mit dieser Prophezeiung auf sich?«, hakte Achmed nach.
»Ah ja. Den Namen Oelendra habe ich schon erwähnt, oder? In den alten Schriften ist davon die Rede, dass sie zu wahnhaften Vorstellungen neigte. Darum hatte eigentlich niemand damit gerechnet, dass man ihr die Führerschaft über die Erste Flotte anvertraute. Nach Merithyns Tod aber hatte es keine andere Wahl gegeben. Sie war überzeugt davon, dass dem Schiff von Gwylliam ein großes Übel gefolgt sei, und als der König und die Königin ihre Vermählung bekannt gaben, fragte sie Manwyn vor dem versammelten Rat, ob ihre Befürchtungen zuträfen. Manwyn antwortete mit folgender Prophezeiung:
Er geht als einer der Letzten und kommt als einer der Ersten, Trachtet danach, aufgenommen zu
werden, ungebeten,
an neuem Ort,
Die Macht, die er gewinnt, indem er Erste ist, Ist verloren, wenn er als Letzter in Erscheinung tritt.
Unwissend spenden die, die ihn aufnehmen, ihm Nahrung, In Lächeln gehüllt wie er, der Gast; Doch
im Geheimen wird die Vorratskammer vergiftet. Neid, geschützt von seiner eigenen Macht Niemals
hat, wer ihn aufnimmt, ihm Kinder geboren,
und niemals wird dies geschehen, Wie sehr er sich auch zu vermehren trachtet.
Es blieb lange Zeit still unter den vieren, ehe Grunthor endlich zu dem Schluss kam: »Keine Ahnung, was das bedeuten soll. Könntet Ihr uns nich ’nen Hinweis geben, Exzellenz?«
Llauron lächelte. »Ich weiß mir selbst keinen Reim darauf zu machen, mein Freund. Wie schon gesagt, Manwyn war verrückt und gab häufig nichts als Unsinn von sich. Aus diesem Grund schenkte ihr auch in diesem Fall niemand Beachtung. Im Rückblick aber scheint es, dass sie womöglich auf etwas Böses hinweisen wollte, das unter den Ersten von der Insel mitgereist war und, obwohl anfangs noch unbedeutend und harmlos, an Macht dazugewinnen und schließlich das Land unter seine Kontrolle bringen sollte.«
Rhapsody spürte, wie ihre Hände plötzlich ganz klamm wurden. »Und? Ist es dazu gekommen?«
Die Miene des Alten verriet Traurigkeit. »Das ist nicht eindeutig zu sagen, mein liebes Kind. Letztlich waren es Gwylliam und Anwyn selbst, die dem Goldenen Zeitalter der Cymrer ein Ende gesetzt und Tod und Verwüstung über das eigene Volk gebracht haben.«
»Wie?«, fragte Achmed.
»Mag sein, dass die beiden schon vor dem auslösenden Ereignis Probleme miteinander hatten. Das ist anzunehmen, denn solche Dinge kommen nicht von ungefähr. Kurzum, Gwylliam hat sie geschlagen. Über die Hintergründe ist aus den Quellen nichts zu erfahren, aber sie können eigentlich nur unbedeutend sein in Anbetracht der schrecklichen Folgen, die dieser Ehezwist auslöste. Er wurde später als der ›Schlimme Schlag‹ bezeichnet, und damit war wohl letzten Endes der Schlag gemeint, den das cymrische Volk erleiden musste. In ihrer Wut auf den König kehrte Anwyn in ihre Angestammten Länder im Westen zurück, mobilisierte ihre ursprünglichen Untertanen, die Mitglieder der Ersten Flotte, und verlangte von ihnen die Verteidigung ihrer Ehre. Damit war die Nation unwiderruflich gespalten, denn die erste Generation der Cymrer und ihre Nachkommen fühlten sich sowohl dem König als auch der Königin gegenüber loyal. Anwyn aber war ein Wyrmling, das heißt, sie hatte Drachenblut in ihren Adern und war nur durch Gwylliams Tod zu beschwichtigen. Als ihr Heer gegen seine Festung vorrückte, wurde auch Gwylliam blind vor Hass und schickte sich an, seine abtrünnige Frau und deren Verbündete zu vernichten. Die Schrecken der Folgezeit sind unmöglich in Worte zu fassen. Dazu fehlt euch die Geduld und mir der Mut. Es reicht, wenn ich sage, dass der Untergang der cymrischen Zivilisation so grauenvoll war wie ihr Aufstieg ruhmreich. Gwylliams Feldmarschall war ein brillanter, mitunter grausamer Mann Namens Anborn. Anborns Siege gegen die Erste Flotte und später auch gegen die Lirin, die sich auf Anwyns Seite geschlagen hatten, machten seinen Namen in deren Sprache zu dem am meisten gehassten überhaupt. Anwyns Streitkräfte waren ihrerseits für den Tod unzähliger Mitglieder der Dritten Flotte verantwortlich. Schließlich verwischten die Fronten, und es war nicht mehr auszumachen, wer die Oberhand hatte oder in die Knie gezwungen wurde; es war ein einziges großes Abschlachten. Wegen der Gräuel, die damals begangen wurden, schämen sich noch heutzutage die entfernten Nachkommen in den geteilten Ländern so sehr, dass sie ihre cymrische Abstammung am liebsten verschweigen.«
Achmed grinste. »Demnach würde also das Wort Cymrer hierzulande so viel bedeuten wie Scheißkerl?«
Rhapsody rammte ihm den Ellbogen in die Seite, doch Llauron schmunzelte nur.
»In der Tat, für viele bedeutet es das. Es gibt allerdings auch etliche, die die großartigen Leistungen der Cymrer in Erinnerung halten und alles andere zu vergessen versuchen. Ja, die alten Cymrer werden mancherorts sogar verehrt, in den orlandischen Provinzen zum Beispiel – das sind die Provinzen von Roland oder in Manosse und auf der Insel der Meeresmagier. All diese Gebiete werden von Nachkommen der Cymrer regiert.«
»Wer hat sich denn am Ende durchgesetzt?«, fragte Grunthor.
»Im Grunde niemand. Anwyn hat anscheinend erreicht, was sie wollte, nämlich Gwylliam zu töten. Jedenfalls behauptete sie das, und tatsächlich blieb er spurlos verschwunden, weshalb man denn auch ihrer Behauptung Glauben schenkte. Wenn sie ihn denn wirklich zur Strecke bringen konnte, wird sie einen Großteil ihrer Kraft dafür verausgabt haben, denn eigentlich war Gwylliam unsterblich oder zumindest sehr viel langlebiger als andere Cymrer. Im Unterschied zu seinen Untertanen, die zwar weder alterten noch krank wurden, wohl aber eines gewaltsamen Todes sterben konnten, war Gwylliam in der neuen Welt gewissermaßen immun gegen Verletzungen. Den Grund dafür vermuten die alten Schriften darin, dass er die Heimat als Letzter verlassen, als Letzter auch den Meridian überquert und so in der neuen Welt keine Gefahr mehr zu erwarten hatte. Was die tatsächliche Ursache seiner Unverletzlichkeit war, ist schwer zu sagen. Wie dem auch sei, Anwyn kehrte triumphierend in die Ratsversammlung zurück und forderte die alleinige Herrschaft über das Reich der Cymrer ein. Doch der Rat wandte sich gegen sie und schickte sie in die Verbannung. So blieb ihr nach siebenhundert Jahren Krieg und der befriedigten Rache am verhassten Gatten am Ende nichts. Was für ein Irrwitz, findet ihr nicht auch?«
»Ja«, antwortete Rhapsody. »Was ist mit ihr geschehen? Wo ist Anwyn jetzt?«
Llauron kippte den letzten Schluck Branntwein hinunter und steckte den Schwenker in den Sack zurück. »Den Quellen zufolge hat sie sich in eine Höhle hoch oben zwischen den Weißen Kuppen im Gebirge von Hintervold zurückgezogen, weit ab von ihren ehemaligen Ländern. Es kommt immer wieder vor, dass sich jemand auf den Weg zu ihr macht in der Hoffnung, durch sie die Vergangenheit verstehen zu lernen. Sie war ja schließlich, wie schon gesagt, in erster Linie eine sehr begabte Seherin. Ob man sie je ausfindig gemacht hat, weiß ich nicht.«
»Und wie stehen die Dinge heute?«, fragte Achmed.
»Nun, die Wunden, die der Krieg geschlagen hat, sind nie ganz verheilt, auch nach fast vierhundert Jahren nicht. Die einstmals große Nation der Cymrer ist in kleinere Gemeinschaften zerfallen. Ein Jammer ist das. Ihre Beziehungen zu den Elementen und zur Zeit waren das eigentliche Geheimnis hinter den großen Errungenschaften ihrer Zivilisation. Davon abgetrennt, musste die Einheit verloren gehen und die Blüte welken, zu der sich Wissenschaft, Kunst, internationaler Handel, Architektur und Medizin während des Goldenen Zeitalters entwickelt hatten. Wir alle sind dadurch sehr viel ärmer geworden. Selbst die Religionen sind geteilt. Während wir früher alle ein und denselben Glauben hatten, gibt es nun unterschiedliche Bekenntnisse. Hier bei uns, in den von alters her der Ersten Flotte zugeschriebenen Gebieten, wird der filidische Glaube gepflegt, der Glaube an die Natur. Die Mehrheit der Bewohner von Roland verehrt den Allgott, der auch Schöpfer genannt wird. Das Oberhaupt dieser Kirche ist der Patriarch, der in der heiligen Stadt Sepulvarta seinen Stammsitz hat. Noch so ein Jammer, dass wir selbst in unserem gemeinsamen Glauben an den einen Gott uneins geworden sind. Und ständig droht neuer Krieg. Unter einer scheinbar friedlichen Oberfläche brodelt es schon lange. Und die Spannungen nehmen zu und werden sich früher oder später gewaltsam entladen. Seit mehreren Jahrzehnten kommt es an den Grenzen immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen und zu sinnlosen Überfällen auf Dörfer und Städte. Der Hass auf andere Volksgruppen nimmt zu, der Terror greift um sich. Es ist beängstigend.«
»Was glaubt Ihr, wie diese Entwicklung aufgehalten werden könnte?«, fragte Rhapsody.
Llauron seufzte. »Ich weiß nicht, ob das überhaupt möglich ist. Kurz bevor Anwyn in die Verbannung geschickt wurde, hatte ihre Schwester Manwyn noch zu vermitteln versucht und die Hoffnung geäußert, dass die verloren gegangene Einheit wiederhergestellt und Frieden erlangt werden könnte. Aber im Rat mochte ihr niemand glauben. Alle Mitglieder unterstellten ihr, dass sie nur der Schwester den Rücken zu stärken versuchte.«
»Womit hat sie diese Hoffnung begründet?«, wollte Achmed wissen.
Lauron schloss die Augen, dachte einen Moment lang nach und zitierte dann folgende Weissagung:
Die Drei werden kommen; früh brechen sie auf, spät treten sie
in Erscheinung, Die Lebensalter des Menschen: Kind des Blutes, Kind der Erde, Kind des Himmels.
Ein jeder Mensch, entstanden im Blute und darin geboren,
Beschreitet die Erde, wird von ihr genährt,
Greift zum Himmel und geniest seinen Schutz,
Steigt indes erst am Ende seiner Lebenszeit zu ihm auf und
gesellt sich zu den Sternen. Blut schenkt Neubeginn, Erde Nahrung. Der Himmel schenkt zu Lebzeiten
Träume – im Tode die
Ewigkeit. So sollen sie sein, die Drei, einer zum anderen.
Der Fürbitter räumte die Reste der Mahlzeit zusammen, packte alles in seinen Beutel und blickte schließlich auf.
»Ihr werdet mit diesen Worten wohl genauso wenig anfangen können wie die Ratsversammlung damals. Allem Anschein nach sollten Anwyn und ihre Schwestern mit den rätselhaften drei Hoffnungsträgern gleichgesetzt werden, was die Ratsmitglieder argwöhnen ließ, dass es sich bei der vermeintlichen Weissagung nur um den plumpen Versuch handeln mochte, die drohende Vertreibung der Königin abzuwenden. Anborn, Gwylliams Feldmarschall, verlangte mit rüden Worten von Manwyn darüber aufgeklärt zu werden, wie der Spruch zu verstehen sei. Zur Antwort erhielt er Unzusammenhängendes Gestammel.
Wenn Leben entsteht, verbindet sich das Blut und wird doch
vergossen; auch teilt es sich zu leicht, als dass es die Trennung
heilen könnte.
Die Erde wird von allen geteilt und ist doch selbst geteilt, von
Generation zu Generation.
Nur der Himmel umfasst alles und bleibt selbst ungeteilt;
darum wird es durch ihn zu Frieden und Einheit kommen.
Wenn Euch daran gelegen ist, Feldmarschall, so schützt den
Himmel, auf dass er nicht einstürze.
Daraufhin stieß der große Feldmarschall Flüche gegen Manwyn aus und forderte sie auf, ihre sinnlosen Worte in Zukunft für sich zu behalten. Manwyn verließ den Ratssaal, um, wie ich vermute, Anwyn in die Verbannung zu folgen. Im Ausgang blieb sie jedoch noch einmal stehen, drehte sich um und sprach, an Anborn gewandt, eine letzte Prophezeiung aus: ›Feldmarschall‹, sagte sie, ›zuerst müsst Ihr mit Euch selbst ins Reine kommen. Nach Gwylliams Tod seid Ihr nun der König der Soldaten, doch Ihr werdet erst dann Vergebung erfahren, wenn Ihr den Geringsten aus Eurer Sippe ausfindig macht und ihm, dem Hilflosen, Euren Schutz bietet. Entweder werdet Ihr so erlöst oder aber ungetröstet sterben/«
»Und, was geschah darauf hin?«
»Wer weiß? Das war wohl eine Sache zwischen ihm und seinem Schöpfer.« An Achmed und Grunthor gewandt, sagte er: »Nun, wie ich eurer Gefährtin schon gesagt habe, seid ihr herzlich willkommen, für ein paar Tage in mein Haus einzukehren. Ich biete euch Schlafstätten, frische Kleider und die Gelegenheit zu beraten. Gwen hat Rhapsody schon neu ausgestattet, wie ihr seht.«
Rhapsody und Grunthor sahen Achmed erwartungsvoll an, der sich Bedenkzeit nahm und dann mit dem Kopf nickte. Grunthor grinste übers ganze Gesicht. »Sehr freundlich von Euch, Exzellenz.«
Rhapsody tippte ihn an, als sie sich, dem Alten folgend, auf den Weg machten.
»Grunthor, normalerweise werden Fürbitter, der Patriarch, die Seligpreiser und Hohepriester der Filiden mit ›Euer Gnaden‹ angesprochen und nicht mit ›Exzellenz‹.«
Der Riese nahm sie bei der Hand. »Und wenn du jetzt nicht ’n Schritt zulegst und den Anschluss hältst, werd ich dich ›spätes Mädchen‹ nennen.«