6

Rhapsody erwachte in völliger Dunkelheit. Der Mond hatte sich davongeschlichen, und der Himmel war voller Wolken. Benommen versuchte sie, den Oberkörper aufzurichten, ließ aber sogleich davon ab, als sich stechende Schmerzen hinter ihren Augen bemerkbar machten. Sie wälzte sich zur Seite, bettete den Kopf in die Hand und rückte den Ellbogen als Stütze zurecht. Ihrer Brust entfuhr ein Ächzen, das mit ihrer eigenen Stimme nichts zu tun zu haben schien.

Sofort war Grunthor mit dem Wasserschlauch zur Stelle. Mit zitternden Händen langte sie danach und trank. Als ihr Durst gestillt war, mühte sie sich auf und schaute in die Runde. Statt des offenen Himmels und der weiten Graslandschaft, in der sie aufzuwachen erwartet hatte, fand sie sich in einem kleinen Hain wieder. Nicht weit entfernt ragten Schatten auf, noch schwärzer als der dunkle Horizont.

»Was ist das?«, flüsterte sie entkräftet.

Achmed blickte auf. »Der Wald«, antwortete er und schmunzelte über ihre Reaktion, die er zwar nicht sah, aber deutlich genug spürte. Das Herz der Sängerin pochte ein ärgerliches Stakkato, und ihr Gesicht fing vor Zorn zu glühen an.

»Ihr habt mich getragen? Den ganzen Weg? Wie konntet ihr es wagen?«

»Dein Protest kommt reichlich spät. Warum hast du dich nich eher zu Wort gemeldet?«, spottete Grunthor, dem das Grinsen angesichts ihrer wütenden Blicke schnell verging. »Was soll’s, Herzchen? Hätten wir dich etwa da draußen liegen lassen sollen?«

Eine schlanke Hand legte sich ihr energisch auf den Mund.

»Halt schön die Luft an, Sängerin«, flüsterte Achmeds raue Stimme. »Und hör mir gut zu, in deinem eigenen Interesse. Noch sind wir allein, aber nicht mehr lange. Wir befinden uns hier in den Büschen am Rand des Waldes. Dieser Grenzbereich ist sehr viel strenger bewacht als die Felder.

Sobald wir den eigentlichen Wald betreten haben, kommt es für uns darauf an, so schnell wie möglich zum Großen Baum zu gelangen. Hinter der ersten größeren Baumlinie im Südosten befindet sich ein Posten, mit vierundzwanzig Wachen besetzt. Und zwar haben wir’s jetzt mit Lirindarc zu tun, mit Wald-Lirin, die noch besser getarnt sind als diese Graslandwesen, welche uns am Nachmittag überrascht haben. Was kannst du tun, damit wir unbemerkt an ihnen vorbeikommen?« Er hob die Hand von ihrem Mund und ignorierte ihren vernichtenden Blick.

»Woher weißt du von diesen Dingen?«, zischte sie. »Du wusstest offenbar auch, dass Michael nicht mit von der Partie war. Die Lirinved – die Zwischen-Wesen, wenn es denn solche waren, die wir gesehen haben – haben mich erkannt. Das war dir von Anfang an klar. Du hast sie von weither kommen sehen. Auch jetzt weißt du genau, wo und wie viele Lirindarc sich dort im Wald verbergen. Wie kommt’s, dass du darüber Bescheid weißt? Und wozu, um alles in der Welt, brauchst du mich?«

Die fremden Augen bedachten sie mit einem kühlen Blick; dann wandte sich Achmed ab und schaute nachdenklich in die Ferne. Er hatte nicht die Absicht, auf ihre Fragen zu antworten. Dass er sich auf die Blutkunde verstand und die Fähigkeit hatte, den Herzschlag x-beliebiger Leute aufzuspüren, wussten nur ein einziger Freund und einige wenige Feinde, obwohl seine Unfehlbarkeit als Meuchelmörder unter den zwielichtigen Elementen der Länder im Osten Legende war. Er suchte nach einer Entgegnung, die zweierlei bewirken sollte: Zum einen wollte er sie beruhigen, zum anderen zur Mithilfe bewegen.

Normalerweise mochte sich eine Geisel noch so sehr empören, es kümmerte ihn nicht. Doch dieser Fall lag anders. Sie verfügte nicht nur über außerordentliche Fähigkeiten und Talente, sondern übte auch eine ungemein beruhigende Wirkung auf ihre Umgebung aus. Die rhythmischen Schwingungen, die von ihr ausgingen, waren seiner Haut sehr angenehm. Vielleicht lag der Grund dafür in ihrer musikalischen Ausbildung. Er holte tief Luft und legte sich seine Worte genau zurecht.

»Wir brauchen deine Hilfe nicht – die Lirindarc aber sehr wohl.«

Sie machte aus ihrer Verblüffung kein Hehl. »Was soll das denn heißen?«

»Falls sie uns angreifen sollten, wärst du die einzige Garantie für ihre Sicherheit.«

Rhapsody kniff die Brauen zusammen. »Ich verstehe wohl nicht richtig.«

Er fixierte sie wieder mit stechendem Blick. »Wir legen es nicht darauf an, diesen Leuten zu schaden. Im Gegenteil, wir haben großen Respekt vor ihnen. Sie, die Lirin und die Lirindarc, leben sehr bewusst und in Einklang mit ihrer Welt. Sie wissen, was kommt, oder zumindest dass etwas kommt. Das unterscheidet sie von den Tölpeln, die außer ihnen dieses Land bewohnen.«

Trotz der Dunkelheit sah Achmed, dass sie bleich wurde. »Was kommt denn? Wovon sprichst du?«

Aus der Kapuze erklang ein hässliches Lachen. »Ist es möglich ... eine Sängerin, die das nicht hört, nicht spürt? Der Lärm von Ostend ist ihr offenbar nicht gut bekommen. Bist du wirklich so naiv oder tust du nur so?«

Ihre grünen Augen nahmen einen harten Ausdruck an. »Du bist mir eine Antwort schuldig. Sag mir, was Sache ist.«

»Das möchte ich von dir wissen, Rhapsody. Die Lirindarc von dem Außenposten im Osten kommen uns entgegen und werden bald zur Stelle sein. Grunthor und ich müssen zum Baum gelangen, und das möglichst schnell. Wir können nicht zulassen, dass sich uns jemand in den Weg stellt, und du weißt sehr wohl, was ich damit andeuten will. Also frage ich dich: Was kannst du tun, um zu verhindern, dass sie in ihr Unglück rennen?«

Ihre trotzige Miene nahm weichere Züge an. »Ich... nichts. Ich weiß nicht einmal, wo ich bin. Was erwartet ihr von mir?«

Achmed wandte sich gen Osten und hob die Cwellan an die Schulter. »Von dir darf man offenbar nichts erwarten. Grunthor, spann den Bogen.«

Aus Verwirrung wurde Entsetzen. »Nein, bitte! Lasst das sein, ich flehe euch an!«

Die verhüllte Gestalt drehte sich um und sah sie an, ohne die Waffe zu senken. »Denn frage ich jetzt ein letztes Mal: Was kannst du tun? Nach dem, was ich heute Nachmittag erlebt habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass du eine gute Antwort darauf parat hast.«

Eine große Hand legte sich auf ihre Schulter. »Komm, Herzchen, denk nach. Dir wird doch wohl was einfallen.«

Rhapsody atmete tief durch und wandte, um wieder klar denken zu können, eine Technik an, die ihr Heiles, ihr erster Mentor, zu Anfang des Studiums beigebracht hatte. Nach einer Weile hörte sie eine innere Stimme, jene Stimme, die ihr die einzigen Geschichten von diesem Wald erzählt hatte, die ihr je zu Ohren gekommen waren.

Mama, erzähl mir von dem großen Wald.

Er ist weiter, als das Auge reicht, unvorstellbar groß, voll von Düften und Geräuschen des Lebens. Du kannst dir im Traum nicht ausmalen, wie vielfältig allein die Farben der Bäume sind, die dort wachsen. In allen Lebewesen klingt ein Lied, das Lied des Waldes. Die Menschen nennen ihn den Zauberwald, weil ihnen vieles von dem, was darin wächst und lebt, fremd ist. Die Lirin aber kennen den Wald bei seinem wahren Namen: Yliessan, das heißt ›der heilige Ort‹.

Achmed sah, wie sich ein völlig anderer Ausdruck auf ihr Gesicht legte. »Und?«

Die Lirin aber kennen den Wald bei seinem wahren Namen: Yliessan, das heißt ›der heilige Ort‹. Rhapsody schaute zu den Sternen auf. »Der Name«, sagte sie leise. »Ich kenne den Namen des Waldes.« Ihr Blick wurde klar, und als sie sich den Männern zuwandte, funkelten ihre Augen beängstigend hell. »Dass wir uns nur ja recht verstehen: Ich sorge mich nur um ihren Schutz, nicht um euren.«

»Das ist nur gerecht«, sagte Grunthor und grinste.

Als die Patrouille der Lirindarc wenig später aufkreuzte, fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf, sie hörte nur den Wind in den Sträuchern säuseln und setzte ihren Weg fort.


Am frühen Morgen hatten sie den Waldrand erreicht. Mit der Dämmerung hatte der Wind aufgefrischt, und Rhapsody löste die schwarze Samtschleife, um die Haare fliegen zu lassen, und ließ die Gedanken schweifen, die noch von schmerzlichen Erinnerungen an den Vortag getrübt waren.

Sie stand vor dem palisadenartigen Wall der Bäume und spähte ins Unterholz, wo sie üppiges Laub in allen Grünschattierungen und nachtdunkle Schatten ausmachte.

Im Geiste sah sie noch das Bild der Mutter. Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, als sie sich die Mutter als junge Frau vorstellte, als Mädchen zu Beginn des Blütejahrs, an der Schwelle des Waldes stehend, da, wo sie jetzt stand.

Zierlich; weder Rhapsody noch ihre Mutter waren besonders groß. Die Mutter hatte ihre goldenen Haare nach traditionellen Mustern geflochten, die nicht nur praktischen Zwecken genügten, sondern sie auch schmückten. Der Lirinschen Tracht entsprachen auch die weite Tunika und die engen Borilla-Hosen, die sie trug, sowie die aus Leder geflochtene Mekva, mit der sie die Taille umgürtete. Die Augen strahlten in stiller Freude. War sie damals glücklich gewesen?, fragte sich Rhapsody. Wenn ja, so hatte dieses Glück nicht lange vorgehalten, wie sie wusste.

Von dieser Zeit hatte die Mutter nur selten erzählt. Die Pilgerreise zur Sagia hatte sie nach alter Sitte gleich zu Beginn des Erwachsenenalters unternommen. Doch wie sie ihre Zeit im Wald verbracht und was sie dort gelernt hatte, war ihr streng gehütetes Geheimnis geblieben. Warum sie Stillschweigen darüber bewahrte, hatte Rhapsody erst im Alter von dreizehn Jahren erfahren.

Als die Mutter nach Vollendung ihres Blütejahres, dem zweiten Jahr ihrer Pilgerreise, auf die heimatlichen Felder zurückgekehrt war, hatte sie ein fast gänzlich zerstörtes Langhaus vorgefunden. Von ihrer Familie lebte keiner mehr. Dass sie selbst auf Reisen gewesen war, hatte ihr das Leben gerettet. Doch das konnte sie nicht trösten, im Gegenteil; als Einzige verschont geblieben zu sein machte ihr trauerndes Herz noch schwerer.

Wäre es ihr möglich gewesen, das Rad der Zeit zurückzudrehen, hätte sie das Langhaus nie verlassen. Lieber wäre sie mit den anderen umgekommen, als auf sich allein gestellt weiterleben zu müssen. Der Verlust und die Erinnerung daran hatten ihr ganzes weiteres Leben geprägt.

Jetzt stand Rhapsody an derselben Stelle, an der einst ihre Mutter gestanden hatte, und sie empfand wohl eine ähnlich ehrfürchtige Scheu und Begeisterung. Das Lirinsche Erbe, das seit der Geburt in ihr schlummerte, erwachte nun und machte sich bemerkbar.

Ostend war der zentrale Durchgangsort für Reisende an der Ostküste. Während ihres Aufenthaltes dort waren ihr zahllose Vertreter fremder Völker aus aller Herren Länder zu Gesicht gekommen, nicht zuletzt viele Halb- und Voll-Lirin. Jetzt, da sie bis nach Yliessan vorgedrungen war, drängte sich ihr die Hoffnung auf, dass sie vielleicht auch vom Volk ihrer Mutter akzeptiert werden und willkommen geheißen würde. Vielleicht fand sie hier die Kraft, endlich nach Hause zurückzukehren.

Die Sonne ging unter, als die drei Reisenden, nachdem sie einen zunehmend dichter bewachsenen Grüngürtel durchquert hatten, den eigentlichen Wald erreichten. Sie warteten, bis es Nacht geworden war, ehe sie weitergingen, ständig auf der Hut vor den Augen, die im Dunkeln funkelten. Unterdessen wurde Rhapsody nicht müde, im Flüsterton das Namenlied des Waldes zu singen, immer und immer wieder: Yliessan, Yliessan, Yliessan. Ihr war es, als teilte sich das Dickicht wie zur Antwort, als trachtete alles Gesträuch danach, den dreien den Weg zu ebnen.

In allen Geräuschen ringsum, im Blättersäuseln und den Lauten der Tiere, vernahm sie einen Gruß.

Yliessan. Der Wald hieß sie willkommen.

Die Luft war voll von bislang ungeahnten Düften. Rhapsody labte sich daran, füllte ihre Lungen und spürte, dass sie weiter wurden und ihr Atem frischer. Sie bedauerte, dass es schon dunkel war, denn allzu gern hätte sie den Wald in seiner ganzen Pracht bei Tageslicht gesehen. Er war zwar nur für die Lirin ein heiliger Ort und nur sie kannten seinen Namen, doch erzählte man sich auch im weit entfernten Ostend Geschichten über den Zauberwald und seinen Großen Baum. Sich und die beiden Männer im Weidegras unsichtbar gemacht zu haben hatte sie erschöpft und ausgelaugt; jetzt aber zog sie zusätzliche Kraft aus der Tarnung, die sie wie ein Teil des Waldes aussehen ließ. Von Anfang an hatte sie ihre Schwingungen den Vorgaben des Waldes angepasst, was ihr das wohlige Gefühl vermittelte, zu Hause zu sein; eine ruhige Heiterkeit überkam sie, die ihre Gedanken läuterte und in sanften Tönen ihr Herz ansprach. Yliessan. Willkommen, Kind des Himmels.

Yliessan.

»Irgendwelche Vorschläge?« Rhapsody fuhr erschrocken zusammen, als sich plötzlich eine raue Stimme zu Wort meldete, die ihr immer noch nicht vertraut war. Achmed, obwohl unmittelbar zuvor nirgends zu sehen, hatte ihr ins Ohr geflüstert.

»Wie bitte?«, flüsterte sie zurück.

»Der Baum – spürst du, wo er sein könnte?« Aus seiner Stimme war deutlich Widerwille herauszuhören.

Sie schloss die Augen, ließ den Nachtwind über ihr Gesicht streifen und lauschte der Musik, die er in Zweigen und Blättern anstimmte, einer Musik, die an fernes Meeresrauschen erinnerte.

Nach einer Weile konzentrierter Aufmerksamkeit hörte Rhapsody einen tiefen Ton, der im Waldboden und in der Luft vibrierte. Er war klar, einzigartig und von zarter Harmonie begleitet, und je länger sie hinhörte, desto deutlicher vernahm sie seine Stimme, die Stimme des Baumes. Daran gab es für sie keinen Zweifel.

Sie zeigte nach Südenwesten. »Dort«, sagte sie.

Achmed nickte. Auch er hatte den Ton wahrgenommen. Leise und vorsichtig schlichen sie durchs dunkle Unterholz. Wie selbstverständlich war ihr die Führung zuerkannt worden, womit sie indes keinerlei Probleme hatte, zumal der Leitton immer lauter wurde. Sie spürte ihn nun schon unter den Füßen.

Der Wald war unermesslich groß. Rhapsody wähnte den Baum noch viele Tagesmärsche weit entfernt. Umso mehr überraschte es sie, sein Lied schon jetzt zu hören, und das so deutlich.

Es dauerte nicht lange, und sie entdeckte im Osten eine finstere, scheinbar undurchdringliche Wand aus immergrünen Bäumen. Aus dieser Richtung tönte auch das Lied, das seinen Ursprung offenbar irgendwo dahinter hatte. Spontan wandte sie sich ihm zu und beschleunigte ihren Schritt. Achmed folgte wortlos; Grunthor aber quittierte den plötzlichen Richtungswechsel mit verärgertem Brummen. Zu dritt näherten sie sich der dichten Baumreihe. Sie alle spürten genau, dass man sie aus mittlerer Entfernung beobachtete, doch selbst sahen sie niemanden. Schließlich erreichten sie den dunklen Wall der Nadelbäume, die so mächtig und hoch aufragten, dass sich die Wipfel ihren Blicken entzogen. Dicht an dicht standen die Bäume beieinander; Grunthor musste den Bauch einziehen, um Durchschlupf zu finden.

Auf der anderen Seite angekommen, blieben sie stehen. Da war kein Laub mehr unter ihren Füßen, sondern unberührtes Gras, ein blassgrüner Teppich, auf dem sich silbrig das Mondlicht spiegelte. Die Grasfläche erstreckte sich bis an den Horizont, den wiederum eine lang gezogene Reihe von Bäumen markierte – knorrige Eichen, die noch mächtiger waren als das Nadelholz im Rücken.

Als Rhapsody auf die ebene Grasfläche trat, fühlte sie eine Hand von hinten an ihrer Weste zupfen.

»Augenblick.«

Achmed und Grunthor standen einander gegenüber und unterhielten sich leise in ihrer Sprache. Rhapsody juckte es buchstäblich in den Füßen. Gelockt vom Baumlied, drängte alles in ihr weiterzugehen. Der Ruf trieb sie zur Eile an und übte eine geradezu magnetische Anziehungskraft aus, der zu widerstehen ihr physische Schmerzen bereitete.

»Ihr wolltet doch möglichst schnell den Baum erreichen«, zischte sie.

Achmed forderte sie mit erhobener Hand zum Schweigen auf und sah sich um. Es war ihm nicht geheuer, die freie, völlig ungeschützte Grasfläche zu überqueren. Doch daran ging kein Weg vorbei. Für den Großen Baum war dieses Feld eine Art trockener Wassergraben, ein zusätzlicher Schutz zwischen den beiden Baumwällen. Achmed schaute hinauf zu den weit ausladenden Ästen, die mit dem Laubwerk ein geschlossenes Dach ausbildeten.

Er zog die Cwellan hinter dem Rücken hervor und nickte. Herzschläge waren außer den eigenen auf weiter Flur nicht wahrzunehmen. Als wollten sie eine verkehrsreiche Straße überqueren, blickten die drei zuerst nach links, dann nach rechts, und setzten sich schließlich mit schnellen Schritten in Bewegung.

Hinter der nächsten Baumreihe trafen sie auf ein tiefes Tal, in der die Luft noch süßer und würziger war. Die Geräusche des Waldes blieben hinter ihnen zurück, und es umfing sie eine nahezu greifbare Stille.

Den Blick nach vorn gerichtet, konnte Rhapsody anfangs nichts erkennen, so hell leuchtete der Mond. Erst als sich ihre Augen an das sprühende Licht gewöhnt hatten, sah sie den Baum vor sich stehen, die heilige weiße Eiche: Sagia, die tief Wurzelnde.

Risse, so tief wie Bäche, zogen sich durch die silbrig weiße Borke, deren Oberfläche ansonsten völlig glatt war, wie poliert. Das Geäst konnte Rhapsody nicht sehen; es verlor sich in nachtdunkler Höhe. Den Boden ringsum bedeckte herabgefallenes Laub, grün, üppig und golden geädert.

Allzu mächtig war der Baum, als dass sie ihn auf einen Blick hätte erfassen können. Allein der Stamm war von solchem Umfang, dass es ihnen, hätten sie sich zu dritt im gleichen Abstand darum postiert, wohl kaum gelungen wäre, sich durch Zuruf miteinander zu verständigen. Er würde mit Leichtigkeit den gesamten Ostender Markt einnehmen, der doch Platz für viele hundert Bürger bot. Rhapsody war von diesen Dimensionen derartig überwältigt, dass sie, als sie wieder in die Gegenwart zurückkehrte, die Gefährten aus den Augen verloren hatte.

Sie hielt Ausschau nach dem Riesen und dessen verhülltem Gefährten, konnte sie aber nirgends erspähen. In ihren Ohren und Fingern spürte sie frühe Anzeichen einer aufkommenden Panik; eingedenk der Tatsache, dass sie sich über die Absichten der beiden ganz und gar nicht im Klaren war, wurden ihre Hände kalt. Doch die friedliche Stille des Tals löste den Krampf in ihrem Magen, und ein tröstendes, sonores Summen erfüllte ihren Sinn. Es war wieder das Lied des Baumes, tief und andauernd, und in seiner schlichten Melodie hörte Rhapsody die Weisheit vergangener Zeitalter mitschwingen. Sie schloss die Augen und lauschte. Einen zauberhafteren Gesang hatte sie nie vernommen.

Der Druck hinter der Stirn und die Verspannung der Nackenmuskeln, die ihr nun schon zwei Wochen lang zu schaffen machten, seit dieser Gammon sie im Federhut aufgesucht hatte, lösten sich unter dem Eindruck des Liedes und verschwanden bald ganz. Ein Gefühl des Friedens breitete sich in ihr aus und berührte verschüttete Teile ihrer Seele.

Wie schon im Traum hörte sie die Stimme der Mutter, die ihr in der Sprache der Lirin alte Geschichten erzählte und Lieder sang zum Lob der Wunder der Natur – Wunder wie der unermesslich große Baum. Mit dem Herzen lauschte sie der magischen Melodie und vergaß darüber die Zeit, bis sie eine Hand auf der Schulter spürte, die sie unsanft in die Wirklichkeit zurückholte.

»Wo bist du gewesen?«, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr. »Wir warten. Komm endlich.«

Aufgeschreckt fuhr Rhapsody herum. »Ihr wartet? Worauf? Ich dachte, wir wären hier, um dem Baum unseren Respekt zu erweisen. Davon lasse ich mich jedenfalls nicht abbringen.«

»Komm mit, wir haben die Hauptwurzel entdeckt.«

Rhapsody schüttelte die Hand ab. »Na und?«

»Ich will hier kein Blut vergießen«, sagte Achmed mit unheilvollem Unterton.

Wieder liefen ihr kalte Schauer der Angst über den Rücken, doch gleich darauf wurde ihr heiß vor Wut. »Was soll das heißen? Du drohst mir?«

Achmed hielt einen Gegenstand in die Höhe; der leuchtete so hell, dass sie sich unwillkürlich abwandte, um die Augen zu schonen. Als sie blinzelnd wieder hinsah, erkannte sie einen Schlüssel, der aus Knochen gemacht zu sein schien, aber wie poliertes Gold erstrahlte, das Sonnenlicht in sich gespeichert hatte.

»Willst du sehen, was jetzt passiert, oder dumm zurückbleiben?«

»Nein, ich glaube, ich werde tatsächlich so dumm sein, dich zu begleiten.«

Zähneknirschend folgte sie Achmed um den Stamm des riesigen Baumes herum. Sie starrte nach oben, doch es war ihr immer noch nicht möglich, seine Höhe zu ermessen. Auf der Südseite angelangt, breitete sich ein See vor ihr aus, dessen klarer Spiegel den unteren Rand des Laubdaches eben noch erkennen ließ. Das Lied der Sagia hallte von der Wasseroberfläche wider und schickte silbrige Schauer durch Rhapsodys Seele.

Sie verweilte einen Moment, um die Schönheit des Anblicks auszukosten, und als sie sich wieder besann, war Achmed verschwunden. Eilends lief sie weiter. Es dauerte nicht lange, und sie hatte zu ihm aufgeschlossen. Sie fand ihn, tief gebückt, den Arm nach unten ausgestreckt, wo er den Schlüssel über die gesamte Länge des Bartes in den Sockel des Baumes gesteckt hatte.

»Pass auf!«, sagte er.

Kaum hatte er den Schlüssel mit energischer Handbewegung herumgedreht, da sprühte ein Schauer schillernder Funken aus dem Boden und stob himmelwärts. Von aufglimmenden roten Lichtspuren umgeben, zeigte sich die Öffnung eines kleinen Einstiegs.

Mit weit aufgerissenen Augen schreckte Rhapsody zurück. Sie starrte immer noch vor sich hin, als Grunthor einen großen rechteckigen Ausschnitt aus der Wurzel hochhievte und zur Seite klappte. Vor ihr tat sich eine Dunkelheit auf, die so vollkommen war, dass sie aus dem Loch hervorzuquellen und sich über ihre Füße zu ergießen schien.

»Was macht er da?«, rief sie entsetzt, ehe Achmed dazu kam, ihr den Mund zuzuhalten.

»Pssst. Hör zu, ich werd’s dir sagen. Der Baum steht hier als Zeichen dafür, dass es sich um eine der Stellen handelt, an der die Zeit begonnen hat. Seine Wurzeln führen überall dorthin, wo die Macht der Insel Einfluss nimmt.« Er ließ von ihr ab und drehte sie zu sich herum. »Wir müssen gehen. Wir müssen an einen Ort fliehen, der uns Schutz vor dem Dämon bietet, der uns verfolgt.«

»Dämon?«

»Zugegeben, ihn als Dämon zu bezeichnen ist vielleicht untertrieben. ›Ungeheuer‹ wäre wohl zutreffender. Von ihm haben wir übrigens diesen Schlüssel. Wie auch immer, dem Baum wohnen ungeheure Zauberkräfte inne; er ist fest verwoben mit dem Stoff dieser Welt und bietet uns hier einen magischen Gang. Wir müssen den Wurzeln folgen, wohin sie uns auch führen.«

Rhapsody starrte ihn an. »Dann geht doch.«

»Du sollst uns begleiten«, sagte Achmed und streckte die Hand nach ihr aus.

»Ich kann nicht, will nicht«, entgegnete sie, und ihre Stimme zitterte. »Wie käme ich dazu, euch zu begleiten?«

»Liegt dir denn nicht daran zu erfahren, wie die Zeit in die Welt gekommen ist? Wir bieten dir die Gelegenheit, einen Blick ins Herz des Baumes zu werfen – ins Herz der Welt. Welcher Lirin würde nicht alles dafür geben?«

»Und wenn schon.«

Grunthor blickte vom Einstieg auf, den er freigelegt hatte, und grinste. »Ich will dir was sagen, Herzchen: Wenn du mitkommst, wirst uns davon abhalten können, der Wurzel zu schaden. Lässt du uns aber allein, kann ich für nichts garantieren ...«

Rhapsody schnappte entsetzt nach Luft. »Untersteht euch! Das ist ein heiliger Baum, der Sitz der Weisheit aller Lirin, nicht nur derer, die im Walde wohnen. Ihm Schaden zuzufügen ...«

» ... wäre für uns ein Leichtes, Herzchen.« Rhapsodys Augen wurden noch größer, als sie Grunthor in dem dunklen Loch verschwinden sah. Doch gleich darauf trat Achmed vor sie hin und versperrte ihr die Sicht.

»Willst du nicht wissen, wie es drinnen aussieht?«

Rhapsody wollte durchaus, aber ihre Scheu davor, sich womöglich einer frevlerischen Handlung schuldig zu machen, war größer, und außerdem drehte sich ihr der Magen um bei dem Gedanken daran, dass diese Marodeure das Innere der Sagia betreten würden. Ihr war natürlich klar, dass sie die beiden niemals würde aufhalten können, doch wollte sie nichts unversucht lassen und selbst ihr Leben dafür aufs Spiel setzen.

»Halt!«, rief sie und zog ihren Dolch. »Kommt da sofort wieder raus.«

»Noch hast du die Chance«, drang Achmeds raue Stimme zu ihr. »Wenn du aber lieber zurückbleiben möchtest, wünsche ich dir viel Glück im Umgang mit den Lirindarc-Wachen, die jeden Moment aufkreuzen werden. Wie willst du denen den Schaden erklären? An deiner Stelle würde ich mich schnellstens aus dem Staub machen. Grunthor, du hast doch hoffentlich deine Axt nicht vergessen, oder?« Die in dunkler Tiefe widerhallende Frage sollte ihr natürlich Angst machen und sie zum Mitkommen bewegen.

Rhapsody sah sich um. In der Ferne glaubte sie tatsächlich schon die Geräusche einer näher rückenden Patrouille zu hören. Schlimmer noch, die Sagia hatte ein anderes Lied angestimmt und sang wie unter Schmerzen.

Voller Sorge lief sie auf den Einstieg zu, untersuchte den entstandenen Schaden, fuhr prüfend mit der Hand über die silbrige Borke und spürte unter den Fingergruppen dieselben Schwingungen, die sie vorher in ihrem Herzen empfunden hatte. Plötzlich schnellte eine Hand aus dem Loch, und ehe sie sich versah, ging es mit ihr nach unten.

Sosehr sie auch schrie, es half nichts. Achmed reichte sie an Grunthor weiter, zog mit einem Ruck den Schlüssel ab und wandte sich ihr zu, während die Luke leise hinter ihm zuklappte. Und dann war mit einem Male alles stockdunkel.

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