Ashe beobachtete die Szene von der anderen Straßenseite aus, verwundert zunächst, dann amüsiert. Offenbar war der Händler von dem, was sich ihm unter der grauen Kapuze als Anblick bot, über die Maßen angetan – was der Frau indes gar nicht aufzufallen schien. Er stand da und gaffte, während sie seine Ware musterte.
Schon drängte sich Ashe ein schlimmer Verdacht auf, was diese junge Frau anging, doch konnte er aus der Entfernung auch mit seinen scharfen Drachensinnen keinen Makel an ihr erkennen. Er musste näher heran, um Genaueres feststellen zu können.
Obwohl er sonst nicht leicht aus der Fassung zu bringen war, fuhr Ashe vor Schreck zusammen, als die beiden Ochsenkarren mit lautem Getöse aufeinander stießen. Was ihm, Ashe, noch verborgen war, schien die Kutscher buchstäblich aus der Bahn geworfen zu haben: Die Frau hatte kurz zuvor die Kapuze vom Kopf genommen.
Bei allen Rätseln, die sie aufgab, zeigte sich nun doch ganz deutlich, dass sie enorm schnell auf den Beinen war. Blitzschnell war sie unter dem Tisch und rückte ihn mitsamt dem Händler, der dahinter stand, in Sicherheit. Als wenig später die Gefahr vorbei war, half sie ihm noch, den Verkaufsstand wieder in Ordnung zu bringen, ehe sie ihrer Wege ging.
Sie schlenderte die Straße entlang und schien gar nicht zu bemerken, dass alle, an denen sie vorbeikam, staunend stehen blieben und sich den Hals nach ihr verrenkten.
Ashe legte wie zufällig die Hand auf das Heft seines Schwertes und folgte ihr. Doch so sehr er sich auch bemühte, konnte er doch nicht mehr von ihr erhaschen als einen Schimmer goldenen Haares und...
Da durchfuhr ihn ein jäher Schmerz, ausgehend von seinem Hodensack, der, gequetscht und mit Wucht zur Seite gezerrt wurde, was dermaßen wehtat, dass sich ihm der Magen umzudrehen drohte. Der erste Schock war noch nicht verwunden, da hatte er schon zugegriffen und die Hand gepackt, die ihm da so schamlos und brutal zusetzte. Er drückte mit aller Gewalt zu und spürte die fremde Handwurzel unter seinen Fingern knirschen, bis sie schließlich von ihm ablassen musste. Das Mädchen, wohl eine Taschendiebin, war an die sechzehn Jahre alt und hatte allem Anschein nach seine Hoden mit einem Geldbeutel verwechselt und aus der Tasche zu reißen versucht.
Von solchen Anschlägen blieb Ashe sonst ausgenommen, denn dank seiner Drachensinne, seiner Schnelligkeit und seines Nebelmantels, der ihn fast unsichtbar machte, kam er für Diebe als Opfer gar nicht erst in Betracht. Doch er war so sehr abgelenkt gewesen von den sonderbaren Schwingungen der in Grau gehüllten Frau, dass er nun zum ersten Mal angreifbar gewesen war.
Das Mädchen schrie vor Schmerzen auf, als er noch fester zupackte und es vom Boden aufhob, um es an der Flucht zu hindern.
Sie war groß und dünn, hatte langes, ungekämmtes Haar in einer Farbe wie Winterstroh, und unwillkürlich sah Ashe wie bei allen blonden Wesen weiblichen Geschlechts auch bei ihr genauer hin. Ihre Augen, die ihm voller Schreck entgegenstarrten, waren wässrig blau und ganz und gar nicht nach seinem Geschmack. Nein, da hatte er doch etwas anderes zu sehen erhofft.
Mit einem gespenstisch kehligen Grunzen machte er seiner Wut und den Schmerzen Luft. In den hellen, weit aufgesperrten Augen stand heillose Angst geschrieben. Ashe kämpfte gegen den Impuls an, die Metze auf der Stelle totzuschlagen, und biss die Zähne aufeinander. Und während er noch um Selbstbeherrschung rang, spürte er plötzlich eine andere Hand auf seiner Faust, mit der er das Mädchen umklammert hielt.
»Lass bitte meine Schwester los, ich müsste dir sonst Gewalt antun.«
Dass er sich zu weit aus der Deckung gewagt hatte, musste Ashe nun schon zum zweiten Mal an diesem Morgen büßen, was ihn verblüffte und zugleich in Wut versetzte. So etwas passierte ihm sonst nie. Doch immer noch benommen von den Schmerzen zwischen den Beinen, war ihm gar nicht aufgefallen, dass sich eine Dolchklinge auf sein Handgelenk gelegt hatte, mit der die zweite Metze ihren Worten unmissverständlich Nachdruck verlieh.
Als er sich ihr zuwandte, erging es ihm ebenso wie all den anderen Leuten, denen, wie er hatte beobachten können, beim Anblick der Frau in Grau die Kinnlade heruntergeklappt war.
Sein verschwommener Blick traf auf das wohl schönste Antlitz, das er je gesehen hatte. Das Erstaunlichste daran waren die smaragdgrünen Augen, die mit ihrem Funkeln eine Wut zum Ausdruck brachten, vor der die eigene gleichsam verpuffte. Ihr Haar leuchtete wie Gold im Tiegel, und wäre es nicht von der Kapuze verhüllt gewesen, hätte es wohl die Wintersonne überstrahlt.
Das Drachenblut in ihm geriet in Wallung.
Ich will sie berühren. Bitte, lass mich an sie heran.
Um Selbstbeherrschung ringend, biss Ashe erneut die Zähne aufeinander und war nur froh darüber, den tarnenden Mantel zu tragen, der ihm nicht nur ein Fluch war, sondern eben auch ein Segen, vor allem in Situationen wie dieser.
Dass sie sein Gesicht erkennen konnte, stimmte ihn ein wenig zuversichtlich, und so setzte er eine freundlichere Miene auf und holte tief Luft. Dabei nahm er ihren Duft wahr, der so betörend war, dass ihm schwindlig wurde. Angestrengt darauf bedacht, seine Stimme unter Kontrolle zu halten, räusperte er sich und sagte:
»Was blaffst du mich an. Ich habe nichts getan.«
»Du tust meiner Schwester weh, und wenn du sie nicht augenblicklich freigibst, zahl ich dir’s heim.«
Die Klinge drückte fester zu, schnitt aber immer noch nicht ins Fleisch.
Die weiß mit dem Ding umzugehen, dachte er und ließ das Mädchen los, das ihn immer noch mit großen Augen ansah. Er rückte von ihm ab und ein Stück näher auf die schöne Frau zu, die nun den Dolch zurückzog und ihn mit spöttischem Blick taxierte.
»Hast du nichts Besseres zu tun, als junge Mädchen zu belästigen, und das auch noch auf offener Straße?«
Schon wieder klappte ihm der Unterkiefer herunter. »Wie bitte?«
Der Metze zugewandt, fragte sie: »Alles in Ordnung, Jo?« Die ließ den Mann nicht aus den Augen und nickte nur. Rhapsody richtete ihren Blick wieder auf Ashe. »Du kannst von Glück reden, dass ihr nichts geschehen ist.«
Ashe traute seinen Ohren kaum. So gründlich war ihm nie zuvor in seinem Leben die Kontrolle über eine Situation entzogen worden, und nur mit Mühe schaffte er es, einen auch nur halbwegs zusammenhängenden Gedanken zu fassen.
»Deine Schwester... deine Freundin oder wer sie auch immer ist... wollte mich bestehlen.«
Die wunderschöne Frau sah das Mädchen an, sagte aber nichts.
»Und hat daneben gegriffen«, erklärte er mit übertrieben starker Betonung. »Hat statt meines Geldbeutels was anderes zu fassen gekriegt und es mit aller Kraft aus der Hose zu zerren versucht.«
Seine Ohren liefen puterrot an; er konnte selbst kaum glauben, was er da von sich gab, zumal einer völlig fremden Frau gegenüber. Deren überirdische Schönheit hatte ihm offenbar die Zunge gelockert, die nun wie eine Fahne im Wind flappte.
Die Frau räusperte sich, und als sie die Hand vom Mund nahm, war noch der Rest eines Lächelns darauf zu erkennen.
»Es war also nicht der Geldbeutel.«
»Nein«, maulte er.
Wieder wandte sie sich dem Mädchen zu, das, wie es schien, in Grund und Boden zu versinken drohte. Den Blick gesenkt, ließ nun die Schönheit ein Seufzen vernehmen, das wie Musik klang und zur Folge hatte, dass sich Ashe die Haare im Nacken aufrichteten.
»Tut mir Leid«, sagte sie und blinzelte mit den smaragdenen Augen, die es offenbar nicht leicht hatten, ernst zu bleiben. »Ich hoffe, der Schaden hält sich in Grenzen.«
»Das wird sich erst zeigen«, entgegnete er zerknirscht und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass der Schmerz und die Übelkeit ein wenig zurückgingen.
»Ach was«, sagte sie und war blitzschnell mit der Hand unter seinen Mantel gefahren, um der beklagten Angelegenheit auf den Grund zu gehen.
Ashe war wie vom Donner gerührt. Normalerweise hätte er ein solches Ansinnen unterbunden, noch ehe es überhaupt als Möglichkeit in Betracht gekommen wäre, war ihm doch in seinen 154 Lebensjahren noch niemand begegnet, der es an Schnelligkeit mit ihm hätte aufnehmen können. Doch nun stand da dieses bezaubernde Wesen grinsend vor ihm und hielt seine Datteln in der Hand, noch ehe er ein zweites Mal Luft geholt hatte.
Ihre Berührung ließ ihn am ganzen Körper erbeben und rührte frenetisch lustvolle Schauder auf. Er hoffte inständig, dass es ihr tatsächlich nur um eine Diagnose ging, als sie mit ernster Miene sein Gehänge in der offenen Handfläche hin und her schaukelte.
Ihm war bewusst, dass er ihr in aller Entschiedenheit Einhalt gebieten sollte. Mit jedem und jeder anderen, die sich ihm gegenüber eine solche Unverfrorenheit erlaubt hätte, hätte er kurzen Prozess gemacht. Doch er rührte sich nicht, was zum einen daran lag, dass er sich von seinem Schock immer noch nicht erholt hatte; zum anderen wollte er nicht, dass sie aufhörte.
Erst als ihre Behandlung Wirkung zeigte, ließ sie von ihm ab. »Scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte sie und lächelte verschmitzt. »Die Empfindung kommt wieder zurück, nicht wahr?«
»Die war nie weg«, antwortete er, darum bemüht, ihrem launigen Tonfall zu entsprechen. »Nur die Art der Empfindung hat sich verändert.«
Seine Erregung ließ sich kaum mehr verbergen, was ihn hier, auf offener Straße, in arge Verlegenheit brachte. Noch peinlicher für ihn aber war seine so hilflose, kindische Reaktion auf diese Frau. Und plötzlich kamen Worte über seine Lippen, die sich ein anderer ausgedacht haben musste, denn sie konnten unmöglich seinem Kopf entsprungen sei.
»Ich glaube, wir sollten die Behandlung fortsetzen.«
Die schöne Frau lachte, und ihr Lachen klang wie ein Windspiel. Wieder meldete sich der Drache, drängend, ungestüm.
Ich will sie berühren, lass mich an sie heran.
Ashe versuchte nun, ihn zu unterdrücken, was aber nicht so recht gelingen wollte, da er ja das Gleiche wollte wie sein Drache.
Kalter Schweiß brach ihm aus. Er wusste, dass der Drache aufgrund seiner Unberechenbarkeit und seines Heißhungers in diesem Moment eine große Gefahr darstellte. Wenn er nun die Beherrschung verlöre und hier und jetzt über die schöne Frau herfiele, würde es um sie beide geschehen sein. Dass ihn diese fatale Aussicht nicht wirklich schrecken konnte, machte alles nur noch gefährlicher. Er wollte sie umfangen, sie mit allen seinen Sinnen spüren und auskosten, ehe ihr Herz den nächsten Schlag täte. Und es deutete sich an, dass er davon nicht mehr abzubringen war. Zwar kämpfte er noch dagegen an, doch der Zwilling in ihm übernahm nun das Kommando.
Ich will sie berühren, und du willst es auch.
Ihr Lächeln war atemberaubend. »Schön, dass du wieder scherzen kannst. Alles andere wird sich dann wie von selbst einstellen. Im Übrigen möchte ich im Namen meiner Schwester um Entschuldigung bitten. Sei unbesorgt, wir werden jetzt gehen und dir nie wieder über den Weg laufen. Komm, Jo.« Sie legte dem jüngeren, wenn auch größeren Mädchen einen Arm um die Schulter und führte sie davon.
»So warte!«, platzte es aus ihm heraus.
Sie drehte sich um. Dabei fiel ein Lichtstrahl auf ihr Haar, das selbst noch unter der Kapuze, die sie trug, golden glänzte. Sie zwinkerte mit den Lidern, deren lange schwarze Wimpern an den Grund ihrer tiefgrünen Augen erinnerten. Gegen seinen Willen drängte der Drache nach vorn.
Ich will sie berühren.
Sie könnte eine Dienerin des Dämons sein, dachte Ashe. Sein Widerstand nahm ab.
Ich will sie berühren.
Ja, dachte er im Stillen und gab klein bei.
Ihm war, als finge sein Magen zu kochen an. Er spürte, wie ihm das Blut unter die Haut schoss, registrierte, dass er immer schneller nach Luft schnappte. Dann meinte er ein Bersten in seinem Kopf zu vernehmen, wie wenn Kristall zerschlägt. Der Verstand und alle Sinne ließen ihn im Stich. Die Pupillen weiteten sich, und wie unter Spannung gesetzt, oszillierte seine Haut. Das Blut rauschte, die Muskeln krampften unter dem unwiderstehlichen Eindruck dessen, was sich da als zweite Natur in den Vordergrund drängte.
Der Drache kannte kein Halten mehr und nahm ihm die Zügel aus der Hand. Geboren aus den Elementen, aus denen das Universum zusammengesetzt war, trieb er sein überaus feines Sensorium bis an seine Leistungsgrenzen und nahm Bestand auf von allen Dingen ringsum, und waren sie noch so klein. Die genaue Anzahl der Facetten in den Augen sämtlicher Ameisen, die in den Ritzen der Straße krochen, war ihm ebenso offenbar wie das Zusammenwirken aller Witterungseinflüsse. Und diese geballte Wahrnehmungskraft richtete er nun auf sie, die Frau, und auf sonst nichts.
Zunächst versuchte der Drache den Zauber zu ergründen, der sie umgab. Es ging eine Musik von ihr aus, die ihn, den Drachen, zutiefst bewegte, ein Lied, das in allen Dingen widerhallte. Sie musste eine besonders begnadete Sängerin sein, womöglich im Rang einer Benennerin. Zwar hatte er nur wenig Ahnung von Musik und allen verwandten Künsten, war sich aber über die Kraft, die in ihr lag, durchaus im Klaren. Umso mehr sehnte er sich danach, die Frau zu berühren, von ihr zu lernen, ja, sich ihre Kunst zu Eigen zu machen.
Was da noch so sehr an ihr bestach, war eine ganz ungewöhnliche, aber sehr harmonische Beimischung aus anderen Elementen. Er spürte, dass sie einer anderen Zeit, einer anderen Welt angehörte, wusste aber nicht, was das zu bedeuten hatte. Diese Aspekte faszinierten den Drachen besonders. War sie womöglich hellsichtig, konnte sie in die Zukunft blicken? Es sprach vieles dafür, dass sie cymrischer Abstammung war. Möglich auch, dachte er, dass sie irgendwie mit dem Feuer in Verbindung stand, dem einzigen Element, das ihm fremd blieb.
Ihre Gestalt war ein Fest der Wahrnehmung. Er tastete sie mit den Ausläufern seiner Sinne ab und saugte unverfroren alles in sich auf, was er an Informationen bekommen konnte. Der schwere Umhang, mit dem sie ihren Körper verhüllte, war ihm dabei kein Hindernis, genauso wenig wie ihre Kleider.
Sie war kerngesund, voller Leben und Energie und überraschend muskulös, wirkte aber dennoch zierlich, auch für lirinsche Verhältnisse, und größer, als sie in Wirklichkeit war. Die Proportionen hätten kaum besser verteilt sein können. Sie hatte schmale Schultern, grazile Arme und lange, wohl geformte Beine, die selbst in der weiten Wollhose zur Geltung kamen.
Und erst dieser geschmeidige Rumpf, der schlanke Hals! Er hatte seinen Blick darauf fixiert und stellte sich vor, ihn mit warmen, schwelgerischen Küssen zu bedecken.
Der Hals verjüngte sich zu einem Ausschnitt zwischen Brüsten, die schöner gar nicht hätten geformt sein können. Nur gut, dass er sie lediglich erahnte; ihr Anblick hätte ihn in die Knie gezwungen. Die Taille war so schmal, dass er sie leicht mit beiden Händen hätte umschließen können. Typisch Lirin waren auch ihre schlanken Hüften. Ehe seine Sinne weiter ausholen konnten, brach er die Musterung ihrer äußeren Qualitäten widerstrebend ab, fürchtete er doch, einer Fortsetzung nervlich nicht gewachsen zu sein. Allzu sehr schon brannten seine Lippen, die sich danach verzehrten, den Nacken zu küssen, und der zurückgehaltene Wunsch, ihre Haut zu streicheln, wurde zur Qual. Und der Drache würde nie mehr Ruhe geben, bliebe ihm versagt, sie zu berühren, wie er sich das vorgestellt hatte. Anscheinend kam er ganz gut an bei ihr, was ihn zusätzlich anstachelte, obwohl ihm schwante, dass der Verzicht immer schwerer werden würde. Und so brach er seine Begutachtung an dieser Stelle ab, ehe er sich den schimmernden Haaren unter der Kapuze zuwandte. Er hatte schon genug davon gesehen, um zu wissen, wie hilflos er sein würde, wenn er es nur zuließe, auch nur einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden.
Um sich aus ihrer Verzauberung zu lösen, suchte der Drache nach Schönheitsfehlern, nach irgendwelchen Unvollkommenheiten, die sie als reales Wesen überführten. Ashe fand einen solchen Makel an ihren Fingern. Die waren zwar feingliedrig und weich, hatten aber an den Kuppen eine spröde Hornhaut ausgebildet, die von jahrelangem Harfespielen herrühren mochte. Einen anderen Fehler fand er nicht.
Der Mensch, der sich freiwillig dem Drachen in ihm untergeordnet hatte, zitterte, als der Drache seine Sinnesexkursionen fortsetzte.
Ihr Gesicht war wie das Meisterwerk eines Bildhauers, der daran ein ganzes Leben lang gearbeitet hatte, um es schließlich der Menschheit zu schenken. Alle Züge waren aufs Vortrefflichste aufeinander abgestimmt, mit Ausnahme der Augen vielleicht, die um eine Idee zu groß zu sein schienen. Die dichten schwarzen Wimpern und das dunkle Grün der Iris standen im scharfen Kontrast zum Weiß der Augäpfel. Als wären sie selbst Lichtquellen, so funkelten diese Augen. Sie wirkten hypnotisierend, und sogar der Drache hatte Schwierigkeiten, sich ihrem Bann zu entziehen.
Sie ist vollkommen, urteilte er in hellen Tönen, die nur Ashe hören konnte. Ich will sie haben. Doch hinter der Faszination des Drachen stand auch ein menschliches Interesse. Was ihn an ihr so reizte, war etwas ganz anderes. Sie fühlte sich zwar anscheinend durchaus wohl in ihrer Haut, ließ aber mit keiner Miene erkennen, dass sie sich ihrer außergewöhnlichen Schönheit bewusst war. Ihre Augen waren voller Zärtlichkeit, zeugten aber auch von Schmerz, dessen Tiefe unergründlich schien. Er wünschte zu wissen, was sie so betrübte, und würde ungebeten bis ans Ende der Welt gehen, um Abhilfe zu schaffen. Wenn sie lachte, waren es vor allem die Augen, die lachten, und wenn sie verärgert war, zeigte sich auch das zuerst an ihnen. Er, der einsam und im Verborgenen lebte, beneidete sie für die Offenheit, die sie ausstrahlte.
Sie ist unberührt, eine Jungfrau, flüsterte der Drache aufgeregt. Vollkommen. Doch trotz seiner eingeschränkten Wahrnehmung spürte der Mensch eine Sinnlichkeit von ihr ausgehen, ein Wissen um die Verlockungen des Fleisches, das ihn ganz und gar verwirrte. Eine Jungfrau mit den Reizen einer Kurtisane. Was für ein betörendes Paradox! Er wollte mehr von ihr wissen und schweifte mit seinen Gedanken in die Vorstellung ab.
So deutlich, wie er sie hier in ihrem grauen Umhang vor Augen sah, erblickte er sie im Hochzeitkleid mit Blumen im Haar, und das Lächeln auf dem Gesicht galt ihm. Er ließ seiner Phantasie freien Lauf, stellte sie sich vor im durchschimmernden Gewand der Hochzeitsnacht und spürte, wie ihm klamm und heiß zugleich wurde. Er sah sie das gemeinsame Kind wiegen, dann das Enkelkind. Das Alter setzte zwar, wie er es sich ausmalte, auch ihr zu, doch sie blieb ungebeugt und schön. Es trieb ihm fast die Tränen in die Augen, als er sie schließlich in ihr Leichentuch gewickelt sah, die bezaubernden Augen für immer geschlossen, von zarter, weißer Gaze bedeckt.
Die lang bewimperten Lider schlugen wieder auf.
»Ja?«, fragte sie. Der Drache hatte seine Erkundungen inzwischen abgeschlossen.
»Wie wär’s, wenn wir zu dritt zu Mittag essen?«, schlug er vor. »Nachdem der Streit nun geschlichtet ist. Oder gibt’s noch irgendwelche unguten Gefühle?«
»In dem Fall wäre die Verletzung doch schwerer als angenommen, es sei denn, ich hätte es an Fingerspitzengefühl mangeln lassen«, antwortete sie neckisch.
Er lachte. »Ich dachte, wegen der Bezahlung vielleicht.«
Die schöne Frau sperrte überrascht die Augen auf. Dann kniff sie die Brauen zusammen und fragte:
»Wie bitte? Was soll das heißen?«
Ashe wusste sofort, dass er einen großen Fehler gemacht hatte. »Nichts ... Verzeihung, das sollte nur ein Scherz gewesen sein. Ich glaube, dass du als Kurtisane sehr viel Erfolg haben könntest«, stammelte er unbeholfen.
»Du hältst mich für eine Kurtisane?«
»Nein, ganz und gar nicht, ich ...«
»Unverschämtheit. Komm, Jo.«
»Wartet doch. Es tut mir Leid, bitte, geht nicht einfach so.«
»Aus dem Weg!«
»Versteh mich nicht falsch.«
»Aus dem Weg!« Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu und führte das Mädchen auf den Platz zurück. Verzweifelt schaute er den beiden nach. Seine Sorge, dass sie womöglich mit einem Dämon im Bunde stünde, war nun gänzlich verflogen. Er erinnerte sich, dass sie auf Humor ansprach, und unternahm einen letzten Versuch.
»Soll das heißen, dass aus dem gemeinsamen Mittagessen nichts wird?«
Sie wirbelte auf dem Absatz herum. »In Anbetracht der bescheidenen Größe deines Geldbeutels bezweifle ich, dass du uns beide freihalten kannst. Sei froh, wenn es für dich selbst reicht.« Dann machte sie wieder kehrt und verschwand mit dem Mädchen in der Menge.
Ashe lachte laut auf, was die Leute in seiner Nähe vor Schreck zusammenfahren ließ, denn bislang hatte keiner Notiz von ihm genommen.