24

Nachdem sie ein Frühstück zu sich genommen hatten, das ihnen von Vera angerichtet worden war, gingen Rhapsody und Llauron durch den Park und das weite Feld hinter dem Anwesen auf die Ställe zu, in denen die Pferde des Fürbitters untergebracht waren.

Gwen hatte sich schon vor den beiden auf den Weg dorthin gemacht und ein neues Paar Lederstiefel und eine wollende Reithose für Rhapsody zurechtgelegt. Die Stiefel waren ein bisschen zu groß, ansonsten aber sehr bequem, und Rhapsody dankte der Hausdienerin von Herzen.

Von seinem Wachpersonal abgesehen, standen dem Fürbitter anscheinend nur zwei Dienerinnen zur Seite; dabei wusste Rhapsody aus Serendair von sehr viel weniger bedeutenden Edelmännern, die unvergleichlich viel mehr Dienstboten unterhalten hatten. Das machte ihr den Alten noch sympathischer. Llauron sorgte weitestgehend für sich selbst, was für einen Mann an der Spitze eines Ordens so ungewöhnlich wie liebenswürdig war.

Die Ställe waren sauberer als manche Wohnhäuser. Der Grund lag auf der Hand: Llaurons Pferde zählten zu den prächtigsten, die Rhapsody je gesehen hatte. Manche eigneten sich ihres schlanken, Muskelbepackten Körperbaus wegen besonders gut für den Einsatz im Krieg, während andere ihrer jeweiligen Anlage nach als Reit- oder Zugtiere gezüchtet worden waren. Rhapsody ging interessiert von einem Verschlag zum anderen, schnalzte den Pferden zu, wie sie es von ihrem Vater gelernt hatte, und fand, dass auch diese Tiere auf den Laut mit Neugier reagierten.

»Ist da eins, das dir besonders gut gefällt?«, fragte Llauron schmunzelnd.

»Sie gefallen mir alle.«

»Aber du kannst nur eines reiten. Wenn du Lark kennen lernen möchtest, müssen wir einen kleinen Ausritt unternehmen. Die Sämerei liegt mehrere Wegstunden weit entfernt. Wie wär’s mit dem Rotblonden. Er ist sehr gutmütig.«

Rhapsody nickte, worauf Llauron der Stallmagd zuwinkte und rief: »Norma, sattle ihn bitte, und auch Eliseus. Wir werden bald ausreiten.« Er nahm Rhapsody beim Ellbogen und führte sie wieder nach draußen vor das Tor, wo ein schneidend kalter Wind ging.

Während sie auf die Pferde warteten, zog der Alte ihr, Rhapsody, wie einem kleinen Mädchen die Kapuze des Umhangs über den Kopf. »Die behältst du besser auf, sonst erkältest du dich noch.« Er zog sich gerade selbst seine Kapuze über, als das Tor aufging und Norma den Fuchs und einen Rotschimmel mit glänzender, hübsch geflochtener Mähne an den Zügeln herausführte.

»Da ist ja mein guter Junge. Einen schönen guten Morgen, Eliseus.« Das Pferd schnaubte wie zur Antwort und stieß dicke weiße Dampfwölkchen aus den Nüstern in die kalte Luft. »Also dann, Rhapsody, es kann losgehen.« Sie saßen auf und setzten sich in Bewegung, der Alte vorneweg, dem Waldrand entgegen.

»Dahinten haben wir unsere Kräutergärten«, sagte Llauron, als sie auf eine große Freifläche zuritten, die hinter den Bäumen zum Vorschein trat. »Als Naturpriester beschäftigen wir uns intensiv mit Kräuterkunde, und zwar vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer medizinischen und spirituellen Anwendung. Oh, und natürlich interessieren uns Kräuter auch als Würzmittel. Fades Essen kommt mir nicht auf den Tisch.«

Rhapsody kicherte und zügelte ihren Fuchs in einen gemächlichen Schritt. Durch den Wald zu reiten war ihr ein großes Vergnügen gewesen, zumal Liauron das Gelände gut kannte und die Pfade trotz des Schnees vorzüglich gepflegt waren. Die Zeit schien ihr wie im Fluge vergangen zu sein.

Am Feldrand angekommen, hielt Llauron vor einem gemauerten und mit Stroh bedeckten Haus an, stieg aus dem Sattel und streckte die Arme aus, um Rhapsody zu helfen. Doch sie schüttelte den Kopf und sprang ohne Hilfe aus dem Sattel.

»Hier wohnt Lark, unsere Herbalogin, die für die Sämerei und die Kräutergärten des Ordens verantwortlich ist«, sagte Llauron und klopfte an die Tür. Eine Antwort von drinnen blieb aus, stattdessen meldete sich wenig später eine Stimme, die über das Feld tönte.

»Euer Gnaden! Wir sind hier draußen.« Rhapsody drehte sich um und sah eine groß gewachsene Frau, die mit weiter Hose und dickem Mantel an einem Holzzaun stand und ihnen zuwinkte. Llauron hob grüßend die Hand.

»Das ist Ilyana. Sie ist für die Pflanzung zuständig und unterrichtet die Novizen. Möchtest du sie kennen lernen?«

»Gern.«

Mit vorsichtigen, langen Schritten überquerten sie eine Reihe verschneiter Beete, bis sie auf einen mit Steinen gepflasterten Weg kamen, auf dem ihnen neben Ilyana eine zweite Frau entgegenkam. Sie war mittleren Alters, hatte ihr langes dunkles Haar zu einem Zopf geflochten und mit einem Tuch im Nacken zusammengefasst. Ihr Gesicht ließ erkennen, dass sie sich hauptsächlich im Freien aufhielt. Und sie war unverkennbar eine Lirin.

Im Unterschied zu Rhapsodys Mutter, die den Liringlas entstammte und darum silbrig blondes Haar hatte und einen rosigen Teint, gehörte Lark den Lirindarc an, also dem Volk, das in den Wäldern der Sagia lebte und eine dunkle, fast ledrige Haut besaß. Sie hatten zwar durchweg eine ebenso schlanke Gestalt wie die Liringlas und ähnlich scharf geschnittene Gesichter, aber dunkelbraune, mitunter sogar schwarze Augen, die auch noch in der Dunkelheit zu sehen vermochten.

Rhapsody spürte, wie sich ihr beim Anblick dieser Frau ein Kloß im Hals bildete, gerade so wie tags zuvor, als sie Gwen zum ersten Mal gesehen hatte. Rhapsody war als Lirin nicht allein in dieser Gegend; Angehörige ihrer Art lebten also auch hier, und nicht nur, wie von Llauron am Vorabend angedeutet, in Tyrian, dem Land im Süden, das von den cymrischen Siedlern Realmalir genannt worden waren.

Llauron streckte die Hand aus und legte sie der Frau, die da auf sie zukam, auf die Schulter. »Lark, ich möchte dir Rhapsody vorstellen. Sie ist mein Gast und selbst vom Fach der Kräuterkunde.«

Rhapsody errötete. »Oh, nicht wirklich. Ich kenne mich bloß ein bisschen mit Pflanzen aus, mehr nicht.« Lark nickte und rührte ansonsten keine Miene.

Die große Frau neben ihr streckte die Hand aus. »Angenehm. Ich bin Ilyana.« Rhapsody schüttelte ihr die Hand und lächelte. Wenig später bemerkte sie, wie ihrem Gegenüber ein sonderbarer Ausdruck übers Gesicht huschte.

»Ich möchte euch und insbesondere dich, Lark, bitten, unseren Gast von euch lernen zu lassen«, sagte Llauron. »Sie interessiert sich für die Kunst des Gartenbaus, und wenn es mir die Zeit erlaubt, werde ich ihr selbst ein paar Lektionen erteilen.«

»Ist sie eine Novizin?«, wollte Lark wissen, deren Miene immer noch vollkommen ungerührt war.

»Nein, sie ist nur zu Besuch. Ich vertraue darauf, dass ihr sie mit allem gebotenen Respekt behandelt.«

Erneut nickte Lark mit dem Kopf. »Wohl denn, gebt ihr bitte ein paar Arbeitskleider und zeigt ihr, wo sie sich umziehen kann. Du scheust dich hoffentlich nicht, dir die Hände schmutzig zu machen, mein Kind, oder?«

»Ihr erinnert Euch doch bestimmt, wie ich ausgesehen habe, ehe Ihr so freundlich gewesen seid, mir durch Gwen ein Bad richten zu lassen.«

Llauron lachte. »O ja, ich erinnere mich. Nun, das wäre also geklärt. Ich weiß dich hier in guten Händen, Rhapsody. Am Abend hole ich dich dann wieder ab.«

»Bleibt sie denn nicht hier bei uns im Lager?«, fragte Lark.

»Nein. Sie ist, wie ich schon sagte, mein Gast«, antwortete Llauron mit nach wie vor freundlicher Stimme, doch seine Augen funkelten auf eine Weise, die Rhapsody ein wenig beklommen machte.

»Du weißt wohl auch, dass ich dich nicht behelligen würde, wenn sie nicht mit unserer Sache sympathisierte.« Lark nickte wieder, und das mit unverändert starrem Gesichtsausdruck.

»Unserer Sache?«, fragte Rhapsody irritiert nach.

Llauron warf Lark einen flüchtigen Blick zu, wandte sich dann an Rhapsody und lächelte.

»Ich meine den Schutz des Waldes und der Erde, die Pflege des Großen Weißen Baums. Darum geht es dir doch auch, wenn ich dich recht verstanden habe, nicht wahr, mein liebes Kind. Liegt nicht auch dir die Natur am Herzen?«

»0 doch, allerdings.«

»Na bitte. Dann will ich mich jetzt verabschieden. Auf Wiedersehen, Mutter Lark; auf Wiedersehen, Ilyana. Und dir, mein liebes Kind, wünsche ich, dass du mit Freude lernst.« Llauron ging über den gepflasterten Pfad zurück, bestieg sein Pferd, winkte den drei Frauen noch einmal zu und ritt davon. Rhapsody schaute ihm nach, bis er im Wald verschwand.

Ilyana legte ihr einen Arm um die Schulter und fragte: »Du bist gestern Abend angekommen?«

»Ja.«

Die beiden Filiden sahen einander an. »Dann warst du der Grund für all den Wirbel«, sagte Ilyana. Lark drehte sich um und ging auf den umzäunten Acker zurück.

»Wirbel?«, fragte Rhapsody, der plötzlich ganz mulmig zumute war.

»Ja, gestern Abend sind Dutzende von Dörflern aus dem Osten durch den heiligen Wald getrampelt. Llauron musste mitten in der Nacht raus, um sie nach Hause zu schicken. Ich habe keine Ahnung, was sie wollten. Es war, als erwarteten sie jemanden, den sie schon lange hatten entbehren müssen.«

Rhapsody hatte den Eindruck, als klammerten sich eiskalte Krallen um ihren Magen. Für wen hielten sie all die Leute, die ihr gefolgt waren? Sie hatte sich nur kurz blicken lassen und war gleich darauf mit Khaddyr abgezogen. Wieso sollte man ihr nachstellen? Sie hatte sich doch nichts zu Schulden kommen lassen.

Zugegeben, sie hatte vermutlich ein erschreckendes Bild abgegeben, als sie aus dem Wald aufgetaucht war. Vielleicht hielt man sie für einen bösen Geist, verantwortlich für den Tod oder die Erkrankung irgendeines Bauern, für schlechtes Wetter oder Ernteeinbußen. Sie wickelte den Umhang enger um sich.

Ilyana bemerkte, dass sie nervös geworden war, und rückte näher. »Keine Sorge, sie sind wieder weg und werden nicht zurückkommen. Es scheint, das Llauron beschlossen hat, dich zu beschützen; wenn dem so ist, bist du wirklich in Sicherheit. Komm jetzt, du kannst uns helfen, den Komposthaufen umzuschichten.«

Über eine Woche kam Rhapsody jeden Tag, um von Lark zu lernen. Die Herbalogin gab nur selten einen Laut von sich, und wenn sie den Mund aufmachte, redete sie ausschließlich über Pflanzen. Es dauerte eine Weile, bis Rhapsody erkannte, dass ihre Lehrerin von Natur aus sehr schüchtern und scheu war.

Wenn Lark aber von ihren Kräutern oder Anbaumethoden sprach, wurde sie mitunter sehr lebhaft, und in ihrer Stimme schwang echte Begeisterung mit. Sie war in ihrem Fach enorm bewandert, und Rhapsody machte sich fleißig Notizen, wofür ihr Ilyana Pergamentblätter zur Verfügung stellte. Wenn es für die Arbeit in den Gärten allzu kalt oder stürmisch war, hielten sie sich in Larks Haus auf, wo sie dann Kräuter trockneten oder zu Gesundheitstees weiterverarbeiteten. Es duftete herrlich in den Räumen, und die Arbeit ging Rhapsody leicht von der Hand, denn sie schätzte sich glücklich, so viel dazulernen zu können. Manchmal sang sie Lark lirinsche Lieder vor, die sie von ihrer Mutter gelernt hatte, doch die Lehrerin verstand die Worte nicht.

Am zehnten Tag wurde Rhapsody von Ilyana zu einem Ausflug eingeladen, und die beiden ritten über die weiten Felder, die, obwohl der Winter noch längst nicht vorüber war, schon jetzt in harter Arbeit für den Frühling vorbereitet wurden. Die Gemeinde, um die sich die Filiden als Seelsorger kümmerten, bestand zum größten Teil aus Bauern und Landarbeitern. Insgesamt zählte die hier im Westen des Kontinents gepflegte Religion nach Auskunft von Ilyana an die halbe Million Gläubige, eine Zahl, über die Rhapsody nur staunen konnte.

Was sie besonders interessant fand, waren die Pflanz- und Ernteriten, mit denen der Ackerboden und seine Früchte gesegnet wurden. Die liturgischen Sprüche, die die Novizen auswendig zu lernen hatten, waren tatsächlich in Rhapsodys Muttersprache gehalten. Die Filiden nannten sie Alt-Cymrisch, was Rhapsody wie eine bittere Ironie anmutete. Gehörten sie, Achmed und Grunthor demnach zum Volk der Alt-Cymrer?

Schlimmer noch: Genau genommen waren sie deren Vorfahren. Es schien wirklich so, als hätte die Zeit sie vergessen. Würde sie sich ihrer erinnern, so wäre das gewiss ihr Ende.

Als ein Monat vergangen war, wurde Rhapsody wieder der Obhut des Priesters Khaddyr anvertraut. Er war ein Meister der Heilkunst und legte Wert darauf, als solcher respektiert zu werden, und obwohl er häufig einen sehr überheblichen Eindruck machte, fand Rhapsody in ihm einen fähigen Lehrer, der sein Wissen so vermittelte, dass das Lernen leicht fiel und das Erlernte sogleich praktisch umzusetzen war.

Zwei Wochen lang pflegte sie die Patienten in den von Khaddyr geleiteten Spitälern. Danach kam sie zu Bruder Aldo in die Lehre, der ebenfalls ein filidischer Heiler war, seine Kunst aber ausschließlich an Tieren praktizierte. Es machte ihr großen Spaß, von ihm zu lernen. Er war freundlich und sanft und hatte eine Art, die selbst auf die wildesten Tiere beruhigend wirkte.

Schließlich wurde sie zu Gavin geschickt, dem ernsten, stillen Vorsteher der Förster und Waldläufer, jener bewaffneten Männer, die ihr schon aufgefallen waren, als Khaddyr sie zum Baum geführt hatte. Diese Männer bereisten das weite Land und dienten zuweilen den Gläubigen als Führer auf den Cymre-Pfaden den markierten Wegstrecken, die laut Auskunft Llaurons die erste und dritte Emigrantengruppe nach ihrer Landung eingeschlagen hatten. Diese Pfade wurden heutzutage anscheinend nur selten begangen; sehr viel beliebter waren die Pilgerwege, die zum Baum führten. Rhapsody stellte fest, dass die Mehrzahl der Waldläufer, anstatt Wallfahrer zu begleiten, damit beschäftigt war, im heiligen Forst Patrouille zu gehen und Übergriffe abzuwehren, wenn es sein musste, auch mit Waffengewalt. In Khaddyrs Spital wurden ab und an Verwundete aus den Reihen der Waldläufer eingeliefert, was offenbar nichts Ungewöhnliches war, denn Khaddyr und seine Studenten machten kein besonderes Aufhebens um diese Patienten.

Rhapsody kehrte immer am späten Nachmittag in das Haus des Fürbitters zurück, dann, wenn auch Llauron Feierabend machte und von seinen Amtspflichten als Oberhaupt der Filiden entbunden war, Pflichten, die – nach dem Eindruck, den Rhapsody gewann – sehr umfangreich und anstrengend zu sein schienen.

In jeder Ortschaft hatte Llauron einen Filiden damit beauftragt, über Ackerbau und Viehzucht zu wachen und darauf zu achten, dass Natur und Landwirtschaft im Gleichgewicht blieben. Zu Llaurons Aufgaben zählte ferner, dass er den Pilgern Führer zur Seite stellte und die Herbergen entlang der Pilgerstrecke in Ordnung hielt. Er tat seine Arbeit zwar nicht ungern, hatte Rhapsody aber anvertraut, dass er die Zeiten vermisse, in denen er als junger Mann die wilden Meere befahren und Urwälder durchstreift habe und frei von allen Pflichten gewesen sei.

Von diesen vergangenen Tagen erzählte er ihr meist, wenn sie gemeinsam lange Spaziergänge unternahmen, auf denen er außerdem über die Natur philosophierte und sie, seine Schülerin, auf verschiedene Aspekte des Waldes und der Welt ringsum aufmerksam machte. Er konnte jedes Tier benennen und wusste zu sagen, in welcher Anzahl die einzelnen Arten in etwa vorkamen. Er kannte auch jede Pflanze und jeden Baum und ließ Rhapsody an seinem Wissen teilhaben.

Für sie war es fast, als lauschte sie einem Lied, wenn sie, an seiner Seite gehend, vernahm, was er über die Bäume zu sagen hatte, über die starken, heiligen Eichen, über die Nähe der Eschen zur spirituellen Welt, weswegen ihre Zweige auch als Zauberstäbe oder für magische Riten gebraucht wurden. Er erzählte, dass Weiden gierig, Ahornbäume die geborenen Anführer und immergrüne Bäume abenteuerlustig seien. Er klärte sie über besondere Pflanzen des Waldes auf, über Misteln und Stechpalmen und deren spirituelle Eigenschaften, über Farne und Minze und viele andere mehr. Wenn er besonders guter Laune war, sang er ihr auch manchmal ein Seefahrershanty vor.

Llauron war noch erstaunlich gut zu Fuß. Rhapsody kannte Männer, die nur halb so alt, aber im Vergleich zu ihm geradezu hinfällig waren. Wenn sie wanderten, schwang der Fürbitter einen Stock aus weißem Holz und mit goldenem Knauf in der Hand, nicht so sehr zur Stütze als vielmehr, um seinen Schritten den Takt anzugeben.

Der Stock war aus dem Holz des Großen Weißen Baums geschnitzt, einem Ast, der vor langer Zeit von einem Sturm abgerissen und Ulbren, dem Jüngeren, gegeben worden war, jenem Fürbitter, der noch von Serendair stammte und die Religion der Filiden in die Emigration mitgenommen hatte. Der Stock galt als Symbol seines Amtes, doch Llauron trug ihn wie einen ganz gewöhnlichen Stecken, zeigte damit auf das, worauf er aufmerksam machen wollte, oder klopfte mit ihm an die Stämme alter Bäume, um vom Klang, der dabei entstand, Rückschlüsse auf ihren Gesundheitszustand zu ziehen. Die Spaziergänge endeten für gewöhnlich unter den Zweigen des Großen Baums, wenn die Sonne unterging, also gerade rechtzeitig für Rhapsody, um ihre Dämmerungsvesper zu singen. Für sie stand inzwischen fest, dass Llauron schon vor ihrer Ankunft über die Sitten und Gebräuche der Liringlas unterrichtet gewesen war und deshalb von ihr nichts anderes erwartete, als dass sie mit ihrem Gesang der Sonne und den Sternen einen Gruß entrichtete. Und so tat sie ihm gegenüber auch nicht mehr heimlich, was ihre Art des Gottesdienstes anging, obwohl sie Achmeds Mahnung nicht vergessen hatte. Wenn sie sang, stand der Fürbitter immer lächelnd neben ihr unter dem Baum, behielt aber stets für sich, welche Gedanken ihm dabei durch den Kopf gingen.

Anschließend aßen sie gemeinsam zu Abend und unterhielten sich häufig bis spät in die Nacht über den Wald und seine Tiere oder über das Zeitalter der Cymrer und seine Wunder. Beliebtes Gesprächsthema zwischen ihnen war die cymrische Ratsversammlung, die alljährlich stattfand und zu der alle Flüchtlinge von Serendair zusammenkamen, und zwar an den so genannten Großen Gerichtshof. Die wichtigste Aufgabe des Rates bestand darin, zwischen den verschiedenen Volksgruppen der Flüchtlinge zu vermitteln und dafür zu sorgen, dass sie wieder enger in Kontakt zueinander traten und die Kluft überbrückten, die der cymrische Krieg aufgerissen hatte. Llauron war überzeugt davon, dass es zwischen Sorbold, Roland und den Ländern der Firbolg nur dann dauerhaft Frieden geben könnte, wenn sie wieder zu einer Nation zusammenfänden.

»Und was ist mit den Lirin?«, fragte Rhapsody eines Abends über eine Tasse Süßfarntee hinweg.

»Die Lirin sind nie Teil des Cymrerreiches gewesen. Sie waren ja schon vorher hier und haben sich immer gegen einen Anschluss gewehrt, obwohl sie Verbündete und gute Freunde der ersten Flüchtlingsgeneration waren. Es ist tragisch, dass sie in den Krieg hineingezogen wurden, der schließlich einen Großteil von Tyrian verwüstet hat. Dem ist letztlich auch ihre Gemeinschaft zum Opfer gefallen, sodass nun auch die Lirin ein geteiltes Volk sind. Eine Schande ist das.« Llauron wurde still und starrte ins Feuer.

Rhapsody nickte. »Ich werde bald Abschied nehmen müssen«, sagte sie unvermittelt.

Sofort wandte sich ihr der Fürbitter zu, doch seiner Miene war weder Verdruss noch irgendeine andere Regung abzulesen. »Wie schade. Mir war natürlich klar, dass dieser Tag kommen würde, und ich muss gestehen, dass ich mich davor gefürchtet habe. Wir – das sind Gwen und Vera und ich – haben dich ins Herz geschlossen. Und ich bin sicher, dass auch deine Lehrer traurig sein werden, wenn sie erfahren, dass du uns verlassen musst.«

»Mir fällt der Abschied selber schwer«, antwortete sie. »Ich habe so viel von Euch und allen anderen gelernt.« Ihr kam plötzlich ein Einfall, und sie sagte: »Darf ich Euch eine Frage über die filidischen Lehrer stellen?«

»Nur zu.«

»Eure Priester sind doch, wenn ich es richtig verstanden habe, nicht zur Keuschheit verpflichtet, stimmt’s?«

»Nein, an solche törichten Vorschriften mögen sich der Patriarch von Sepulvarta und seine so genannten Seligpreiser halten, wir nicht. Warum fragst du?«

»Nun, mir ist aufgefallen, dass nicht ein Angehöriger der Priesterschaft von Gwynwald verheiratet ist.«

Llauron lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und führte beide Hände so zusammen, dass sich nur die Fingerspitzen berührten. »Tja, so ist es wohl«, entgegnete er. »Ilyana war allerdings verheiratet, doch ihr Mann kam vor ungefähr zehn Jahren im Kampf ums Leben. Lark ist nie verheiratet gewesen; du weißt, wie schüchtern sie ist. So auch Bruder Aldo. Er hat lieber Tiere als Frauen um sich – dabei könnte ich ihn mit manchem Weib bekannt machen, das dieser seiner Vorliebe in gewisser Hinsicht durchaus entgegen käme.« Rhapsody lachte. »Gavin hat zum Heiraten viel zu wenig Zeit; er ist ständig von einem Ort zum anderen unterwegs. Und Khaddyr, nun, ihm ist es als meinem Tanist in der Tat verboten, zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen.«

»Als Eurem was?«, hakte Rhapsody nach.

»Wenn die Filiden einen neuen Fürbitter wählen, wenden sie heutzutage die Regeln des Tanisters an, das an die Stelle jenes alten, grausamen Auswahlverfahrens getreten ist, wonach sich die Kandidaten in einem Kampf auf Leben und Tod miteinander messen mussten.«

»Ich erinnere mich. Khaddyr hat davon gesprochen und gesagt, dass diese Rituale schon lange nicht mehr praktiziert werden und dass Eure Wahl nach einer anderen Methode durchgeführt wurde.«

»Richtig«, sagte Llauron. »Das Tanister schreibt vor, aufweiche Art und Weise der Orden die Nachfolge seiner Führung zu regeln hat.« Er beugte sich vor, als wollte er ihr ein Geheimnis anvertrauen. »Ehrlich gesagt, ich halte mich für sehr viel vitaler als Khaddyr und bezweifle, dass er mich überleben wird.«

Sie lachte wieder unwillkürlich auf und schämte sich ein wenig dafür. »Das kann ich nur bestätigen.«

»Es kann durchaus sein, dass, wenn die Kreisältesten wieder zusammentreten, die Entscheidung rückgängig gemacht und Gavin zu meinem Nachfolger bestimmt wird. Er hat eindeutig bessere Aussichten, mich zu überdauern, und ist überdies ein sehr weiser Mann. Nicht, dass ich Khaddyr grundsätzlich für untauglich hielte. Er ist einer der besten und freundlichsten Männer, die ich kenne, und einzigartig, was seine Heilkunst angeht.« Rhapsody nickte beifällig.

»Ein Tanist verpflichtet sich zur Keuschheit, weil dadurch Probleme der Nachfolge und Erbschaft vermieden werden. Hätte der Tanist Kinder, bevor er oder sie in das Amt des Fürbitters aufsteigt, käme es fast zwangsläufig zu Komplikationen bei der Benennung eines Nachfolgers. Es ist ein verzwacktes Verfahren. Angehende Fürbitter dürfen heiraten, wenn sie denn wollen, aber wenn ihr Vorgänger endlich gestorben ist und sie in ihr Amt eingesetzt werden, sind sie meist schon alt und klapprig. Verrückt, nicht?«

»Das scheint mir auch so.« Rhapsody konnte kaum die Augen aufhalten, so müde war sie. »Wenn ihr mich entschuldigt, Llauron, würde ich jetzt gern zu Bett gehen.«

Llauron stand auf und begleitete sie zur Tür seines Arbeitszimmers. »Ja, mein Kind, schlaf dich richtig aus. Du hast einen schweren Tag vor dir.« Er berührte ihren Arm. »Übrigens, deine beiden Begleiter sind herzlich eingeladen, auf einen Besuch vorbeizuschauen. Es würde mich freuen, sie kennen zu lernen.«

Rhapsodys Arm fing unter seiner Berührung zu zittern an. Sie hatte ihre Firbolg-Freunde mit keinem Wort erwähnt. Als sie fragend aufblickte, sah sie den Alten mit den Augen blinzeln.

»Wie bitte?«

»Ach, mein Kind, hast du wirklich geglaubt, mir würde es entgehen, wenn Fremde mein Land betreten? Ich hatte fast schon befürchtet, es könnte sich um einen feindlichen Überfall handeln. Aber das erschien mir dann doch als sehr unwahrscheinlich. Mir war bald klar, dass sie auf dich warten, zumal sie die ganze Zeit über mein Haus im Auge haben. Ich bin ganz neugierig zu erfahren, wie du mit den beiden zusammengetroffen bist. Also, wie wär’s, wenn du sie zu einem Besuch einladen würdest?«

Rhapsody zitterte inzwischen am ganzen Körper. »Ich ... ich halte das für keine gute Idee«, flüsterte sie mit bebender Stimme. »Die beiden sind, nun, nicht gerade gesellschaftsfähig.«

Llauron nickte. »Das würde ich ihnen nicht ankreiden. Firbolg sind von anderen immer wieder sehr schlecht behandelt worden. Aber was sagst du zu folgendem Vorschlag? Frag sie, ob sie bereit wären, mit mir zusammenzutreffen. Ich würde sie dann in ihrem Lager aufsuchen. Es ist mir ein echtes Bedürfnis. Ich bin noch nie mit einem Firbolg zusammengetroffen.«

Der Sängerin schwirrte der Kopf. »Na schön«, sagte sie schließlich. »Fragen kann ich ja.«

Der Alte grinste breit. »Ausgezeichnet. Ich bin schon sehr gespannt auf die Begegnung. Gute Nacht, mein liebes Kind.«

»Gute Nacht.« Sie verließ das Arbeitszimmer und eilte nach oben in ihre Kammer. Schnell hatte sie sich ausgezogen und unter den Decken verkrochen. Wie, so fragte sie sich unablässig, sollte sie ausgerechnet Achmed, der doch allem Fremden und besonders Priestern gegenüber mehr als skeptisch war, Llaurons Bitte nahe bringen? Darauf wollte ihr einfach keine befriedigende Antwort einfallen. Schließlich überwältigte sie der Schlaf. Und auch in dieser Nacht plagten sie üble Träume. Doch es war diesmal nicht der Untergang der Insel, der sie im Schlaf erschauern ließ, sondern die Reaktion der Freunde, die annahmen, dass sie, Rhapsody, ihr Geheimnis preisgegeben hätte.

Загрузка...