Wohin?



Der Riese lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ein paar Geschichten hast du noch übrig«, sagte er. »Ich kann sie auf deiner Haut riechen.«

Brian Patten, The Story Giant


Farid sah zu, wie sie die Verletzten im Schutz der Nacht auf die Trage legten. Die Verletzten und die Toten. Gleich sechs Räuber standen zwischen den Bäumen, lauschend auf jedes Geräusch, das Gefahr verheißen könnte. Nur die Spitzen der Silbertürme waren in der Ferne zu sehen, hell vom Licht der Sterne, und doch war es ihnen allen, als könnte der Natternkopf sie sehen. Könnte es spüren oben in seiner Burg, wie sie mit leisen Sohlen über seinen Hügel schlichen. Wer konnte sagen, was alles der Natternkopf nun vermochte? Nun, da er unsterblich war und unbesiegbar wie der Tod selbst?

Doch die Nacht blieb still, still wie Staubfinger, den der Bär des Schwarzen Prinzen zurück nach Ombra ziehen sollte. Auch Meggie würde fürs Erste dorthin zurückkehren, auf die andere Seite des Waldes, mit Zauberzunge und ihrer Mutter. Der Schwarze Prinz hatte ihnen von einem Dorf erzählt, zu arm und fernab jeder Straße gelegen, um irgendeinen Fürsten zu interessieren. Dort oder auf einem der umliegenden Höfe wollte der Prinz sie verstecken.

Sollte er mit ihnen gehen?

Farid sah, wie Meggie zu ihm herüberblickte. Sie stand bei ihrer Mutter und den anderen Frauen. Zauberzunge stand mit den Räubern zusammen, das Schwert am Gürtel, mit dem er angeblich Basta getötet hatte - und nicht nur ihn. Fast ein Dut-zend Männer sollten durch seine Hand gestorben sein, so hatte Farid es gleich von mehreren Räubern gehört. Kaum zu glauben. Damals, in den Hügeln bei Capricorns Dorf, hatte Zauberzunge nicht mal eine Amsel töten wollen, als sie sich zusammen versteckt hatten, geschweige denn einen Menschen. Andererseits - wodurch hatte er selbst das Töten gelernt? Die Antwort war nicht schwer. Durch Angst und Zorn. Nun, davon gab es wahrlich genug in dieser Geschichte.

Auch Roxane stand bei den Räubern. Sie kehrte Farid den Rücken zu, sobald sie seinen Blick bemerkte. Sie behandelte ihn wie Luft - als wäre er nie unter die Lebenden zurückgekehrt, als wäre er nur ein Geist, ein böser Geist, der das Herz ihres Mannes gefressen hatte. »Wie war es, tot zu sein, Farid?«, hatte Meggie ihn gefragt, aber er erinnerte sich nicht. Vielleicht wollte er sich auch nur nicht erinnern.

Orpheus stand kaum zwei Schritte entfernt von ihm, fröstelnd in dem dünnen Hemd, das er trug. Der Prinz hatte ihm befohlen, seinen hellen Anzug gegen einen dunklen Umhang und wollene Hosen einzutauschen. Aber trotz der Kleider sah er immer noch aus wie ein Kuckuck zwischen Sperlingen. Fenoglio beobachtete ihn so misstrauisch wie ein alter Kater einen jungen Streuner, der sich in sein Revier geschlichen hatte.

»Er sieht aus wie ein Dummkopf!« Fenoglio hatte Meggie die Worte so laut zugeraunt, dass jeder sie hören konnte. »Schau ihn dir doch nur an. Ein Milchgesicht, weiß nichts vom Leben, wie soll er da schreiben können? Vermutlich wäre es am besten, ihn gleich zurückzuschaffen, aber was soll’s? Die elende Geschichte ist ohnehin nicht mehr zu retten.«

Vermutlich hatte er Recht. Aber warum hatte er auch nicht selbst versucht, Staubfinger zurückzuschreiben? Lag ihm denn gar nichts an denen, die er erschaffen hatte? Schob er sie nur herum wie Figuren in einem Schachspiel und freute sich an ihren Schmerzen?

Farid ballte die Fäuste in hilflosem Zorn. Ich hätte es versucht!, dachte er. Hundertmal, tausendmal, für den Rest meines Lebens. Aber er konnte die seltsamen kleinen Zeichen ja nicht mal lesen! Die Hand voll, die Staubfinger ihm beigebracht hatte, würde kaum ausreichen, um ihn von dort zurückzuholen, wo er jetzt war. Selbst wenn er seinen Namen mit Feuer an die Mauern der Nachtburg schrieb, Staubfingers Gesicht würde weiter so schrecklich still bleiben, wie er es zuletzt gesehen hatte.

Nein. Nur Orpheus konnte es versuchen. Aber er hatte noch nicht ein Wort geschrieben, seit Meggie ihn hergelesen hatte. Dumm dastehen tat er - oder ging auf und ab, auf und ab, während die Räuber ihn misstrauisch musterten. Auch Zauberzunge warf ihm wenig freundliche Blicke zu. Er war blass geworden, als er Orpheus wiedergesehen hatte. Für einen Moment hatte Farid gedacht, er würde sich den Käsekopf greifen und windelweich schlagen, aber Meggie hatte ihn schnell beim Arm genommen und mit sich gezogen. Was die beiden miteinander gesprochen hatten - sie hatte nichts darüber erzählt. Sie hatte gewusst, dass ihr Vater es nicht gutheißen würde, wenn sie Orpheus herlas, und dennoch hatte sie es getan. Für ihn. Interessierte Orpheus das? O nein. Er tat immer noch, als hätte seine eigene Stimme und nicht Meggies ihn hergebracht. Aufgeblasener, dreimal verfluchter Hundesohn!

»Farid? Hast du dich entschieden?« Er fuhr aus seinen düsteren Gedanken. Meggie stand vor ihm. »Du kommst mit uns, ja? Resa sagt, du kannst bei uns bleiben, so lange du willst, und Mo hat auch nichts dagegen.«

Zauberzunge stand immer noch bei den Räubern, er sprach mit dem Schwarzen Prinzen. Farid sah, wie Orpheus die zwei beobachtete. Dann begann er erneut, auf und ab zu gehen, rieb sich die Stirn, murmelte vor sich hin, als redete er mit sich selbst. Wie ein Verrückter, dachte Farid. Ich hab meine Hoffnung auf einen Verrückten gesetzt!

»Warte hier.« Er ließ Meggie stehen und lief zu Orpheus hinüber. »Ich hab mich entschieden. Ich werd mit Meggie gehen!«, sagte er barsch. »Und du kannst bleiben, wo du willst.«

Der Käsekopf rückte sich die Brille zurecht. »Was redest du da? Ich komme selbstverständlich mit! Ich will mir Ombra ansehen, den Weglosen Wald, die Burg des Speckfürsten.« Er blickte den Hügel hinauf. »Die Nachtburg hätte ich natürlich auch gern gesehen, aber nach dem, was hier vorgefallen ist, scheint es wohl nicht der richtige Zeitpunkt. Nun ja, es ist gerade mein erster Tag hier. Hast du den Natternkopf schon gesehen? Ist er sehr furchteinflößend? Diese schuppigen Silbersäulen würde ich schon gern mal sehen.«

»Du bist nicht hier, um dir alles anzusehen!« Farids Stimme überschlug sich fast vor Zorn. Was bildete der Käsekopf sich ein? Wie konnte er dastehen und sich umsehen, als wäre er auf einer Vergnügungsreise, während Staubfinger bald in irgendeiner finsteren Gruft liegen würde oder wo immer sonst Roxane ihn hinbringen wollte!

»Ach nein?« Orpheus’ rundes Gesicht verfinsterte sich. »In was für einem Ton redest du mit mir? Ich tue, was ich will. Glaubst du, ich bin endlich an dem Ort, an dem ich immer sein wollte, nur um mich von einem Rotzbengel herumkommandieren zu lassen? Denkst du, man kann Worte einfach aus der leeren Luft pflücken? Hier geht es um den Tod, du Milchbart! Es kann Monate dauern, bis ich den richtigen Einfall habe. Einfälle kann man nicht herbeirufen, nicht mal mit Feuer -und wir brauchen einen genialen, einen göttlichen Einfall. Was bedeutet - «, Orpheus betrachtete seine Fingernägel; sie waren abgebissen, bis aufs Fleisch seiner kräftigen Finger, »- dass ich einen Diener brauche! Oder willst du, dass ich meine Zeit darauf verschwende, meine Kleider zu waschen und mir etwas zu essen zu beschaffen?«

Der Hund. Der verfluchte Hund. »Also gut. Ich werde dein Diener sein«, Farid brachte die Worte nur mühsam über die Lippen, »wenn du ihn zurückholst.«

»Hervorragend!« Orpheus lächelte. »Dann besorg mir fürs Erste etwas zu essen. Wie es aussieht, liegt vor uns ein unappetitlich langer Fußmarsch.«

Zu essen. Farid biss die Zähne zusammen, aber er gehorch-te, natürlich. Er hätte das Silber von den Türmen der Nachtburg gekratzt, um Staubfinger wieder zum Atmen zu bringen.

»Farid? Was ist nun? Kommst du mit uns?« Meggie trat ihm in den Weg, als er an ihr vorbeilief, in den Taschen Brot und gedörrtes Fleisch für den Käsekopf.

»Ja! Ja, wir kommen mit euch!« Er schlang ihr die Arme um den Hals, aber erst, als er sah, dass Zauberzunge ihnen den Rücken zukehrte. Bei Vätern wusste man nie. »Ich werde ihn retten, Meggie!«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich hole Staubfinger zurück. Diese Geschichte wird ein gutes Ende haben. Ich schwöre es.«



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