Farid



»Er war starrköpfig wie ein Maulesel, schlau wie ein Affe und flink wie ein Hase.«

Louis Pergaud, Der Krieg der Knöpfe


Resa nahm Farid mit in die Küche und verarztete erst einmal seine Füße. Sie sahen furchtbar aus, zerschnitten und blutig. Während Resa sie säuberte und mit Pflastern bedeckte, begann Farid zu erzählen, die Zunge schwer vor Erschöpfung.

Meggie gab sich alle Mühe, ihn nicht allzu oft anzustarren. Er war immer noch etwas größer als sie - obwohl sie sehr gewachsen war, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. in der Nacht, in der er sich mit Staubfinger davongemacht hatte, mit Staubfinger und dem Buch. Sie hatte sein Gesicht ebenso wenig vergessen wie den Tag, an dem Mo ihn aus seiner Geschichte gelesen hatte. Tausendundeine Nacht. Sie kannte keinen anderen Jungen, der so schöne Augen hatte, fast wie die eines Mädchens und ebenso schwarz wie sein Haar, das er kürzer trug als damals; es ließ ihn erwachsener aussehen. Farid. Meggie spürte, wie ihre Zunge seinen Namen kostete - und wandte schnell den Blick ab, als er den Kopf hob und sie ansah.

Auch Elinor starrte ihn unentwegt an, ohne sich dafür zu schämen, auf ebenso feindselige Weise, wie sie Staubfinger gemustert hatte, als er an ihrem Küchentisch gesessen und seinen Marder mit Brot und Schinken gefüttert hatte. Farid hatte sie gar nicht erst erlaubt, den Marder mit ins Haus zu bringen. »Wehe, er frisst auch nur einen Singvogel in meinem Garten!«, hatte sie gesagt, als der Marder über den hellen Kies davonhuschte, und die Tür hinter ihm verriegelt, als könnte Gwin verschlossene Türen ebenso leicht öffnen, wie sein Herr es getan hatte.

Farid spielte mit einem Päckchen Streichhölzer, während er erzählte.

»Sieh dir das an!«, raunte Elinor Meggie zu. »Genau wie der Streichholzfresser. Kommt es dir nicht auch so vor, als sähe er ihm schon ähnlich?«

Aber Meggie antwortete nicht. Sie wollte nicht ein Wort von dem verpassen, was Farid zu berichten hatte. Sie wollte alles hören über Staubfingers Heimkehr, über den anderen Vorleser und seinen Höllenhund, das fauchende Etwas, das vielleicht eine der großen Katzen aus dem Weglosen Wald gewesen war - und das, was Basta Farid nachgeschrien hatte: Lauf nur, ich krieg dich doch, hörst du? Dich, den Feuerfresser, Zauberzunge und seine feine Tochter und den alten Mann, der die verfluchten Worte geschrieben hat! Ich werd euch alle töten. Einen nach dem anderen!

Während Farid erzählte, wanderte Resas Blick immer wieder zu dem schmutzigen Blatt Papier, das er auf den Küchentisch gelegt hatte. Sie sah es an, als hätte sie Angst davor; als könnten die Worte darauf auch sie wieder hinüberziehen. Hinüber in die Tintenwelt. Als Farid Bastas geschriene Drohung wiederholte, schlang sie ihre Arme um Meggie und drückte sie an sich. Darius aber, der die ganze Zeit über schweigend neben Elinor gesessen hatte, verbarg sein Gesicht in den Händen.

Farid verlor nicht viele Worte darüber, wie er bis zu Eli-nors Haus gekommen war auf seinen bloßen, blutigen Füßen. Auf Meggies Fragen murmelte er nur etwas von einem Lastwagen, der ihn mitgenommen habe. Er beendete seinen Bericht sehr abrupt, als wären ihm plötzlich die Wörter ausgegangen, und als er schwieg, wurde es sehr still in der großen Küche.

Farid hatte einen unsichtbaren Gast mitgebracht. Die Angst.

»Darius, setz mal neuen Kaffee auf!«, befahl Elinor, wäh-rend sie mit finsterer Miene den gedeckten Abendbrottisch musterte, den keiner beachtete. »Der hier ist kalt wie Eis.«

Darius machte sich auf der Stelle an die Arbeit, eilfertig wie ein bebrilltes Eichhörnchen, während Elinor Farid mit so eisigem Blick betrachtete, als wäre er höchstpersönlich schuld an den schlechten Nachrichten, die er überbracht hatte. Meggie konnte sich noch gut daran erinnern, wie einschüchternd dieser Blick früher auf sie gewirkt hatte. »Die Frau mit den Kieselaugen«, so hatte sie Elinor damals heimlich getauft. Manchmal passte der Name immer noch.

»Was für eine feine Geschichte!«, stieß Elinor hervor, während Resa Darius zu Hilfe kam. Farids Bericht hatte ihn ganz offenbar so nervös gemacht, dass er es nicht fertig brachte, die richtige Menge Kaffeepulver abzumessen. Als Resa ihm sanft den Messlöffel aus der Hand nahm, hatte er gerade zum dritten Mal damit begonnen, die gefüllten Löffel zu zählen, die er in die Filtertüte schaufelte.

»Basta ist also zurück, mit einem nagelneuen Messer und dem Mund voller Pfefferminzblätter, vermute ich mal. Verflucht noch eins!« Elinor fluchte sehr gern, wenn sie besorgt oder verärgert war. »Als ob es nicht reicht, dass ich jede dritte Nacht schweißgebadet wach werde, weil ich sein hässliches Gesicht im Traum gesehen habe, von seinem Messer ganz zu schweigen. Aber versuchen wir, ruhig zu bleiben! Es ist doch so: Basta weiß zwar, wo ich wohne, aber offenbar sucht er nur nach euch und nicht nach mir. Also müsstet ihr hier eigentlich sicher wie in Abrahams Schoß sein. Schließlich wird er kaum wissen, dass ihr bei mir eingezogen seid, oder?« Triumphierend, als sei ihr mit dieser Feststellung der alles rettende Gedanke gekommen, sah sie Resa und Meggie an.

Doch Meggie sorgte dafür, dass sich Elinors Gesicht auf der Stelle wieder verfinsterte. »Farid wusste es doch auch«, stellte sie fest.

»Stimmt!«, knurrte Elinor, während ihr Blick sich erneut auf Farid richtete. »Du wusstest es auch. Woher?«

Ihre Stimme klang so scharf, dass Farid unwillkürlich den Kopf einzog. »Eine alte Frau hat es uns erzählt«, antwortete er mit unsicherer Stimme. »Wir waren noch mal in Capricorns Dorf. Nachdem die Feen, die Staubfinger mitgenommen hatte, einfach zu Asche geworden waren. Er wollte sehen, ob es den anderen ähnlich ergangen ist. Das ganze Dorf war leer, keine Menschenseele, nicht mal ein streunender Hund. Nur Asche, überall Asche. Also haben wir versucht, im Nachbardorf zu erfahren, was genau passiert war, und. na ja, da haben wir es gehört, dass eine dicke Frau dort etwas von toten Feen gestammelt hat und dass ihr zum Glück wenigstens nicht die Menschen weggestorben seien, die jetzt bei ihr wohnten.«

Elinor senkte zerknirscht den Blick und sammelte mit dem Finger ein paar Krümel von ihrem Teller. »Verdammt«, murmelte sie. »Ja. Vielleicht hab ich etwas zu viel erzählt, in dem Laden, von dem aus ich euch angerufen habe. Ich war so durcheinander, nachdem ich aus dem leeren Dorf kam! Kann ich ahnen, dass diese Klatschweiber ausgerechnet dem Streichholzfresser von mir erzählen? Seit wann reden alte Frauen überhaupt mit so einem?«

Oder mit einem wie Basta, setzte Meggie in Gedanken hinzu.

Farid aber zuckte nur die Schultern und begann, mit seinen verpflasterten Füßen in Elinors Küche auf und ab zu humpeln. »Staubfinger hat sich sowieso gedacht, dass ihr alle hier seid«, sagte er. »Einmal waren wir sogar hier, weil er nachsehen wollte, ob es ihr gut geht.« Er wies mit dem Kopf in Resas Richtung.

Elinor schnaubte verächtlich. »Ach, wollte er das? Wie nett von ihm.« Sie hatte Staubfinger noch nie gemocht, und die Tatsache, dass er Mo das Buch gestohlen hatte, bevor er verschwunden war, hatte ihre Abneigung nicht gerade vermindert. Resa jedoch lächelte bei Farids Worten, auch wenn sie versuchte, es vor Elinor zu verbergen. Meggie erinnerte sich noch genau an den Morgen, an dem Darius ihrer Mutter das seltsame kleine Bündel gebracht hatte, das er vor der Haustür gefunden hatte - eine Kerze, ein paar Bleistifte und ein Päckchen

Streichhölzer, verschnürt mit blau blühendem Ehrenpreis. Meggie hatte sofort gewusst, von wem das stammte. Und Resa auch.

»Nun!«, sagte Elinor, während sie mit dem Griff ihres Messers auf dem Teller herumtrommelte. »Ich bin wirklich froh, dass der Streichholzfresser wieder dort ist, wo er hingehört. Wenn ich mir vorstelle, dass er nachts um mein Haus herumgeschlichen ist! Nur schade, dass er Basta nicht gleich mitgenommen hat.«

Basta - als Elinor den Namen aussprach, erhob Resa sich abrupt von ihrem Stuhl, lief hinaus auf den Flur und kam mit dem Telefon zurück. Auffordernd hielt sie es Meggie hin und begann mit der anderen Hand so aufgeregt zu gestikulieren, dass selbst Meggie Mühe hatte, die Zeichen, die sie in die Luft malte, zu lesen. Doch schließlich verstand sie.

Sie sollte Mo anrufen. Natürlich.

Es dauerte endlos lange, bis er ans Telefon ging. Vermutlich war er bei der Arbeit gewesen. Wenn Mo unterwegs war, arbeitete er immer bis spät in die Nacht, um schnell wieder nach Hause zu kommen.

»Meggie?« Seine Stimme klang verwundert. Vielleicht dachte er, sie riefe wegen ihres Streits an, aber wen interessierte jetzt noch ihr dummer Streit?

Es dauerte eine ganze Weile, bis er aus ihren hastig hervorgestammelten Worten schlau wurde. »Langsam, Meggie!«, sagte er immer wieder. »Langsam.« Aber das war leichter gesagt als getan, wenn das Herz einem bis zum Hals schlug und Basta vielleicht schon vorn an Elinors Gartentor wartete. Meggie wagte nicht einmal, den Gedanken zu Ende zu denken.

Mo dagegen blieb seltsam ruhig - fast, als hätte er erwartet, dass die Vergangenheit sie doch noch einmal einholen würde. »Geschichten haben nie ein Ende, Meggie«, hatte er mal zu ihr gesagt, »auch wenn uns die Bücher das gern vorgaukeln. Die Geschichten gehen immer weiter, sie enden ebenso wenig mit der letzten Seite, wie sie mit der ersten beginnen.«

»Hat Elinor die Alarmanlage eingeschaltet?«, fragte er.

»Ja.«

»Hat sie der Polizei Bescheid gesagt?«

»Nein. Sie sagt, die glauben ihr sowieso nicht.«

»Sie soll sie trotzdem anrufen. Und sie soll ihnen eine Beschreibung von Basta geben. Ihr könnt ihn doch noch beschreiben, oder?«

Was für eine Frage! Meggie hatte versucht, Bastas Gesicht zu vergessen, aber es würde wohl für den Rest ihres Lebens klar wie ein Foto in ihrem Gedächtnis haften.

»Pass auf, Meggie!« Vielleicht war Mo doch nicht ganz so gelassen, wie er tat. Seine Stimme klang anders als sonst. »Ich werde noch heute Nacht zurückfahren. Sag das Elinor und deiner Mutter. Spätestens morgen früh steh ich wieder vor der Tür. Verriegelt alles und haltet die Fenster geschlossen, verstanden?«

Meggie nickte - und vergaß, dass Mo das durchs Telefon nicht sehen konnte.

»Meggie?«

»Ja, verstanden.« Sie versuchte, gefasst zu klingen, mutig. Auch wenn sie sich nicht danach fühlte. Sie hatte Angst, solche Angst.

»Bis morgen, Meggie!«

Sie hörte es seiner Stimme an: Er würde auf der Stelle losfahren. Und plötzlich, als sie die nächtliche Straße vor sich sah, die lange Straße zurück, kam ihr ein neuer, schrecklicher Gedanke.

»Was ist mit dir?«, stieß sie hervor. »Mo! Was ist, wenn Basta dir irgendwo auflauert?« Aber ihr Vater hatte schon aufgelegt.

Elinor beschloss, Farid dort unterzubringen, wo auch schon Staubfinger geschlafen hatte: in der Kammer unterm Dach, wo sich Bücherkisten so hoch um das schmale Bettgestell stapelten, dass jeder, der darauf schlief, sicherlich träumte, von bedrucktem Papier erschlagen zu werden. Meggie bekam den Auftrag, Farid den Weg zu zeigen. Als sie ihm eine gute Nacht wünschte, nickte er nur abwesend. Er sah sehr verloren aus, wie er so dasaß auf dem schmalen Bett, fast so verloren wie an dem Tag, an dem Mo ihn in Capricorns Kirche gelesen hatte, einen mageren Jungen ohne Namen mit einem Turban auf dem schwarzen Haar.

Elinor prüfte in dieser Nacht noch mehrmals, ob die Alarmanlage auch wirklich eingeschaltet war, bevor sie schlafen ging. Darius aber holte sich die Schrotflinte, mit der Elinor manchmal in die Luft schoss, wenn sie eine wildernde Katze unter einem der Vogelnester in ihrem Garten erwischte. Bekleidet mit dem viel zu großen, orangefarbenen Morgenmantel, den Elinor ihm zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte, setzte Darius sich in den Sessel in der Eingangshalle, die Flinte auf dem Schoß, und starrte mit entschlossener Miene die Eingangstür an. Doch als Elinor zum zweiten Mal nach der Alarmanlage sah, schlief er bereits tief und fest.

Meggie ging noch lange nicht schlafen. Sie blickte auf die Regale, in denen ihre Notizbücher gestanden hatten, strich über die leeren Borde und kniete sich schließlich vor die rot lackierte Kiste, die Mo ihr vor langer Zeit für ihre Lieblingsbücher gebaut hatte. Seit Monaten hatte sie sie nicht mehr geöffnet. Kein einziges Buch passte mehr hinein, und um sie auf Reisen mitzunehmen, war sie inzwischen zu schwer geworden. Für neue Lieblingsbücher hatte Elinor ihr deshalb den Bücherschrank geschenkt. Gleich neben Meggies Bett stand er, mit verglasten Türen und Schnitzereien, die sich über das dunkle Holz rankten, als hätte es nicht vergessen, dass es einst lebendig gewesen war. Auch die Borde hinter dem Glas waren schon wieder gut gefüllt, schließlich schenkte inzwischen nicht nur Mo Meggie Bücher, sondern auch Resa und Elinor. Selbst Darius brachte ihr ab und zu eines. Die alten Freunde aber, die Bücherfreunde, die Meggie schon besessen hatte, bevor sie bei Elinor eingezogen waren, bewohnten weiter die Kiste, und als sie den schweren Deckel öffnete, war es ihr, als drängten ihr fast vergessene Stimmen entgegen, als blickten sie vertraute Gesichter an. Wie zerlesen sie alle waren. »Ist es nicht seltsam, wie viel dicker ein Buch wird, wenn man es mehrmals liest?«, hatte Mo gefragt, als sie sich an Meggies letztem Geburtstag noch einmal jedes ihrer altvertrauten Bücher angesehen hatten. »Als würde jedes Mal etwas zwischen den Seiten kleben bleiben. Gefühle, Gedanken, Geräusche, Gerüche. Und wenn du dann nach vielen Jahren wieder in dem Buch blätterst, entdeckst du dich selbst darin, etwas jünger, etwas anders, als hätte das Buch dich aufbewahrt, wie eine gepresste Blüte, fremd und vertraut zugleich.«

Etwas jünger, ja. Meggie nahm eins der zuoberst liegenden Bücher heraus und blätterte darin. Mindestens ein Dutzend Mal hatte sie es gelesen. Da war die Szene, die sie mit acht am meisten geliebt hatte, und das da hatte sie mit zehn angestrichen, mit einem roten Stift, weil sie es so wunderschön fand. Sie fuhr mit dem Finger über die krumme Linie - keine Resa hatte es damals gegeben, keine Elinor, keinen Darius, nur Mo. keine Sehnsucht nach blauen Feen, keine Erinnerung an ein narbiges Gesicht, einen Marder mit Hörnern und einen Jungen, der stets barfuß ging, keine an Basta und sein Messer. Eine andere Meggie hatte in dem Buch gelesen, so anders. und zwischen seinen Seiten würde sie bleiben, aufbewahrt wie ein Andenken.

Mit einem Seufzer schlug Meggie das Buch wieder zu und legte es zurück zu den anderen. Nebenan hörte sie ihre Mutter auf und ab gehen. Musste sie ebenso wie Meggie immer wieder an die Drohung denken, die Basta Farid nachgeschrien hatte? Ich sollte zu ihr gehen, dachte Meggie. Zusammen ist die Angst vielleicht nur halb so schlimm. Doch Resas Schritte verstummten, als sie sich gerade aufrichtete, und es wurde still nebenan, still wie der Schlaf. Vielleicht war Schlafen keine schlechte Idee. Mo würde gewiss nicht eher zurück sein, nur weil Meggie wach blieb und auf ihn wartete. Wenn sie ihn wenigstens hätte anrufen können, aber er vergaß ja immer, sein Handy einzuschalten.

Meggie schloss den Deckel ihrer Bücherkiste so sacht, als könnte das Geräusch Resa wieder aufwecken, und blies die Kerzen aus, die sie jeden Abend anzündete, obwohl Elinor es ihr immer wieder verbot. Als sie sich gerade das T-Shirt über den Kopf zog, klopfte es an ihrer Tür - leise, ganz leise. Sie öffnete im Glauben, ihre Mutter stünde vor der Tür, weil sie doch nicht schlafen konnte, aber es war Farid - Farid, der scharlachrot anlief, als er sah, dass sie nur ein Unterhemd trug. Er stammelte eine Entschuldigung, und bevor Meggie etwas erwidern konnte, humpelte er wieder davon auf seinen ver-pflasterten Füßen. Sie vergaß fast, sich das T-Shirt wieder überzustreifen, bevor sie ihm nachlief.

»Was ist?«, flüsterte sie besorgt, während sie ihn zurück zu ihrem Zimmer winkte. »Hast du unten etwas gehört?«

Doch Farid schüttelte den Kopf. Er hielt das Blatt Papier in der Hand, Staubfingers Rückfahrkarte, wie Elinor es bissig getauft hatte. Zögernd folgte er Meggie in ihr Zimmer. Er sah sich um darin wie jemand, der sich unwohl fühlt in geschlossenen Räumen. Vermutlich hatte er, seit er so spurlos mit Staubfinger verschwunden war, die meisten Tage und Nächte unter freiem Himmel zugebracht.

»Entschuldige !«, stammelte er, während er seine Zehen anstarrte. Zwei von Resas Pflastern lösten sich schon. »Es ist schon sehr spät, aber - « Zum ersten Mal sah er Meggie in die Augen und wurde rot dabei. »Orpheus sagt, er hat nicht alles gelesen«, fuhr er mit zögernder Stimme fort. »Er hat die Wörter, die auch mich hinübergebracht hätten, einfach weggelassen. Absichtlich hat er das getan, aber ich muss Staubfinger doch warnen, und deshalb.«

»Deshalb was?« Meggie schob ihm den Stuhl hin, der an ihrem Schreibtisch stand, und setzte sich selbst auf die Fensterbank. Farid nahm ebenso zögernd auf dem Stuhl Platz, wie er in ihr Zimmer getreten war.

»Du musst mich auch hinüberlesen, bitte!« Wieder hielt er ihr das schmutzige Papier hin, mit einem so flehenden Ausdruck in seinen schwarzen Augen, dass Meggie nicht wusste, wo sie hinsehen sollte. Was für lange dichte Wimpern er hatte, ihre waren nicht halb so schön. »Bitte! Du kannst es bestimmt!«, stammelte er. »Damals. in der Nacht in Capricorns Dorf. ich erinnre mich genau - da hattest du doch auch nicht mehr als so ein Blatt!«

Damals in Capricorns Dorf. Meggie bekam immer noch Herzklopfen, wenn sie an die Nacht dachte, von der Farid sprach: die Nacht, in der sie den Schatten herbeigelesen und ihn Capricorn dann doch nicht hatte töten lassen können - bis Mo es für sie getan hatte.

»Orpheus hat die Worte geschrieben, er hat es selbst gesagt! Er hat sie nur nicht gelesen, aber sie sind hier, auf dem Papier! Natürlich steht mein Name nicht da, sonst würde es nicht funktionieren.« Farid sprach immer hastiger. »Orpheus sagt, das ist das Geheimnis: Man darf möglichst nur Wörter benutzen, die auch in dem Buch vorkommen, dessen Geschichte man ändern will.«

»Das hat er gesagt?« Meggie stockte das Herz, als wäre es über Farids Worte gestolpert. Man darf möglichst nur Wörter benutzen, die auch in dem Buch vorkommen... Hatte sie deshalb nichts, aber auch gar nichts aus Resas Geschichten herauslesen können, weil sie Wörter verwendet hatte, die es in Tintenherz nicht gab? Oder lag es doch nur daran, dass sie nicht genug vom Schreiben verstand?

»Ja. Orpheus bildet sich eine Menge darauf ein, wie er lesen kann.« Farid spuckte den Namen aus wie einen Pflaumenkern.

»Dabei kann er es nicht halb so gut wie du oder dein Vater, wenn du mich fragst.«

Mag sein, dachte Meggie, aber er hat Staubfinger zurückgelesen. Und er hat selbst die Worte dafür geschrieben. Weder Mo noch ich hätten das gekonnt. Sie nahm Farid das Blatt mit Orpheus’ Zeilen aus der Hand. Die Schrift war schwer zu entziffern, aber es war eine schöne Handschrift, seltsam verschlungen und sehr eigenwillig.

»An welcher Stelle genau ist Staubfinger verschwunden?«

Farid zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht«, murmelte er zerknirscht.

Natürlich, das hatte sie vergessen: Er konnte nicht lesen.

Meggie zog mit dem Finger den ersten Satz nach: Staubfinger kehrte an einem Tag zurück, der nach Beeren und Pilzen roch.

Nachdenklich ließ sie das Blatt sinken. »Es geht nicht«, sagte sie. »Wir haben ja nicht mal das Buch. Wie soll es ohne Buch gehen?«

»Aber Orpheus hat es auch nicht benutzt! Staubfinger hat ihm das Buch abgenommen, bevor er den Zettel da las!« Farid schob den Stuhl zurück und trat neben sie. Seine Nähe machte Meggie beklommen, sie wollte nicht wissen, warum.

»Das kann nicht sein!«, murmelte sie.

Aber Staubfinger war fort. Ein paar handgeschriebene Sätze hatten ihm die Tür zwischen den Buchstaben geöffnet, an der Mo so vergeblich gerüttelt hatte. Und nicht Fenoglio, der Verfasser des Buches, hatte die Sätze geschrieben, sondern ein Fremder. Ein Fremder mit einem seltsamen Namen. Orpheus.

Meggie wusste mehr als die meisten Menschen über das, was hinter den Worten wartete. Sie hatte selbst schon Türen geöffnet, hatte atmende Wesen aus gelblich verfärbten Seiten gelockt - und erlebt, wie ihr Vater den Jungen, der nun neben ihr stand, aus einem arabischen Märchen gelesen hatte. Dieser Orpheus jedoch schien mehr, viel mehr zu wissen als sie, selbst mehr als Mo, den Farid immer noch Zauberzunge nannte. und plötzlich hatte Meggie Angst vor den Worten auf dem schmutzigen Blatt Papier. Sie legte es auf ihren Schreibtisch, als hätte sie sich daran verbrannt.

»Bitte! Versuch es wenigstens!« Farids Stimme klang fast flehend. »Was, wenn Orpheus Basta doch schon hinübergelesen hat? Staubfinger muss erfahren, dass die beiden unter einer Decke stecken! Er denkt doch, dass er nun in seiner Welt sicher vor Basta ist!«

Meggie starrte immer noch auf Orpheus’ Worte. Sie klangen schön, betörend schön. Meggie spürte, wie ihre Zunge sie schmecken wollte. Es fehlte nicht viel und sie hätte begonnen, sie vorzulesen. Erschrocken presste sie die Hand vor den Mund.

Orpheus.

Natürlich kannte sie den Namen und die Geschichte, die ihn umgab wie ein Geflecht aus Blüten und Dornen. Elinor hatte ihr das Buch gegeben, das sie am schönsten erzählte.

Dich, o Orpheus, beweinten voll Schmerz die Vögel, des Wildes Scharen, der starrende Fels und dich der Wald, der gefolgt so Oft deinem Lied. Der Baum legt ab seine Blätter und trauert Kahlen Hauptes um dich.

Fragend sah sie Farid an. »Wie alt ist er?«

»Orpheus?« Farid zuckte die Schultern. »Zwanzig, fünfundzwanzig, was weiß ich? Es ist schwer zu sagen. Er hat ein richtiges Kindergesicht.«

So jung. Die Wörter auf dem Papier klangen nicht nach einem jungen Mann. Sie klangen, als wüssten sie von vielen Dingen.

»Bitte!« Farid sah sie immer noch an. »Du versuchst es, ja?«

Meggie blickte nach draußen. Sie musste an die leeren Feennester denken, an die verschwundenen Glasmänner und an etwas, das Staubfinger zu ihr gesagt hatte, vor langer Zeit: Manchmal, wenn man frühmorgens zum Brunnen ging, um sich zu waschen, schwirrten diese winzigen Feen über dem Wasser, kaum größer als eure Libellen und blau wie Veilchenblüten. Sehr freundlich waren sie nicht, aber nachts schimmerten sie wie Glühwürmchen.

»Gut«, sagte sie, und es war fast, als antwortete jemand anders Farid. »Gut, ich versuch es. Aber erst müssen deine Füße besser werden. Die Welt, von der meine Mutter erzählt, ist keine, in der man fußlahm sein sollte.«

»Unsinn, mit meinen Füßen ist alles in Ordnung!« Farid ging auf dem weichen Teppich auf und ab, als könnte er es auf die Art beweisen. »Meinetwegen kannst du es jetzt gleich versuchen!«

Doch Meggie schüttelte den Kopf. »Nein!«, sagte sie entschieden. »Ich muss erst lernen, es fließend zu lesen. Bei der Handschrift ist das nicht leicht, außerdem ist sie verschmiert an manchen Stellen, also werde ich es wohl abschreiben. Dieser Orpheus hat nicht gelogen. Er hat etwas über dich geschrieben, aber ich bin noch nicht sicher, dass es reicht. Außerdem.«, sie versuchte ganz beiläufig zu klingen, als sie weitersprach, ». wenn ich es versuche, will ich mitkommen.«

»Was?«

»Ja! Warum nicht?« Meggie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme verriet, wie sehr sie sein entsetzter Blick kränkte.

Farid antwortete nicht.

Verstand er denn nicht, dass sie es auch sehen wollte, all das, wovon Staubfinger und ihre Mutter erzählt hatten, die Stimme weich vor Sehnsucht: die Feenschwärme überm Gras, die Bäume, so hoch, dass man glaubte, die Wolken würden sich in ihren Ästen verfangen, den Wald ohne Weg, die Spielleute, die Burg des Speckfürsten und die Silbertürme der Nachtburg, den Markt in Ombra, das Feuer, das tanzen konnte, die Tümpel, flüsternd, mit Nixengesichtern, die herausblickten.

Nein, Farid verstand das nicht. Er hatte sie wohl noch nie gefühlt, die Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt, ebenso wenig wie das Heimweh, das Staubfinger das Herz zerrissen hatte. Farid wollte nur eins: Er wollte zu Staubfinger, um ihn zu warnen vor Bastas Messer und wieder bei ihm zu sein. Er war Staubfingers Schatten. Das war die Rolle, die er spielen wollte, egal in welcher Geschichte.

»Vergiss es! Du kannst nicht mit!« Ohne sie anzusehen humpelte er zu dem Stuhl zurück, den Meggie ihm hingeschoben hatte, setzte sich und pflückte die Pflaster von seinen Zehen, die Resa so mühsam darauf geklebt hatte. »Niemand kann sich selbst in ein Buch hineinlesen. Nicht einmal Orpheus kann das! Er hat es Staubfinger selbst erzählt: Er hat es etliche Male versucht, aber es geht einfach nicht.«

»Ach ja?« Meggie versuchte, selbstsicherer zu klingen, als sie sich fühlte. »Du hast selbst gesagt, dass ich besser lese als er. Vielleicht kann ich es doch!« Wenn ich schon nicht so schreiben kann wie er, fügte sie in Gedanken hinzu.

Farid warf ihr einen beunruhigten Blick zu, während er die Pflaster in seine Hosentasche schob. »Aber es ist gefährlich dort«, sagte er. »Besonders für ein M.« Er sprach das Wort nicht aus.

Stattdessen begann er angestrengt seine blutigen Zehen zu mustern.

Dummkopf. Meggie schmeckte ihren Ärger wie einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Was bildete er sich ein? Vermutlich wusste sie mehr über die Welt, in die sie ihn lesen sollte, als er. »Ich weiß, dass es gefährlich ist«, sagte sie gereizt. »Und ich komme entweder mit oder ich lese nicht. Überleg es dir. Und jetzt lass mich allein. Ich muss nachdenken.«

Farid warf einen letzten Blick auf das Blatt mit Orpheus’ Worten, bevor er zur Tür ging. »Wann willst du es versuchen?«, fragte er, bevor er wieder auf den Flur hinaustrat. »Morgen?«

»Vielleicht«, antwortete Meggie nur.

Dann schloss sie die Tür hinter ihm und sie war mit Orpheus’ Buchstaben allein.



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