Violante



Schon am nächsten Tag begann meine Großmutter, mir Geschichten zu erzählen.

Das tat sie wahrscheinlich, um uns beide aus unserer großen Traurigkeit zu holen.

Roald Dahl, Hexen hexen


Fenoglio überredete Farid einfach, mit ihnen auf die Burg zu kommen. »Na, das passt doch bestens!«, flüsterte er Meggie zu. »Er kann dieses verzogene Balg von einem Fürstensohn unterhalten, damit wir Gelegenheit haben, Violante in aller Ruhe zum Plaudern zu bringen.«

Der Äußere Burghof lag an diesem Morgen wie ausgestorben da. Nur ein paar vertrocknete Zweige und zertretene Kuchen erinnerten noch an das Fest, das hier stattgefunden hatte. Knechte, Schmiede, Stallknechte, sie alle gingen längst wieder ihrer Arbeit nach, aber eine drückende Stille schien zwischen den Mauern zu hängen. Die Wachen ließen sie wortlos passieren, als sie Fenoglio erkannten, und unter den Bäumen des Inneren Hofes kam ihnen eine Gruppe Männer in grauen Gewändern entgegen. »Bader!«, murmelte Fenoglio, während er ihnen besorgt nachsah. »Und mehr als genug, um ein Dutzend Männer totzukurieren. Das kann nichts Gutes bedeuten.«

Der Diener, den Fenoglio vor dem Thronsaal abfing, sah blass und übernächtigt aus. Der Speckfürst, raunte er Fenoglio zu, habe sich schon während des Festes für seinen Enkel zu Bett begeben und sei seither nicht wieder aufgestanden. Er esse und trinke nicht mehr, und zu dem Steinmetz, der an seinem Sarkophag meißele, habe er einen Boten geschickt, um ihn zur Eile zu mahnen.

Zu Violante ließ man sie trotzdem. Der Speckfürst wollte weder seine Schwiegertochter noch seinen Enkel sehen. Selbst die Bader hatte er fortgeschickt. Nur Tullio, seinen pelzgesich-tigen Pagen, duldete er in seiner Nähe.

»Sie ist wieder dort, wo sie nicht sein darf!« Der Diener flüsterte, als könnte der kranke Fürst ihn in seinen Gemächern hören, während er sie durch die Burg führte. In jedem Korridor blickte ein Abbild Cosimos auf sie herab. Seit Meggie von Fenoglios Plänen wusste, beunruhigten die steinernen Augen sie noch mehr. »Die Figuren haben ja alle dasselbe Gesicht!«, flüsterte Farid ihr zu, doch bevor Meggie erklären konnte, warum das so war, winkte der Diener sie wortlos eine Wendeltreppe hinauf.

»Lässt Balbulus sich immer noch so gut dafür bezahlen, dass er Violante in die Bibliothek lässt?«, fragte Fenoglio mit leiser Stimme, als ihr Führer vor einer mit Messingbuchstaben beschlagenen Tür stehen blieb.

»Die Ärmste hat ihm bereits fast all ihren Schmuck gegeben«, flüsterte der Diener zurück. »Aber wen wundert’s, er war mal auf der Nachtburg zu Hause. Alle, die von der anderen Seite des Waldes stammen, sind gierig, das weiß jeder. Mit Ausnahme der Herrin.«

»Herein!«, rief auf sein Klopfen hin eine mürrische Stimme. Der Raum, den sie betraten, war so hell, dass Meggie blinzeln musste nach all den dunklen Gängen und Treppen. Das Tageslicht fiel durch hohe Fenster auf eine Ansammlung kostbar geschnitzter Schreibpulte. Der Mann, der vor dem größten stand, war weder jung noch alt, mit schwarzem Haar und braunen Augen, die wenig freundlich dreinblickten, als er sich ihnen zuwandte.

»Ah, der Tintenweber!«, sagte er und legte unwillig die Hasenpfote zur Seite, die er in der Hand hielt. Meggie wusste, wozu sie diente, Mo hatte es ihr oft genug erklärt. Es machte das Pergament geschmeidig, wenn man es mit einer Hasenpfo-te rieb. Und dort waren die Farben, deren Namen Mo stets aufs Neue für sie hatte wiederholen müssen. »Sag sie noch mal!« Wie oft hatte sie ihn mit dieser Aufforderung gequält, weil sie sich nicht satt hören konnte an ihrem Klang: Rauschgelb, Lapislazuliblau, Violett und Malachitgrün. »Wieso leuchten sie immer noch so, Mo?«, hatte sie gefragt. »Sie sind doch schon so alt! Woraus sind sie gemacht?« Und Mo hatte es ihr erklärt - hatte ihr erzählt, wie man sie herstellte, all die wunderbaren Farben, die selbst nach Hunderten von Jahren leuchteten, als hätte man sie dem Regenbogen gestohlen, weil die Buchseiten sie schützten vor Licht und Luft. Dass man für Malachitgrün die Blüten der wilden Iris zerstampfte und sie mit gelbem Bleioxyd versetzte, dass das Rot von Purpurschnecken und Läusen stammte. Wie oft hatten sie sich zusammen die Bilder in einer der kostbaren Handschriften angesehen, die Mo vom Schmutz vieler Jahre befreien musste. »Sieh dir nur diese feinen Ranken an!«, hatte er dann gesagt. »Kannst du dir vorstellen, wie fein die Pinsel und Federn sein müssen, mit denen man so etwas malt, Meggie?« Wie oft hatte er sich darüber beklagt, dass keiner sich mehr darauf verstand, solche Werkzeuge herzustellen - und nun sah sie sie mit eigenen Augen: haarfeine Federn und winzige Pinsel, ganze Bündel in einem glasierten Krug, Pinsel, die stecknadelkopfgroße Blüten und Gesichter auf Pergament und Papier bannen konnten, angefeuchtet mit etwas Gummiarabicum, damit die Farbe besser haftete. Es kribbelte ihr in den Fingern, einen aus dem Bündel zu ziehen und mitzunehmen, für Mo. Nur dafür hätte er mitkommen müssen!, dachte sie. Um in diesem Raum zu stehen.

Die Werkstatt eines Buchmalers, eines Illuminators. Fenoglios Welt schien doppelt, dreifach wunderbar. Elinor würde ihren kleinen Finger dafür geben, hier zu sein, dachte Meggie und wollte auf eins der Pulte zugehen, alles noch etwas näher betrachten, Pinsel, Farben, Pergament, doch Fenoglio hielt sie zurück.

»Balbulus!« Er deutete eine Verbeugung an. »Wie fühlt sich der Meister heute?« Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Der Tintenweber sucht die Herrin Violante«, erklärte der Diener mit schleppender Stimme.

Balbulus wies auf eine Tür in seinem Rücken. »Nun, Ihr wisst, wo die Bibliothek ist. Vielleicht sollte man sie besser umbenennen, in >die Kammer der vergessenen Schätze<.« Er lispelte etwas. Seine Zunge stieß gegen die Zähne, als hätte sie nicht genug Raum in seinem Mund. »Violante sieht sich gerade meine neueste Arbeit an, das heißt das, was sie davon erkennen kann. Es ist meine Abschrift der Geschichten, die Ihr für ihren Sohn geschrieben habt. Ich hätte das Pergament, wie ich zugeben muss, lieber für andere Texte verwandt, doch Violante hat darauf bestanden.«

»Nun, es tut mir wirklich Leid, dass Ihr Eure Kunst an solche Nichtigkeiten verschwenden müsst«, erwiderte Fenoglio, ohne auch nur einen Blick auf die Arbeit zu werfen, die Balbulus gerade vor sich liegen hatte. Auch Farid schien das Bild nicht zu interessieren. Er blickte zum Fenster, vor dem der Himmel blauer leuchtete als alle Farbe, die an den feinen Pinseln klebte. Meggie aber wollte sehen, wie viel Balbulus von seiner Kunst verstand, ob seine Miene zu Recht so hochmütig war. Unauffällig machte sie einen Schritt nach vorn. Sie sah ein Bild, mit Blattgold umrandet, eine Burg war darauf zu sehen zwischen grünen Hügeln, ein Wald, Reiter, prächtig gekleidet zwischen den Bäumen, Feen, die sie umschwirrten, und ein weißer Hirsch, der sich zur Flucht wandte. Nie zuvor hatte sie ein Bild wie dieses gesehen. Es leuchtete wie buntes Glas - wie ein Fenster auf dem Pergament. Zu gern hätte sie sich darüber gebeugt, Gesichter, Zaumzeug, Blumen und Wolken betrachtet, doch Balbulus warf ihr einen so eisigen Blick zu, dass sie errötend zurückwich.

»Das Gedicht, das Ihr gestern gebracht habt«, sagte Balbu-lus mit gelangweilter Stimme, während er sich wieder über seine Arbeit beugte, »das war gut. Ihr solltet öfter etwas von dieser Art schreiben, aber ich weiß ja, Ihr verfasst lieber Geschichten für Kinder oder Lieder für das Bunte Volk. Warum?

Damit Eure Worte der Wind singt? Gesprochene Worte leben kaum länger als ein Insekt! Nur das geschriebene Wort lebt ewig.«

»Ewig?« Fenoglio sprach das Wort aus, als gäbe es kein lächerlicheres auf der Welt. »Nichts ist ewig, Balbulus - und Worten kann nichts Besseres passieren, als von einem Spielmann gesungen zu werden! Ja, sicher, sie verändern sich dadurch, werden jedes Mal auf etwas andere Weise gesungen, aber ist das nicht wunderbar? Eine Geschichte, die stets ein anderes Kleid trägt, wenn man sie wiederhört - was gibt es Besseres? Eine Geschichte, die wächst und Blüten treibt wie ein lebendiges Ding! Seht Euch dagegen die an, die man in Bücher presst! Gut, vielleicht leben sie länger, aber sie atmen nur, wenn ein Mensch das Buch öffnet. Sie sind Klang, zwischen Papier gepresst, und erst eine Stimme erweckt sie wieder zum Leben! Dann sprühen sie Funken, Balbulus! Frei wie Vögel werden sie, die in die Welt hinausflattern. Ja. Vielleicht habt Ihr Recht, und das Papier macht sie unsterblich. Aber was soll mich das kümmern? Lebe ich etwa weiter, säuberlich zwischen die Seiten gepresst, mitsamt meiner Worte? Unsinn! Wir sind nicht unsterblich, daran werden auch die schönsten Wörter nichts ändern. Oder?«

Balbulus hatte ihm mit ausdruckslosem Gesicht zugehört. »Welch ungewöhnliche Ansichten, Tintenweber!«, sagte er. »Ich für mein Teil halte sehr viel von der Unsterblichkeit meiner Arbeit und sehr wenig von Spielmännern. Aber warum geht Ihr jetzt nicht zu Violante? Bestimmt muss sie bald fort, um sich die Klagen irgendeines Bauern anzuhören oder das Gejammer eines Händlers über die Wegelagerer, die die Straßen unsicher machen. Zurzeit ist es fast unmöglich, an annehmbares Pergament zu kommen. Geraubt wird es und dann zu unverschämten Preisen auf den Märkten angeboten! Macht Ihr Euch irgendeine Vorstellung davon, wie viele Ziegen man für die Niederschrift einer Eurer Geschichten schlachten muss?«

»Für jede Doppelseite ungefähr eine«, sagte Meggie und fing sich einen weiteren eisigen Blick von Balbulus ein.

»Kluges Mädchen«, sagte er in einem Ton, der seine Worte eher nach einer Beleidigung als nach einem Lob klingen ließ. »Und warum? Weil diese Dummköpfe von Hirten ihre Herden durch Dornen und Stachelgebüsch treiben, ohne daran zu denken, dass man ihre Haut zum Schreiben braucht!«

»Tja, ich erkläre es Euch ja immer wieder«, sagte Fenoglio, während er Meggie auf die Bibliothekstür zuschob. »Papier, Balbulus. Papier ist der Stoff der Zukunft.«

»Papier!« Balbulus ließ ein verächtliches Schnauben hören. »Himmel, Tintenweber, Ihr seid noch verrückter, als ich dachte.«

Meggie hatte mit Mo schon so viele Bibliotheken besucht, dass sie sie nicht zählen konnte. Viele waren größer, doch kaum eine war schöner gewesen als die des Speckfürsten. Man sah ihr immer noch an, dass sie einst der Lieblingsplatz ihres Besitzers gewesen war. Von Cosimo gab es hier nur eine Büste aus weißem Stein, jemand hatte Rosenblüten davor gelegt. Die Teppiche, die die Wände schmückten, waren schöner als die im Thronsaal, die Leuchter schwerer, die Farben wärmer, und Meggie hatte genug in Balbulus’ Werkstatt gesehen, um zu ahnen, welche Schätze sie hier umgaben. Angekettet standen sie in den Regalen, nicht wie in Elinors Bibliothek Rücken an Rücken, sondern den Schnitt nach vorn gekehrt, weil sich dort der Titel fand. Vor den Regalen reihten sich Pulte, vermutlich den neuesten Kostbarkeiten vorbehalten. Angekettet wie ihre Geschwister in den Regalen lagen die Bücher darauf und verschlossen, damit kein schädlicher Lichtstrahl auf Balbulus’ Bilder fiel, und die Fenster der Bibliothek waren zusätzlich verhängt mit schweren Stoffen. Offenbar wusste der Speckfürst, wie gern das Sonnenlicht an Büchern fraß. Nur zwei ließen das schädliche Licht herein. Vor einem stand die Hässliche, so tief über ein Buch gebeugt, dass sie sich fast die Nase an den Seiten stieß.

»Balbulus wird immer besser, Brianna«, sagte sie.

»Er ist gierig! Eine Perle dafür, dass er Euch in die Bibliothek Eures Schwiegervaters lässt!« Ihre Dienerin stand an dem anderen Fenster, den Blick nach draußen gewandt, während Violantes Sohn an ihrer Hand zerrte.

»Brianna!«, maulte er. »Komm jetzt. Es ist langweilig. Komm mit auf den Hof. Du hast es versprochen.«

»Von den Perlen kauft Balbulus neue Farben! Wovon soll er es sonst tun? Gold wird auf dieser Burg nur noch für die Standbilder eines Toten ausgegeben.« Violante fuhr zusammen, als Fenoglio die Tür hinter sich zuzog. Schuldbewusst verbarg sie ihr Buch hinter dem Rücken. Erst als sie sah, wer vor ihr stand, entspannte sich ihr Gesicht. »Fenoglio!«, sagte sie und strich sich das mausbraune Haar aus der Stirn. »Müsst Ihr mich so erschrecken?« Das Mal auf ihrem Gesicht glich dem Abdruck einer Pfote.

Fenoglio griff mit einem Lächeln in den Beutel an seinem Gürtel. »Ich habe Euch etwas mitgebracht.«

Violantes Finger schlossen sich begierig um den roten Stein. Ihre Hände waren klein und rund wie die eines Kindes. Hastig schlug sie das Buch wieder auf, das sie hinter dem Rücken versteckt hatte, und hielt den Beryll vor eins ihrer Augen.

»Brianna, komm jetzt, oder ich sag ihnen, sie sollen dir die Haare abschneiden!« Jacopo griff der Dienerin ins Haar und zog so heftig daran, dass sie aufschrie. »Mein Großvater macht es auch so. Er schert den Spielfrauen die Köpfe kahl und den Frauen, die im Wald wohnen. Er sagt, sie verwandeln sich nachts in Eulen und schreien vor den Fenstern, bis man tot im Bett liegt.«

»Sieh mich nicht so an!«, raunte Fenoglio Meggie zu. »Den Satansbraten hab ich nicht erfunden. He, Jacopo!« Er gab Farid einen auffordernden Stoß mit dem Ellbogen, während Bri-anna immer noch versuchte, ihre Haare aus den kleinen Fingern zu befreien. »Ich habe dir jemanden mitgebracht.«

Jacopo ließ Briannas Haare los und musterte Farid wenig begeistert. »Er hat kein Schwert«, stellte er fest.

»Ein Schwert! Wer braucht so was?« Fenoglio rümpfte die Nase. »Farid ist ein Feuerspucker.«

Brianna hob den Kopf und sah Farid an. Jacopo aber blickte immer noch wenig begeistert.

»Oh, dieser Stein ist wunderbar!«, murmelte seine Mutter. »Mein alter war nicht halb so gut. Ich kann sie alle erkennen, Brianna, jeden Buchstaben! Hab ich dir mal erzählt, dass meine Mutter mir das Lesen beibrachte, indem sie für jeden Buchstaben ein kleines Lied erfand?« Mit leiser Stimme begann sie zu singen: »Ein brauner Bär beißt ab vom B sich einen guten Bissen... Ich konnte schon damals nicht sonderlich gut sehen, aber sie schrieb sie mir ganz groß auf den Fußboden, sie legte sie aus mit Blütenblättern oder kleinen Steinen. A, B, C, der Spielmann schläft im Klee.«

»Nein«, antwortete Brianna. »Nein, davon habt Ihr nie erzählt.«

Jacopo starrte immer noch Farid an. »Er war auf meinem Fest!«, stellte er fest. »Er hat Fackeln geworfen.«

»Das war nichts, ein Spiel für Kinder.« Farid betrachtete ihn mit so herablassender Miene, als wäre nicht Jacopo, sondern er selbst der Fürstensohn. »Ich kann noch ganz andere Sachen, aber ich glaube, du bist zu klein dafür.«

Meggie sah, wie Brianna ein Lächeln verbarg, während sie die Spange aus ihrem rotblonden Haar löste und es neu zusammensteckte. Sehr anmutig tat sie das. Farid beobachtete sie dabei - und Meggie ertappte sich bei dem Wunsch, ebenso schönes Haar zu haben, auch wenn sie nicht sicher war, dass sie es zuwege bringen würde, sich auf so graziöse Weise eine Spange hineinzustecken. Zum Glück zog Jacopo Farids Aufmerksamkeit wieder auf sich, indem er mit einem Räuspern die Arme verschränkte. Vermutlich hatte er die Haltung seinem Großvater abgeschaut.

»Zeig es mir, oder ich lass dich auspeitschen.« Die Worte klangen lächerlich, von einer so hellen Stimme geäußert - und doch zugleich furchtbarer als aus dem Mund eines Erwachsenen.

»Oh, tatsächlich.« Farids Gesicht verriet keine Regung. Ganz offenbar hatte er sich einiges von Staubfinger abge-schaut. »Was denkst du, was ich dann mit dir mache?«

Das verschlug Jacopo die Sprache, doch gerade als er sich Unterstützung bei seiner Mutter holen wollte, streckte Farid ihm die Hand hin. »Na gut, komm.«

Jacopo zögerte, und für einen Moment war Meggie versucht, nach Farids Hand zu greifen und ihm in den Hof zu folgen, statt Fenoglio dabei zuzuhören, wie er nach den Spuren eines Toten suchte. Doch Jacopo war schneller. Ganz fest schlossen sich seine kurzen, blassen Finger um Farids braune Hand, und als er sich in der Tür noch einmal umdrehte, war sein Gesicht das eines glücklichen und ganz gewöhnlichen Jungen. »Er zeigt es mir, hast du gehört?«, fragte er stolz, aber seine Mutter blickte nicht einmal auf.

»Oh, dieser Stein ist wunderbar«, flüsterte sie nur. »Wenn er nur nicht rot wäre und ich für jedes Auge einen hätte - «

»Nun, ich arbeite da an einer Lösung, aber ich habe leider noch nicht den geeigneten Glasmacher gefunden.« Fenoglio ließ sich auf einem der Stühle nieder, die einladend zwischen den Bücherpulten standen. Auf den Polstern prangte noch das alte Wappen, der Löwe, der nicht weinte, und bei einigen war das Leder so abgewetzt, dass es deutlich von all den Stunden kündete, die der Speckfürst hier verbracht hatte, bevor der Kummer ihm die Freude an seinen Büchern genommen hatte.

»Glasmacher? Wozu das?« Violante blickte Fenoglio durch den Beryll an. Es sah fast aus, als hätte sie ein Auge aus Feuer.

»Man kann Glas auf eine Weise schleifen, dass es Eure Augen besser sehen lässt, viel besser noch als ein Stein. Aber kein Glasmacher in Ombra versteht, wovon ich rede!«

»Ja, ich weiß, in diesem Ort taugen nur die Steinmetze etwas! Balbulus behauptet, dass es nicht einen anständigen Buchbinder nördlich des Weglosen Waldes gibt.«

Ich wüsste einen guten, dachte Meggie unwillkürlich und wünschte sich Mo für einen Moment so heftig herbei, dass es schmerzte. Die Hässliche aber blickte schon wieder in ihr Buch. »Im Reich meines Vaters gibt es gute Glasmacher«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Er hat einige Fenster auf seiner Burg mit Glas verschließen lassen. Hundert Bauern musste er dafür als Söldner verkaufen.« Sie schien den Preis für mehr als angemessen zu halten.

Ich glaube, ich mag sie nicht, dachte Meggie und begann, von Pult zu Pult zu gehen. Die Einbände der Bücher, die darauf lagen, waren wunderschön, und zu gern hätte sie sich wenigstens eines heimlich unters Kleid geschoben, um es in Fe-noglios Kammer in Ruhe betrachten zu können, doch die Klammern, die die Ketten hielten, waren fest vernietet mit den hölzernen Buchdeckeln.

»Sieh sie dir ruhig an!« Die Hässliche sprach sie so plötzlich an, dass Meggie zusammenfuhr. Violante hielt sich immer noch den roten Stein vors Auge, er ließ Meggie unwillkürlich an die blutroten Juwelen in den Nasenwinkeln des Natternkopfes denken. Seine Tochter hatte mehr von ihrem Vater, als sie selbst vermutlich wusste.

»Danke«, murmelte Meggie - und schlug eines auf. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem Mo ihr erklärt hatte, warum es »aufschlagen« hieß. »Mach es auf, Meggie«, hatte er gesagt und ihr ein Buch hingeschoben, dessen hölzerne Deckel zwei Messingschließen umklammerten. Ratlos hatte sie ihn angesehen, worauf er ihr zugezwinkert und mit der Faust so fest auf die Kante zwischen den Schließen geschlagen hatte, dass sie aufschnappten wie kleine Mäuler und das Buch sich öffnete.

Das Buch, das Meggie in der Bibliothek des Speckfürsten aufschlug, zeigte keine Spur von Alter, wie es das andere getan hatte. Kein Schimmelfleck verunzierte das Pergament, kein Käfer, kein Bücherwurm hatte daran gefressen, wie sie es von den Handschriften kannte, die Mo restaurierte. Die Jahre gingen nicht gnädig um mit Pergament und Papier, ein Buch hatte allzu viele Feinde, und die Zeit ließ seinen Körper ebenso welken wie den eines Menschen. »Woran man sieht, Meggie«, sagte Mo immer, »dass ein Buch ein lebendes Ding ist!« Wenn sie ihm doch dieses nur hätte zeigen können!

Mit größter Vorsicht blätterte sie die Seiten um - und war doch nicht ganz bei der Sache, denn der Wind wehte Farids Stimme herein, wie ein Mitbringsel aus einer anderen Welt. Meggie lauschte nach draußen, während sie die Schließen des Buches wieder zuklemmte. Fenoglio und Violante sprachen immer noch über schlechte Buchbinder, beide beachteten sie nicht und Meggie trat an eins der verhängten Fenster und lugte durch den Vorhang. Ihr Blick fiel in einen ummauerten Garten, auf Beete, bedeckt mit Blüten wie mit buntem Schaum, und Farid, der zwischen ihnen stand und Flammen an seinen nackten Armen lecken ließ, genau wie Staubfinger es getan hatte, als Meggie ihm das erste Mal beim Feuerspucken zugesehen hatte, damals in Elinors Garten. Bevor er sie verriet.

Jacopo lachte ausgelassen. Er klatschte - und stolperte erschrocken zurück, als Farid die Fackeln wie Feuerräder wirbeln ließ.

Meggie musste lächeln. Ja, Staubfinger hatte ihm wirklich sehr viel beigebracht, auch wenn Farid das Feuer noch nicht ganz so hoch spuckte wie sein Lehrmeister.

»Bücher? Nein, ich sag es Euch doch, Cosimo kam nie her!« Violantes Stimme klang plötzlich merklich schärfer und Meggie wandte sich um. »Er fand nichts an Büchern, er liebte Hunde, gute Stiefel, ein schnelles Pferd. an manchen Tagen liebte er sogar seinen Sohn. Aber ich will nicht über ihn reden.«

Von draußen klang erneut Gelächter herauf. Auch Brianna trat ans Fenster. »Der Junge ist ein sehr guter Feuerspucker«, sagte sie.

»Tatsächlich?« Ihre Herrin warf ihr einen kurzsichtigen Blick zu. »Ich dachte, du magst keine Feuerspucker. Du sagst doch immer, sie taugen nichts.«

»Dieser ist gut. Viel besser als der Rußvogel.« Briannas Stimme klang belegt. »Er ist mir schon auf dem Fest aufgefallen.«

»Violante!« Fenoglios Stimme klang ungeduldig. »Könnten wir den Feuer spuckenden Jungen für einen Moment vergessen? Cosimo mochte keine Bücher, nun gut, so etwas kommt vor, aber etwas mehr werdet Ihr mir doch wohl über ihn erzählen können!«

»Wozu?« Die Hässliche hielt sich erneut den Beryll vors Auge. »Lasst Cosimo endlich ruhen, er ist tot! Die Toten wollen nicht bleiben. Warum versteht das keiner? Und falls Ihr ein Geheimnis über ihn hören wollt - er hatte keins! Er konnte stundenlang über Waffen reden. Er mochte Feuerspucker und Messerwerfer und wilde Ritte durch die Nacht. Er ließ sich zeigen, wie man ein Schwert schmiedet, und focht stundenlang unten auf dem Hof mit den Wachen, bis er jede Finte, die sie kannten, ebenso gut beherrschte wie sie, doch bei den Liedern der Sänger begann er nach der ersten Strophe zu gähnen. Er hätte die Lieder nicht gemocht, die Ihr über ihn geschrieben habt. Vielleicht hätten die Räuberlieder ihm gefallen, aber dass Worte wie Musik sein können, dass sie das Herz schneller schlagen lassen. das hörte er einfach nicht! Selbst eine Hinrichtung interessierte ihn mehr als Worte - obwohl er sie nie genossen hat wie mein Vater.«

»Tatsächlich?« Fenoglios Stimme klang überrascht, aber keineswegs enttäuscht. »Ritte durch die Nacht«, murmelte er, »schnelle Pferde. Ja, warum nicht?«

Die Hässliche beachtete ihn nicht. »Brianna!«, sagte sie. »Nimm das Buch hier. Wenn ich Balbulus genug für die neuen Bilder lobe, wird er es uns vielleicht eine Weile überlassen.« Ihre Dienerin nahm das Buch mit abwesendem Gesicht entgegen und trat erneut ans Fenster.

»Aber das Volk liebte ihn, nicht wahr?« Fenoglio hatte sich aus seinem Stuhl erhoben. »Cosimo war gut zu ihnen, zu den Bauern, den Armen. den Spielleuten.«

Violante strich über das Mal auf ihrer Wange. »Ja, alle liebten ihn. Er war so schön, dass man ihn wohl einfach lieben musste. Aber was die Bauern betraf-« Müde rieb sie sich die kurzsichtigen Augen. »Wisst Ihr, was er immer über sie sagte? >Warum sind sie nur so hässlich? Hässliche Kleider, hässliche Gesichter.. .<. Wenn sie mit ihren Streitigkeiten zu ihm kamen, gab er sich wirklich Mühe, gerecht zu sein, aber es langweilte ihn unendlich. Er konnte es jedes Mal kaum erwarten, wieder hinauszukommen zu den Soldaten seines Vaters, zu seinem Pferd und seinen Hunden. «

Fenoglio schwieg. Sein Gesicht war so ratlos, dass er Meggie fast Leid tat. Wird er mich nun doch nicht lesen lassen?, dachte sie - und für einen seltsamen Augenblick spürte sie fast so etwas wie Enttäuschung.

»Brianna, komm!«, befahl die Hässliche, doch ihre Dienerin regte sich nicht. Sie starrte in den Hof hinunter, als hätte sie noch nie in ihrem Leben einen Feuerspucker gesehen.

Violante runzelte die Stirn und trat neben sie. »Was starrst du denn so?«, fragte sie und blinzelte kurzsichtig nach draußen.

»Er. formt Blumen aus Feuer«, stammelte Brianna. »Erst sind sie wie goldene Knospen, und dann blühen sie auf, wie echte Blüten. Ich habe so etwas erst einmal gesehen. als ich ganz klein war.«

»Schön. Aber jetzt komm.« Die Hässliche drehte sich um und schritt auf die Tür zu. Sie hatte eine seltsame Art zu gehen, den Kopf etwas gesenkt und doch kerzengerade. Brianna warf einen letzten Blick hinaus, bevor sie ihr nacheilte.

Balbulus rieb Farben an, als sie in seine Werkstatt traten, Blau für den Himmel, Rotbraun und Umbra für die Erde. Violante flüsterte ihm etwas zu. Vermutlich schmeichelte sie ihm. Sie zeigte auf das Buch, das Brianna für sie trug.

»Ich verabschiede mich, Euer Hoheit!«, sagte Fenoglio.

»Ja, geht nur!«, erwiderte sie. »Aber wenn Ihr mich das nächste Mal besucht, dann stellt mir keine Fragen über meinen toten Mann, sondern bringt mir eins von den Liedern, die Ihr für die Spielleute schreibt! Ich mag sie sehr, vor allem die über den Räuber, der meinen Vater ärgert. Wie heißt er noch? Ach ja - der Eichelhäher.«

Fenoglio wurde leicht blass unter der sonnenbraunen Haut. »Wie. wie kommt Ihr darauf, dass diese Lieder von mir stammen?«

Die Hässliche lachte. »Oh, habt Ihr es vergessen? Ich bin die Tochter des Natternkopfes, ich habe natürlich meine Spio-ne! Habt Ihr Angst, dass ich meinem Vater erzähle, wer der Verfasser ist? Keine Sorge, wir sprechen nur das Nötigste miteinander. Zudem ist er mehr an dem interessiert, von dem die Lieder handeln, als an dem, der sie geschrieben hat. Trotzdem würde ich einstweilen auf dieser Seite des Waldes bleiben, wäre ich an Eurer Stelle!«

Fenoglio verbeugte sich mit einem gequälten Lächeln. »Ich werde Euren Rat beherzigen, Hoheit«, sagte er.

Die beschlagene Tür fiel schwer ins Schloss, als er sie hinter sich zuzog. »Verflucht!«, murmelte Fenoglio. »Verflucht, verflucht.«

»Was ist?« Besorgt sah Meggie ihn an. »Ist es das, was sie über Cosimo gesagt hat?«

»Unsinn! Nein! Wenn Violante weiß, wer die Lieder über den Eichelhäher schreibt, dann weiß es der Natternkopf auch. Er hat wesentlich mehr Spione als sie, und was, wenn er nicht mehr lange auf seiner Seite des Waldes bleibt? Nun gut, noch ist Zeit, dagegen etwas zu unternehmen.«

»Meggie«, raunte er ihr zu, während er sie die steile Wendeltreppe hinunterzog. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich für den Eichelhäher ein Vorbild hatte. Wie wär’s, wenn du rätst?« Erwartungsvoll sah er sie an. »Du musst wissen, ich nehme mir gern echte Menschen als Vorbild für meine Figuren«, flüsterte er ihr verschwörerisch zu. »Nicht jeder Schriftsteller tut das, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sie einfach lebendiger macht! Gesichtsausdrücke, Gesten, eine Körperhaltung, die Stimme, vielleicht ein Muttermal oder eine Narbe - ich stehle hier, ich stehle dort, und schon beginnen sie zu atmen, bis jeder, der von ihnen hört oder liest, glaubt, sie anfassen zu können! Für den Eichelhäher kamen nicht viele in Frage. Er durfte nicht allzu alt sein, aber auch nicht zu jung -dick oder klein natürlich auch nicht, Helden sind niemals klein, dick oder hässlich, vielleicht in Wirklichkeit, aber niemals in Geschichten. Nein, der Eichelhäher musste groß und stattlich sein, jemand, den die Menschen lieben.«

Fenoglio verstummte. Schritte kamen die Treppe herunter, hastige Schritte, und über ihnen erschien Brianna auf den grob behauenen Stufen.

»Verzeiht!«, sagte sie und blickte sich schuldbewusst um, als hätte sie sich ohne Wissen ihrer Herrin davongestohlen. »Aber dieser Junge - wisst Ihr, von wem er gelernt hat, so mit dem Feuer zu spielen?« Sie sah Fenoglio an, als wünschte sie nichts mehr als die Antwort zu erfahren und hätte doch gleichzeitig vor nichts größere Angst. »Wisst Ihr es?«, fragte sie noch einmal. »Wisst Ihr seinen Namen?«

»Staubfinger«, antwortete Meggie an Fenoglios Stelle. »Staubfinger hat es ihm beigebracht.« Und erst als sie den Namen zum zweiten Mal aussprach, begriff sie, an wen Briannas Gesicht sie erinnerte und der fuchsrote Schimmer auf ihrem Haar.



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