Du kamst niemals so heraus, wie du hineingegangen warst.
Francis Spufford, The Child That Books Built
Mo schlief, als sie Meggie zu ihm brachten. Nur das Fieber ließ ihn schlafen, es betäubte die Gedanken, die ihn wach hielten, Stunde um Stunde, Tag für Tag, während er seinem eigenen Herzschlag lauschte in der zugigen Zelle, in die sie ihn gesperrt hatten, hoch oben in einem der Silbertürme. Durch die vergitterten Fenster schien noch der Mond, als die nahenden Schritte ihn aufschreckten.
»Aufwachen, Eichelhäher! « Der Schein einer Fackel fiel in die Zelle und der Brandfuchs stieß eine schmale Gestalt durch die Tür.
Resa? Was für eine Art Traum war das? Zur Abwechslung ein guter?
Aber es war nicht seine Frau, die sie gebracht hatten. Es war seine Tochter. Mo richtete sich mühsam auf. Er schmeckte Meggies Tränen auf seinem Gesicht, als sie ihn so heftig umarmte, dass er vor Schmerz den Atem einzog. Meggie. Sie hatten sie also auch gefangen.
»Mo? Sag doch was!« Sie griff nach seiner Hand, sah ihm besorgt ins Gesicht. »Wie geht es dir?«, flüsterte sie.
»Nun sieh einer an!«, höhnte der Brandfuchs. »Der Eichelhäher hat tatsächlich eine Tochter. Bestimmt wird sie dir gleich erzählen, dass sie freiwillig hier ist, so wie sie es schon dem Natternkopf weismachen wollte. Einen Handel hat sie mit ihm abgeschlossen, einen Handel, der deinen Hals retten soll.
Du hättest die Märchen hören sollen, die sie erzählt hat. An die Spielleute kannst du sie verkaufen mit der Engelszunge.«
Mo fragte nicht einmal, wovon er sprach. Er zog Meggie an sich, sobald die Wache hinter dem Brandfuchs die Tür verriegelte, küsste ihr Haar, ihre Stirn, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, von dem er so sicher gewesen war, dass er es in dem Stall im Wald zum letzten Mal gesehen hatte. »Meggie, um Gottes willen«, sagte er, während er den Rücken gegen die kalte Mauer lehnte, weil er immer noch kaum stehen konnte. Er war so froh, dass sie da war. So froh und so verzweifelt zugleich. »Wie haben sie dich gefangen?«
»Das macht gar nichts. Es wird alles gut, glaub mir!« Sie strich über sein Hemd, dort, wo immer noch das trockene Blut klebte. »In dem Stall sahst du so krank aus. ich dachte, ich seh dich nie wieder.«
»Das hab ich schon gedacht, als ich den Brief auf deinem Kissen fand.« Er strich ihr die Tränen von den Wimpern, wie er es so oft schon getan hatte, so viele Jahre lang. Wie groß sie war, kaum noch ein Kind, obwohl er das Kind immer noch deutlich sah. »Himmel, es tut so gut, dich zu sehen, Meggie. Ich weiß, das sollte ich nicht sagen. Ein guter Vater würde sagen: Liebste Tochter, musst du dich jedes Mal einsperren lassen, wenn ich es tue?«
Sie musste lachen. Aber er sah die Sorge in ihren Augen. Sie fuhr ihm mit den Fingern übers Gesicht, als entdeckte sie dort Schatten, die es vorher nicht gegeben hatte. Vielleicht hatten die Weißen Frauen ihre Fingerabdrücke hinterlassen, auch wenn sie ihn nicht mit sich genommen hatten.
»Nun sieh mich nicht so besorgt an! Es geht mir besser, viel besser, und du weißt, warum.« Er strich ihr das Haar aus der Stirn, das so sehr dem Haar ihrer Mutter glich. Der Gedanke an Resa schmerzte, wie ein Dorn. »Das waren mächtige Worte. Hat Fenoglio sie dir geschrieben?«
Meggie nickte. »Er hat mir noch mehr geschrieben!«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Worte, die dich retten werden. Dich und Resa und all die anderen.«
Worte. Sein ganzes Leben schien aus ihnen gewebt, sein Leben ebenso wie der Tod.
»Sie haben deine Mutter und die anderen in die Kerker unter der Burg gebracht.« Er erinnerte sich nur zu gut an Fenoglios Beschreibung: Die Kerker der Nachtburg, wo die Angst wie Schimmel an den Wänden klebte und nie ein Sonnenstrahl die schwarzen Steine wärmte... Welche Worte sollten Resa dort herausholen? Und ihn aus diesem silbernen Turm?
»Mo?« Meggie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Meinst du, dass du arbeiten kannst?«
»Arbeiten? Warum?« Er musste lächeln. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit. »Glaubst du, der Natternkopf vergisst, dass er mich aufhängen will, wenn ich ihm seine Bücher restauriere?«
Er unterbrach sie nicht ein einziges Mal, als sie ihm mit leiser Stimme erzählte, was Fenoglio sich zu seiner Rettung hatte einfallen lassen. Er setzte sich auf den Strohsack, auf dem er die letzten Tage und Nächte gelegen und die Kerben gezählt hatte, die andere Unglückliche in die Mauern geritzt hatten, und hörte Meggie zu. Und je mehr sie erzählte, desto verrückter erschien Fenoglios Plan, doch als sie geendet hatte, schüttelte Mo den Kopf- und lächelte.
»Nicht dumm!«, sagte er leise. »Nein, der alte Fuchs ist wahrlich nicht dumm, er kennt seine Geschichte.« Nur schade, dass Mortola die geänderte Fassung nun wohl auch kennt, setzte er in Gedanken hinzu. Und dass du unterbrochen wurdest, bevor du zu Ende gelesen hattest. Meggie schien ihm, wie so oft, die Gedanken von der Stirn zu lesen. Er sah es in ihren Augen. Er strich ihr mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken, wie er es immer getan hatte, als sie noch klein war, so klein, dass ihre Hand kaum hatte seinen Finger umschließen können. Kleine Meggie, große Meggie, tapfere Meggie.
»Himmel, du bist so viel tapferer als ich«, sagte er. »Handelst mit dem Natternkopf. Das hätte ich wirklich gern gesehen.«
Sie schlang ihm die Arme um den Hals, streichelte ihm das müde Gesicht. »Du wirst es sehen, Mo!«, flüsterte sie. »Fe-noglios Worte werden immer wahr, in dieser Welt noch viel mehr als in unserer. Schließlich haben sie dich auch wieder gesund gemacht, oder?«
Er nickte nur. Hätte er etwas gesagt, sie hätte seiner Stimme nur angehört, dass es ihm schwer fiel, wie sie an ein gutes Ende zu glauben. Selbst als Meggie noch jünger gewesen war, hatte sie ihm immer sofort angemerkt, wenn ihn etwas bedrückte, doch damals war es leicht gewesen, sie durch einen Scherz abzulenken, ein Wortspiel, eine Geschichte. Inzwischen war das nicht mehr so einfach. Niemand konnte Mo so leicht ins Herz blicken wie Meggie, mit Ausnahme ihrer Mutter. Resa hatte die gleiche Art, ihn anzusehen.
»Du hast sicher gehört, warum sie mich hierher geschleppt haben, oder?«, fragte er. »Ich soll ein berühmter Räuber sein. Erinnerst du dich daran, wie wir immer Robin Hood gespielt haben?«
Meggie nickte. »Du wolltest immer Robin sein.«
»Und du der Sheriff von Nottingham. Die Bösen sind stärker, Mo, hast du immer gesagt. Kluges Kind. Weißt du, wie sie mich nennen? Der Name wird dir gefallen.«
»Den Eichelhäher.« Meggie flüsterte den Namen fast.
»Ja. Genau. Was denkst du? Es besteht wohl wenig Hoffnung, dass der echte Eichelhäher seinen Namen noch vor meiner Hinrichtung zurückverlangt, oder?«
Wie ernst sie ihn ansah. Als wüsste sie etwas, das er nicht wusste.
»Es gibt keinen anderen, Mo«, sagte sie leise. »Du bist der Eichelhäher.« Ohne ein weiteres Wort griff sie nach seinem Arm, streifte ihm den Ärmel hoch, strich mit dem Finger über die Narbe, die Bastas Hunde hinterlassen hatten. »Die Wunde heilte gerade, als wir in Fenoglios Haus waren. Er hat dir eine Salbe gegeben, damit sie besser vernarbt, erinnerst du dich?«
Er verstand nichts. Kein Wort. »Ja, und?«
»Du bist der Eichelhäher!« Sie sagte es noch einmal.
»Niemand sonst. Fenoglio hat die Lieder über ihn geschrieben. Sie sind alle erfunden, weil er fand, dass seiner Welt ein Räuber fehlte - und er hat dich als Vorbild genommen! Er gab einen sehr edlen Räuber ab in meiner Phantasie, so hat er es mir geschrieben.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis Mos Verstand den Sinn dieser Worte wirklich begriff. Und plötzlich musste er lachen. So laut, dass die Wache die vergitterte Klappe in der Tür öffnete und misstrauisch hereinstarrte. Mo wischte sich das Lachen vom Gesicht und starrte zurück, bis der Wächter mit einem Fluch wieder verschwand. Dann lehnte er den Kopf gegen die Wand in seinem Rücken und schloss die Augen.
»Es tut mir Leid, Mo«, flüsterte Meggie. »So Leid. Manchmal ist Fenoglio ein ziemlich furchtbarer alter Mann!«
»Oh. Naja.«
Vielleicht war es Orpheus deshalb so leicht gefallen, ihn herzulesen. Weil er ohnehin schon in der Geschichte gesteckt hatte. »Was denkst du?«, sagte er. »Soll ich mich nun geehrt fühlen oder Fenoglio den alten Hals umdrehen?«
Meggie legte ihm die Hand auf die Stirn. »Du bist ganz heiß. Leg dich hin. Du musst dich ausruhen.«
Wie oft hatte er dasselbe zu ihr gesagt, wie viele Nächte an ihrem Bett gesessen - Masern, Windpocken, Scharlach. »Herrgott, Meggie«, hatte er gestöhnt, als sie auch noch Keuchhusten bekommen hatte. »Kannst du nicht wenigstens eine Kinderkrankheit auslassen?«
Das Fieber goss ihm heißes Blei in die Adern, und als Meggie sich über ihn beugte, dachte er für einen Moment, Resa säße neben ihm. Aber Meggies Haar war heller.
»Wo stecken Staubfinger und Farid? Sie waren doch bei dir, oder? Haben sie die auch gefangen?« Das Fieber machte seine Zunge schwer.
»Nein. Ich glaube nicht. Wusstest du, dass Staubfinger eine Frau hat?«
»Ja. Ihretwegen hat Basta ihm das Gesicht zerschnitten. Hast du sie gesehen?«
Meggie nickte. »Sie ist sehr schön. Farid ist eifersüchtig auf sie.«
»Tatsächlich? Ich dachte, er ist in dich verliebt.«
Sie wurde rot. So rot.
»Meggie?« Mo richtete sich auf. Himmel, wann würde dieses Fieber endlich verschwinden, es machte ihn kraftlos wie einen alten Mann. »O nein!«, sagte er leise. »Da hab ich wohl etwas verpasst. Meine Tochter verliebt sich, und ich verpasse es! Noch ein Grund mehr, dieses verdammte Buch zu verfluchen. Du hättest bei Farid bleiben sollen! Ich wäre schon zurechtgekommen.«
»Wärst du nicht! Sie hätten dich aufgehängt!«
»Das kann immer noch passieren. Der Junge macht sich jetzt bestimmt schreckliche Sorgen um dich. Armer Kerl. Hat er dich geküsst?«
»Mo!« Sie wandte das Gesicht ab vor Verlegenheit, aber sie lächelte.
»Ich muss das wissen. Ich glaube, ich muss es sogar erlauben, oder?«
»Mo, hör auf! « Sie stieß ihm den Ellbogen in die Seite, wie sie es immer tat, wenn er sie neckte - und erschrak, als er vor Schmerz das Gesicht verzog. »Entschuldige«, flüsterte sie.
»Na ja, solange es wehtut, bin ich am Leben.«
Der Wind trug das Geräusch von Hufen herauf. Waffen klirrten und Stimmen schallten durch die Nacht.
»Weißt du was?«, sagte Mo leise. »Lass uns unser altes Spiel spielen. Wir stellen uns vor, in einer anderen Geschichte zu sein. Vielleicht in Hobbingen, da ist es ziemlich friedlich, oder bei den Wildgänsen mit Wart. Was meinst du?«
Sie schwieg. Eine ganze Weile. Dann griff sie nach seiner Hand und flüsterte: »Ich würde mir gern vorstellen, dass wir zusammen im Weglosen Wald sind. Du und ich und Resa. Dann könnte ich euch die Feen zeigen, die Feuerelfen, die Flüsternden Bäume und - oder nein, warte! Balbums’ Werkstatt! Ja. Dort möchte ich mit dir sein. Er ist ein Buchmaler, Mo! Auf der Burg von Ombra! Der allerbeste. Du könntest die Pinsel sehen und die Farben.«
Wie aufgeregt sie plötzlich klang. Sie konnte es immer noch, alles vergessen wie ein Kind - die verriegelte Tür und den Galgen auf dem Hof. Es reichte der Gedanke an ein paar feine Pinsel.
»Also gut«, sagte Mo und strich ihr noch einmal über das helle Haar. »Wie du meinst. Stellen wir uns vor, dass wir auf der Burg von Ombra sind. Diese Pinsel würde ich wirklich gern sehen.«