Der Dachsbau



»Oh, Sara. Das klingt ja wie eine Geschichte.« »Das ist eine Geschichte - wir alle sind eine Geschichte - du, ich, Miss Minchin!«

Frances Hodgson Burnett, A Little Princess


Farid folgte Staubfinger und Roxane durch die Nacht mit einem Gesicht, das sicherlich ebenso finster war wie der Himmel über ihnen. Es tat weh, Meggie auf der Burg zurückzulassen, egal, wie vernünftig es war. Und nun kam auch noch Roxane mit ihnen. Auch wenn er zugeben musste, dass sie genau zu wissen schien, wo sie hinwollte. Auf den ersten Unterschlupf, gut verborgen hinter dornigem Gestrüpp, stießen sie schon bald. Aber er war verlassen. Beim nächsten trafen sie zwei Männer. Misstrauisch zogen sie die Messer und schoben sie erst zurück in die Gürtel, nachdem Roxane eine ganze Weile mit ihnen gesprochen hatte. Vielleicht spürten sie die Gegenwart von Staubfinger und Farid trotz der Unsichtbarkeit. Zum Glück hatte Roxane einem der beiden wohl irgendwann ein böses Geschwür geheilt, und so verriet er ihr schließlich, wo sie den Schwarzen Prinzen finden würde.

Dachsbau. Zweimal glaubte Farid das Wort zu hören. »Ihr Hauptversteck«, sagte Roxane nur. »Bei Tagesanbruch müssten wir dort sein. Aber sie haben mich gewarnt. Es sollen Soldaten unterwegs sein, viele Soldaten.«

Von da an glaubte Farid manchmal, das Klirren von Schwertern in der Ferne zu hören, das Schnauben von Pferden, Stimmen, marschierende Füße - aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Bald drangen durch das Blätterdach über ihnen die ersten Sonnenstrahlen und ihre Körper wurden lang-sam wieder sichtbar, wie Spiegelungen auf dunklem Wasser. Es tat gut, die eigenen Hände und Füße nicht mehr suchen zu müssen und Staubfinger wieder vor sich zu sehen. Auch wenn er neben Roxane ging.

Ab und zu spürte Farid, wie sie ihn ansah, als suchte sie in seinem dunklen Gesicht immer noch nach irgendeiner Ähnlichkeit mit Staubfinger. Auf ihrem Hof hatte sie ihn ein-, zweimal nach seiner Mutter gefragt. Farid hätte ihr zu gern erzählt, dass seine Mutter eine Prinzessin gewesen sei, viel, viel schöner als Roxane, und dass Staubfinger sie so sehr geliebt hätte, dass er zehn Jahre bei ihr geblieben war, bis der Tod sie von seiner Seite riss und ihm nur den Sohn ließ, den dunkelhäutigen, schwarzäugigen Sohn, der ihm nun folgte wie ein Schatten. Aber mit seinem Alter kam das nicht so ganz hin, und außerdem wäre Staubfinger wohl furchtbar wütend geworden, hätte Roxane ihn nach der Wahrheit hinter dieser Geschichte gefragt, also hatte Farid ihr schließlich nur geantwortet, dass seine Mutter tot sei - was vermutlich stimmte. Wenn Roxane so dumm war zu glauben, Staubfinger sei nur deshalb zu ihr zurückgekehrt, weil er eine andere Frau verloren hatte. umso besser. Jeder Blick, den Staubfinger ihr zuwarf, füllte Farid das Herz bis an den Rand mit Eifersucht. Was, wenn er irgendwann ganz bei ihr blieb, auf dem Hof mit den duftenden Feldern? Was, wenn er keine Lust mehr verspürte, von Marktplatz zu Marktplatz zu ziehen, sondern lieber bei ihr blieb, sie küsste und mit ihr lachte, wie er es jetzt schon viel zu oft tat, und darüber das Feuer und Farid vergaß?

Der Wald wurde immer dichter und die Nachtburg schien nur noch ein böser Traum, als plötzlich rings um sie her mehr als ein Dutzend Männer zwischen den Bäumen standen, bewaffnete Männer in zerlumpten Kleidern. Sie tauchten so lautlos auf, dass selbst Staubfinger sie nicht gehört hatte. Mit feindseligen Gesichtern standen sie da, Messer und Schwerter in den Fäusten, und starrten auf die zwei an Brust und Armen immer noch fast durchsichtigen Körper.

»He, Schnapper, erkennst du mich nicht?«, fragte Roxane und trat auf einen von ihnen zu. »Wie geht es deinen Fingern?«

Das Gesicht des Mannes hellte sich auf. Er war ein grobschlächtiger Kerl mit einer Narbe am Hals. »Ah, die Kräuterhexe«, sagte er. »Natürlich. Was schleichst du so früh im Wald herum? Und was sind das für Geister da?«

»Wir sind keine Geister. Wir suchen den Schwarzen Prinzen.« Als Staubfinger an Roxanes Seite trat, richteten sich alle Waffen auf ihn.

»Was soll das?«, fuhr Roxane die Männer an. »Seht euch sein Gesicht an. Habt ihr noch nie etwas vom Feuertänzer gehört? Der Prinz wird seinen Bären auf euch loslassen, wenn er erfährt, dass ihr ihn bedroht habt.«

Die Männer steckten die Köpfe zusammen und musterten beunruhigt Staubfingers narbiges Gesicht.

»Drei Narben, blass wie Spinnweben«, raunte der Schnapper. »Ja, von dem haben wir alle gehört, aber nur in Liedern.«

»Wer sagt denn, dass man den Liedern nicht glauben kann?« Staubfinger hauchte in die kühle Morgenluft und raunte Feuerworte, bis eine Flamme seinen dampfenden Atem fraß. Die Räuber wichen zurück und starrten ihn an, als wären sie nun nur umso sicherer, dass er ein Geist war. Staubfinger aber griff mit beiden Händen in die Luft und drückte die Flamme aus, als wäre nichts leichter. Dann bückte er sich und kühlte sich die Handflächen am taufeuchten Gras.

»Habt ihr das gesehen?« Der Schnapper sah die anderen an. »Genauso hat der Prinz es uns immer erzählt - er fängt das Feuer so, wie ihr ein Kaninchen fangt, und spricht mit ihm wie mit einer Geliebten.«

Die Räuber nahmen sie in die Mitte. Farid musterte ihre Gesichter voll Unbehagen, während er zwischen ihnen ging. Sie erinnerten ihn an andere Gesichter, Gesichter aus einem früheren Leben, aus einer nicht gern erinnerten Welt, und er hielt sich, so dicht es ging, an Staubfingers Seite.

»Du bist sicher, dass diese Kerle zum Prinzen gehören?«, fragte Staubfinger Roxane mit leiser Stimme.

»O ja«, flüsterte sie zurück. »Er kann sich die Männer nicht immer aussuchen, die ihm folgen.«

Farid fand die Antwort wenig beruhigend.

Die Räuber, bei denen Farid früher gelebt hatte, hatten Höhlen voller Schätze ihr Eigen genannt, prächtiger als die Säle der Nachtburg. Mit diesen Höhlen konnte sich der Unterschlupf, zu dem der Schnapper sie brachte, nicht messen. Der Eingang, verborgen in einer Erdspalte zwischen hohen Buchen, war so eng, dass man sich hindurchzwängen musste, und in dem Gang dahinter musste selbst Farid den Kopf einziehen. Die Höhle, zu der er führte, war nicht viel besser. Weitere Gänge zweigten ab von ihr, die offenbar noch tiefer in den Schoß der Erde führten.

»Willkommen im Dachsbau!«, sagte der Schnapper, während die Männer, die in der Höhle auf dem Boden hockten, sie misstrauisch betrachteten. »Wer sagt, dass sich nur der Natternkopf in die Erde graben kann? Hier gibt es einige Männer, die Jahre in seinen Bergwerken geschuftet haben. Seither wissen sie sehr gut, wie man sich einnistet im Schoß der Erde, ohne dass sie einem auf den Kopf fällt.«

Der Schwarze Prinz war allein, in einer Höhle abseits von den anderen, nur sein Bär war bei ihm, und er sah müde aus. Aber bei Staubfingers Anblick hellte sein Gesicht sich auf und die Nachrichten, die sie brachten, waren nicht so neu für ihn, wie sie gedacht hatten. »Ah ja, der Rußvogel«, sagte er, während der Schnapper sich bei der Erwähnung dieses Namens den Finger über die Kehle zog. »Ich hätte mich schon viel eher fragen müssen, wie er sich die Pülverchen der Alchemisten leisten kann, die er für seine Feuerspiele braucht. Wohl kaum von den paar Münzen, die er auf den Märkten verdient. Aber leider hab ich ihn erst nach dem Überfall auf das Geheime Lager beobachten lassen. Er hat sich schon bald von den anderen getrennt, die wir befreit haben, und sich an der Grenze mit Spitzeln des Natternkopfes getroffen. Während die, die er verraten hat, im Kerker der Nachtburg sitzen. Und ich kann nichts für sie tun! Sitze hier fest in einem Wald, der von Soldaten wimmelt. Oben an der Straße lässt der Natternkopf sie zusammenziehen, an der Straße, die nach Ombra führt.«

»Cosimo?« Roxane sprach den Namen aus, und der Prinz nickte.

»Ja. Drei Boten hab ich ihm geschickt, drei Warnungen. Einer ist zurückgekehrt, nur um zu berichten, dass Cosimo ihn ausgelacht hat. So dumm hatte ich ihn nicht in Erinnerung. Das Jahr, das er fort war, scheint ihm den Verstand geraubt zu haben. Will Krieg führen gegen den Natternkopf mit einem Heer aus Bauern. Das ist fast so, als würden wir gegen ihn in die Schlacht ziehen.«

»Wir hätten bessere Chancen«, sagte der Schnapper.

»Ja, vermutlich.« Der Schwarze Prinz klang so mutlos, dass es Farid das Herz zusammenzog. Er hatte heimlich immer auf ihn gehofft, weit mehr als auf Fenoglios Worte, doch was sollte diese Schar zerlumpter Männer, die sich im Wald eingruben wie Karnickel, gegen die Nachtburg ausrichten?

Man brachte ihnen zu essen, und Roxane sah sich Staubfingers Bein an. Sie bestrich die Wunde mit einer Paste, die es in der Höhle für einen Moment nach Frühling riechen ließ. Und Farid musste an Meggie denken. Eine Geschichte fiel ihm ein, die er in einer kalten Wüstennacht an einem Feuer gehört hatte. Von einem Dieb hatte sie gehandelt, der sich in eine Prinzessin verliebte, er erinnerte sich noch sehr gut. Die beiden liebten sich so sehr, dass sie miteinander sprechen konnten, über viele Meilen hinweg. Sie konnten die Gedanken des anderen hören, auch wenn Mauern sie trennten, spüren, ob der andere traurig oder glücklich war. Doch sosehr Farid auch in sich hineinlauschte, er spürte gar nichts. Ja, er hätte nicht einmal sagen können, ob Meggie überhaupt noch lebte. Sie schien fort zu sein, einfach fort, aus seinem Herzen, aus der Welt. Als er sich die Tränen aus den Augen wischte, spürte er, dass Staubfinger ihn ansah.

»Ich muss dies verfluchte Bein ausruhen, sonst heilt es nie«, sagte er leise. »Aber wir werden zurückgehen. Wenn es Zeit ist.«

Roxane runzelte die Stirn, doch sie sagte nichts. Der Prinz und Staubfinger begannen zu reden, so leise, dass Farid ganz dicht an sie heranrücken musste, um etwas zu verstehen. Roxane legte den Kopf auf Staubfingers Schoß und schlief bald ein. Farid aber rollte sich an seiner Seite zusammen wie ein Hund, schloss die Augen und lauschte den beiden Männern.

Der Schwarze Prinz wollte alles über Zauberzunge wissen - ob die Hinrichtung schon angesetzt war, wo sie ihn gefangen hielten, wie es um seine Wunde stand.

Staubfinger erzählte ihm, was er wusste. Er erzählte auch von dem Buch, das Meggie dem Natternkopf als Lösegeld für ihren Vater angeboten hatte.

»Ein Buch, das den Tod festhält?« Der Prinz lachte ungläubig. »Glaubt der Natternkopf neuerdings an Märchen?«

Darauf sagte Staubfinger nichts. Nichts von Fenoglio, nichts davon, dass sie alle Teil einer Geschichte waren, die ein alter Mann geschrieben hatte. Farid hätte es an seiner Stelle auch nicht getan. Der Schwarze Prinz würde wohl kaum glauben, dass es Worte gab, die auch sein Schicksal bestimmen konnten, Worte, die wie unsichtbare Wege waren, von denen es kein Entkommen gab.

Der Bär grunzte im Schlaf und Roxane wandte unruhig den Kopf. Sie hielt Staubfingers Hand, als wollte sie ihn noch mit in ihre Träume nehmen.

»Du hast dem Jungen erzählt, dass ihr in die Burg zurückkehren werdet«, sagte der Prinz. »Ihr könnt mit uns gehen.«

»Ihr wollt zur Nachtburg? Wozu? Willst du sie stürmen mit den paar Männern? Oder dem Natternkopf erzählen, dass er den falschen Mann gefangen hat? Mit der hier auf der Nase.« Staubfinger griff zwischen die Decken, die auf dem Boden lagen, und hielt eine Vogelmaske in der Hand. Eichelhäherfedern auf brüchiges Leder genäht. Er zog sich die Maske über das narbige Gesicht.

»Viele von uns haben diese Maske schon getragen«, sagte der Prinz. »Und nun wollen sie wieder einen Unschuldigen hängen für die Taten, die wir begangen haben. Das kann ich nicht zulassen! Diesmal ist es ein Buchbinder. Beim letzten Mal haben sie, nachdem wir einen ihrer Silbertransporte überfallen hatten, einen Köhler aufgehängt, nur weil er einen vernarbten Arm hatte! Seine Frau weint vermutlich immer noch.«

»Es sind nicht nur eure Taten, die meisten hat Fenoglio frei erfunden!« Staubfingers Stimme klang gereizt. »Verflucht, Prinz, du kannst Zauberzunge nicht retten. Du wirst nur ebenfalls sterben. Oder glaubst du allen Ernstes, der Natternkopf lässt ihn laufen, nur weil du dich stellst?«

»Nein, so dumm bin ich nicht. Aber irgendetwas muss ich tun.« Der Prinz schob seinem Bären die Hand ins Maul, wie er es so oft tat, und wie jedes Mal kam die schwarze Hand wie durch ein Wunder wieder heil zwischen den Bärenzähnen hervor.

»Ja, ja, schon gut.« Staubfinger seufzte. »Du und deine ungeschriebenen Regeln. Du kennst Zauberzunge nicht mal! Wie kannst du für jemanden sterben wollen, den du nicht kennst?«

»Für wen würdest du sterben?«, fragte der Prinz zurück.

Farid sah, wie Staubfinger Roxanes schlafendes Gesicht betrachtete - und sich zu ihm umwandte. Schnell schloss er die Augen.

»Du würdest für Roxane sterben«, hörte er den Prinzen sagen.

»Vielleicht«, sagte Staubfinger, und Farid sah durch seine geschlossenen Wimpern, wie er Roxane mit dem Finger über die dunklen Brauen fuhr. »Vielleicht aber auch nicht. Hast du viele Spitzel auf der Nachtburg?«

»Sicher. Küchenmädchen, Stallburschen, ein paar Wachen, obwohl die sehr teuer sind, und was das Nützlichste ist, einer der Falkner schickt mir ab und zu eine Nachricht mit einem seiner schlauen Vögel. Ich werde es sofort erfahren, wenn sie den Tag der Hinrichtung festgelegt haben. Du weißt ja, der Natternkopf lässt so etwas nicht mehr auf irgendeinem Marktplatz oder vor Publikum auf dem Burghof stattfinden, seit du ihm meine Bestrafung so gründlich verdorben hast. Er war ohnehin nie ein Freund solcher Spektakel. Eine Hinrichtung ist eine ernste Angelegenheit bei ihm. Für einen armen Spielmann reicht der Galgen vor dem Tor, dafür wird kein Aufhebens gemacht, aber der Eichelhäher wird hinter dem Tor sterben.«

»Ja. Wenn seine Tochter ihm dieses Tor nicht mit ihrer Stimme aufschließt«, erwiderte Staubfinger. »Mit ihrer Stimme und einem Buch voller Unsterblichkeit.«

Farid hörte, wie der Schwarze Prinz lachte. »Das klingt ja fast wie ein neues Lied vom Tintenweber!«

»Ja«, antwortete Staubfinger mit heiserer Stimme. »Es klingt ganz nach ihm, nicht wahr?«



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