Fenoglios Plan



Ich brauche nichts als ein Stück Papier und ein Schreibwerkzeug, und ich werde die Welt aus den Angeln heben.

Friedrich Nietzsche





Zwei Tage waren seit dem Fest auf der Burg vergangen, zwei Tage, in denen Fenoglio Meggie jeden Winkel von Ombra gezeigt hatte. »Aber heute«, sagte er, bevor sie sich nach dem Frühstück bei Minerva wieder einmal auf den Weg machten, »heute zeig ich dir den Fluss. Es ist ein steiler Abstieg, etwas unangenehm für meine alten Knochen, aber nirgends kann man ungestörter reden. Außerdem kannst du dort, wenn wir Glück haben, ein paar Nixen sehen.«

Meggie hätte gern eine Nixe gesehen. Im Weglosen Wald hatte sie nur eine einzige in einem trüben Tümpel entdeckt, und sobald Meggies Spiegelbild auf das Wasser gefallen war, war sie davongehuscht. Doch worüber wollte Fenoglio in Ruhe reden? Die Antwort war nicht schwer.

Was sollte sie diesmal herbeilesen? Wen sollte sie herbeilesen - und woher? Aus einer anderen Geschichte, die Fenoglio auch geschrieben hatte? Der Weg, den er sie hinabführte, wand sich an steil abfallenden Feldern entlang, auf denen die Bauern gebückt in der Morgensonne arbeiteten. Wie mühsam es sein musste, der steinigen Erde genug abzuringen, um damit den Winter zu überstehen. Und dann all die heimlichen Mitesser, die sich über die wenigen Vorräte hermachten: Mäuse, Mehlwürmer, Maden und Asseln. Das Leben war so viel schwieriger in Fenoglios Welt, und doch schien es Meggie, als spinne seine Geschichte mit jedem anbrechenden Tag einen

Zauber um ihr Herz, klebrig wie Spinnenfäden und gleichzeitig betörend schön.

Alles um sie her schien inzwischen so wirklich. Ihr Heimweh war fast verschwunden.

»Komm!« Fenoglios Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken. Vor ihnen lag der Fluss, schimmernd in der Sonne, die Ufer gesäumt von welken Blüten, die auf dem Wasser trieben. Fenoglio griff nach ihrer Hand und zog sie zwischen die großen Steine am Ufer. Hoffnungsvoll beugte Meggie sich über das träge dahinfließende Wasser, doch es war keine Nixe zu entdecken.

»Tja, sie sind scheu. Zu viele Menschen!« Fenoglio wies missbilligend auf die Frauen, die nur wenige Schritte entfernt ihre Wäsche wuschen. Er winkte Meggie weiter, bis die Stimmen verklangen und nur noch das Rauschen des Wassers zu hören war. Hinter ihnen ragten die Dächer und Türme von Ombra in den blassblauen Himmel. Die Häuser drängten sich zwischen den Mauern wie Vögel in einem zu engen Nest, und darüber flatterten die schwarzen Banner der Burg, als wollten sie den Kummer des Speckfürsten in den Himmel schreiben.

Meggie kletterte auf einen flachen Stein, der weit ins Wasser hineinragte. Der Fluss war nicht breit, doch er schien tief zu sein, das Wasser war dunkler als die Schatten am gegenüberliegenden Ufer.

»Siehst du eine?« Fenoglio rutschte fast aus auf dem feuchten Stein, als er neben sie trat. Meggie schüttelte den Kopf. »Was ist mit dir?« Fenoglio kannte sie gut nach all den Tagen und Nächten, die sie gemeinsam in Capricorns Haus verbracht hatten. »Hast du etwa wieder Heimweh?«

»Nein, nein.« Meggie kniete sich hin und fuhr mit den Fingern durch das kalte Wasser. »Ich hatte nur wieder diesen Traum.«

Am Tag zuvor hatte Fenoglio ihr die Gasse der Bäcker gezeigt, die Häuser, in denen die reichen Gewürz- und Tuchhändler wohnten, und jede Fratze, jede Blume, jeden reich verzierten Fries, mit dem die kunstfertigen Steinmetze von Ombra die Häuser der Stadt geschmückt hatten. Fenoglio schien das alles für sein ureigenes Werk zu halten, dem Stolz nach zu urteilen, mit dem er Meggie an jeden noch so verborgenen Winkel der Stadt führte - »nun ja, nicht jeden«, hatte er eingestanden, als sie ihn einmal in eine Gasse hatte ziehen wollen, die sie noch nicht gesehen hatten. »Natürlich hat auch Ombra seine hässlichen Seiten, aber wozu soll dein hübscher Kopf sich damit belasten?«

Es war schon dunkel gewesen, als sie in die Kammer unter Minervas Dach zurückgekehrt waren, und Fenoglio hatte sich mit Rosenquarz gestritten, weil der Glasmann die Feen mit Tinte bespritzt hatte. Meggie war trotzdem eingenickt, obwohl die Stimmen der beiden immer lauter geworden waren, auf dem Strohsack unter dem Fenster, den Minerva für sie die steile Treppe hatte hinaufschaffen lassen - und plötzlich war da dieses Rot gewesen, ein stumpfes, feucht schimmerndes Rot, und ihr Herz hatte begonnen, schneller und schneller zu schlagen, immer schneller, bis das heftige Klopfen sie hatte aus dem Schlaf fahren lassen.

»Da, sieh doch!« Fenoglio fasste nach ihrem Arm.

Bunte Schuppen schillerten unter der feuchten Haut des Flusses. Im ersten Augenblick hätte Meggie sie fast für Blätter gehalten, doch dann sah sie die Augen, Augen, die sie anblickten, menschenähnlich und doch so anders, denn es gab kein Weiß in ihnen. Die Arme der Nixe wirkten zart und zerbrechlich, fast durchscheinend. Noch ein Blick, dann schlug der geschuppte Schwanz das Wasser, und nichts war mehr zu sehen, nur ein Schwarm Fische, der vorbeiglitt, silbrig wie Schneckenschleim, und eine Schar Feuerelfen, wie sie sie mit Farid im Wald gesehen hatte. Farid. er hatte eine Feuerblume vor ihren Füßen blühen lassen, nur für sie. Staubfinger hatte ihm wirklich viel beigebracht, wunderbare Dinge.

»Ich glaub, es ist immer derselbe Traum, aber ich kann mich nicht erinnern. Nur an die Angst. als wäre etwas Schreckliches passiert!« Sie wandte sich zu Fenoglio um. »Glaubst du, es gibt so etwas?«

»Unsinn!« Fenoglio wischte den Gedanken fort wie ein lästiges Insekt. »An deinem bösen Traum ist nur Rosenquarz schuld. Bestimmt haben die Feen sich in der Nacht auf deine Stirn gesetzt, weil er sie geärgert hat! Sie sind rachsüchtige kleine Dinger, und an wem sie sich rächen, ist ihnen leider vollkommen egal.«

»Ach so.« Meggie tauchte die Finger erneut ins Wasser. Es war so kalt, dass sie schauderte. Sie hörte die waschenden Frauen lachen, und eine Feuerelfe ließ sich auf ihrem Arm nieder. Insektenaugen starrten sie an aus einem Menschengesicht. Hastig scheuchte Meggie das winzige Geschöpf fort.

»Sehr weise«, stellte Fenoglio fest. »Vor Feuerelfen musst du dich hüten. Sie verbrennen dir die Haut.«

»Ich weiß, Resa hat mir von ihnen erzählt.« Meggie sah der Elfe hinterher. Auf ihrem Arm brannte dort, wo sie sich niedergelassen hatte, ein roter Fleck.

»Sie sind meine Erfindung«, erklärte Fenoglio stolz. »Sie produzieren einen Honig, der in die Lage versetzt, mit dem Feuer zu sprechen. Sehr begehrt unter Feuerspuckern, aber die Elfen greifen jeden an, der ihren Nestern zu nahe kommt, und kaum einer weiß, wie man es anstellt, den Honig zu stehlen, ohne dafür aufs abscheulichste verbrannt zu werden. Wenn ich es recht überlege, ist Staubfinger wohl der Einzige.«

Meggie nickte nur. Sie hatte kaum zugehört. »Worüber wolltest du mit mir reden? Du willst, dass ich etwas lese, stimmt’s?«

Ein paar welke rote Blüten trieben auf dem Wasser vorbei, rot wie getrocknetes Blut, und Meggies Herz begann erneut so heftig zu klopfen, dass sie die Hand gegen die Brust presste. Was war nur los mit ihr?

Fenoglio schnürte den Beutel an seinem Gürtel auf und schüttelte einen flachen roten Stein in seine Hand. »Ist er nicht prächtig?«, fragte er. »Ich habe ihn heute Morgen besorgt, du hast noch geschlafen. Es ist ein Beryll, ein Lesestein. Man benutzt ihn wie eine Brille.«

»Ich weiß. Und?« Meggie strich mit den Fingerspitzen über den glatten Stein. Mo besaß mehrere. Sie lagen auf der Fensterbank seiner Werkstatt.

»Und? Nun sei doch nicht so ungeduldig! Violante ist fast so blind wie ein Maulwurf, und ihr reizendes Söhnchen hat ihren alten Lesestein versteckt. Also hab ich einen neuen besorgt (auch wenn mich das fast ruiniert hat). Dafür wird sie mir hoffentlich so dankbar sein, dass sie uns einiges über ihren verstorbenen Gatten erzählt! Ich weiß, ich habe Cosimo erfunden, aber es ist lange her, dass ich über ihn geschrieben habe. Ehrlich gesagt, erinnere ich mich nicht sonderlich gut, außerdem. wer weiß, wie er sich verändert hat, seit diese Geschichte es sich in den Kopf gesetzt hat, sich selbst weiterzuerzählen!«

Eine böse Ahnung regte sich in Meggie. Nein, das konnte er nicht vorhaben. Nicht einmal Fenoglio würde auf eine solche Idee kommen. Oder?

»Hör zu, Meggie!« Er senkte die Stimme, als könnten die Frauen, die flussaufwärts ihre Wäsche wuschen, ihn vielleicht doch hören. »Wir zwei werden Cosimo zurückholen!«

Meggie richtete sich so abrupt auf, dass sie fast ausrutschte und in den Fluss fiel. »Du bist verrückt. Vollkommen verrückt! Cosimo ist tot!«

»Kann das jemand beweisen?« Fenoglios Lächeln gefiel ihr ganz und gar nicht. »Ich hab es dir doch gesagt - seine Leiche war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Selbst sein Vater war nicht sicher, ob es wirklich Cosimo war! Erst als ein halbes Jahr verstrichen war, hat er den Toten in dem Sarkophag bestatten lassen, der für seinen Sohn bestimmt war.«

»Aber es war Cosimo, oder?«

»Wer will das sagen? Es war ein furchtbares Gemetzel. Man sagt, die Brandstifter hätten irgendein Alchemistenpulver in ihrer Festung gelagert. Der Brandfuchs hat es angezündet, um zu entkommen. Die Flammen haben Cosimo und die meisten seiner Männer eingeschlossen, die Mauern sind über ihnen eingestürzt, und niemand konnte später sagen, wer die Toten waren, die man unter den Trümmern fand.«

Meggie schauderte. Fenoglio aber schien das alles sehr zu gefallen. Sie konnte kaum glauben, wie zufrieden er aussah.

»Er war es bestimmt, du weißt es!« Meggie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Fenoglio! Wir können keinen Toten zurückholen!«

»Ich weiß, ich weiß, vermutlich nicht.« Aus seiner Stimme klang tiefstes Bedauern. »Obwohl - sind die Toten nicht auch zurückgekommen, als du den Schatten gerufen hast?«

»Nein! Sie sind alle wieder zu Asche geworden! Schon nach wenigen Tagen. Elinor hat schrecklich geweint - sie ist in Capricorns Dorf gefahren, obwohl Mo versucht hat, es ihr auszureden, und auch dort war niemand mehr. Sie waren alle fort. Für immer.«

»Hm.« Fenoglio starrte auf seine Hände. Sie sahen aus wie die Hände eines Bauern oder eines Handwerkers, nicht wie Hände, die nur eine Feder führten. »Also nicht, nun gut!«, murmelte er. »Ist vielleicht auch besser so. Wie soll eine Geschichte funktionieren, wenn jeder jederzeit von den Toten zurückkehren kann? Ein hoffnungsloses Durcheinander würde das geben und die ganze Spannung ruinieren! Nein. Du hast Recht: Die Toten sollten tot bleiben. Und deshalb werden wir auch nicht Cosimo zurückholen, sondern nur jemanden, der so aussieht wie er!«

». so aussieht? Du bist verrückt!«, flüsterte Meggie. »Vollkommen verrückt!«

Aber dieses Urteil beeindruckte Fenoglio nicht im Geringsten. »Na und? Alle Schriftsteller sind verrückt! Glaub mir, ich werde meine Worte sehr sorgsam auswählen, so sorgsam, dass unser nagelneuer Cosimo der festen Überzeugung sein wird, er sei der alte. Verstehst du, Meggie? Selbst wenn er nur ein Doppelgänger ist - er muss es ja nicht wissen. Er darf es nicht wissen! Was sagst du?« Meggie schüttelte nur den Kopf. Sie war nicht hergekommen, um diese Welt zu ändern. Sie hatte sie nur sehen wollen!

»Meggie!« Fenoglio legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du hast den Speckfürsten gesehen. Er kann jeden Tag ster-ben, und was dann? Der Natternkopf lässt nicht nur Spielleute aufknüpfen! Er lässt seine Bauern blenden, wenn sie im Wald ein Kaninchen fangen. Er lässt Kinder in seinen Silberbergwerken arbeiten, bis sie blind und krumm sind, und zu seinem Herold hat er den Brandfuchs gemacht, einen Brandstifter und Totschläger!«

»Ach ja? Und wer hat ihn so erfunden? Du!« Ärgerlich stieß Meggie seine Hand weg. »Du hattest schon immer eine Vorliebe für deine Bösewichter.«

»Nun ja! Mag sein.« Fenoglio zuckte die Schultern, als wäre das etwas, gegen das er völlig machtlos war. »Aber was sollte ich machen? Wer will schon eine Geschichte über zwei nette Fürsten lesen, die über eine lustige Schar vollkommen glücklicher Untertanen herrschen? Was für eine Geschichte sollte das sein?«

Meggie beugte sich über den Fluss und fischte eine der roten Blüten heraus. »Du erfindest sie gern!«, sagte sie leise. »All diese Scheusale.«

Darauf wusste selbst Fenoglio nichts zu erwidern. Und so schwiegen sie beide, während die Frauen drüben ihre Wäsche auf den Steinen zum Trocknen auslegten. Es war immer noch warm in der Sonne, trotz der welken Blüten, die der Fluss unermüdlich ans Ufer schwemmte.

Fenoglio war es schließlich, der das Schweigen brach. »Bitte, Meggie!«, sagte er. »Nur noch das eine Mal. Wenn du mir hilfst, diese Geschichte wieder an den Zügel zu nehmen, schreibe ich dir die allerwunderbarsten Worte, um dich wieder nach Hause zu bringen - wann immer du willst! Und solltest du es dir vielleicht anders überlegen, weil es dir in meiner Welt besser gefällt, dann hol ich dir auch deinen Vater her. und deine Mutter. selbst diese Bücherfresserin, obwohl ich glaube, dass sie eine furchtbare Person ist, nach dem, was du mir erzählt hast!«

Darüber musste Meggie lächeln. Ja, Elinor würde es hier gefallen, dachte sie, und Resa würde sicherlich auch gern noch einmal herkommen. Aber Mo, nein, Mo nicht. Niemals.

Mit einem Ruck stand sie auf und strich sich das Kleid glatt. Sie blickte zur Burg hinauf und stellte sich vor, wie es sein würde, wenn dort oben der Natternkopf herrschte mit seinem Salamanderblick. Schon der Speckfürst hatte ihr nicht sonderlich gefallen.

»Meggie, glaub mir«, sagte Fenoglio. »Du würdest etwas wahrhaft Gutes tun. Du würdest einem Vater seinen Sohn zurückgeben, einer Frau ihren Mann, einem Kind seinen Vater

- gut, es ist kein sonderlich nettes Kind, aber trotzdem! Und du würdest helfen, die Pläne des Natternkopfes zu durchkreuzen. Wenn das nicht ehrenhaft ist! Bitte, Meggie!« Fast flehend sah er sie an. »Hilf mir. Es ist doch meine Geschichte! Glaub mir, ich weiß, was das Beste für sie ist! Leih mir deine Stimme, nur noch ein Mal!«

Leih mir deine Stimme. Meggie blickte immer noch hinauf zur Burg, aber sie sah nicht länger die Türme und die schwarzen Banner, sondern den Schatten und Capricorn, wie er tot im Staub gelegen hatte.

»Gut, ich denk darüber nach«, sagte sie. »Aber jetzt wartet Farid auf mich.«

Fenoglio blickte sie so verblüfft an, als wären ihr aus heiterem Himmel Flügel gewachsen. »So, tut er das?« Die Missbilligung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Aber ich wollte mit dir zur Burg, um der Hässlichen den Stein zu bringen. Ich wollte, dass du hörst, was sie über Cosimo erzählt.«

»Ich hab es ihm versprochen!« Sie hatten sich vor dem Stadttor verabredet, damit Farid nicht an den Wachen vorbeimusste.

»Versprochen? Na, und? Du wärst nicht das erste Mädchen, das einen Verehrer warten lässt.«

»Er ist nicht mein Verehrer!«

»Umso besser! Da dein Vater nicht hier ist, muss ich schließlich auf dich aufpassen!« Fenoglio musterte sie mit mürrischer Miene. »Du bist wirklich groß geworden! Die Mädchen hier heiraten, wenn sie in deinem Alter sind. Ja, sieh mich nicht so an! Minervas Zweitälteste Tochter ist seit fünf Monaten verheiratet, und sie ist gerade vierzehn geworden. Wie alt ist dieser Junge? Fünfzehn? Sechzehn?«

Meggie antwortete ihm nicht. Sie wandte ihm einfach den Rücken zu.



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