Fort


»Ich bin aufgewacht und wusste, dass er fort war.

Ich wusste sofort, dass er fort war.

Wenn man jemanden liebt, dann weiß man so etwas.«

David Almond, Zeit des Mondes


Mo wusste sofort, dass Meggie fort war. Er wusste es in dem Moment, in dem er an ihre Tür klopfte und ihm nichts als Stille antwortete. Resa deckte unten in der Küche mit Elinor den Frühstückstisch. Das Klirren der Teller drang bis zu ihm herauf, aber er hörte es kaum, er stand nur da, vor der verschlossenen Tür, und lauschte seinem eigenen Herzen. Viel zu laut schlug es, viel zu schnell. »Meggie?« Er drückte die Klinke herunter, aber die Tür war verschlossen. Meggie schloss nie ab, niemals.

Sein Herz schlug, als wollte es ihn ersticken. Die Stille hinter der Tür klang schrecklich vertraut. Genauso hatte sie sich ihm schon einmal auf die Ohren gelegt, damals, als er Resas Namen gerufen hatte, wieder und wieder. Zehn Jahre hatte er auf Antwort warten müssen.

Nicht wieder. Gott, bitte, nicht wieder. Nicht Meggie.

Es schien, als hörte er das Buch hinter der Tür flüstern, Fenoglios verfluchte Geschichte. Er glaubte die Seiten rascheln zu hören, gefräßig wie bleiche Zähne.

»Mortimer?« Elinor stand hinter ihm. »Die Eier werden kalt. Wo bleibt ihr? Himmel!« Sie sah ihm besorgt ins Gesicht, griff nach seiner Hand. »Was ist los mit dir? Du bist ja blass wie der Tod.«

»Hast du einen Ersatzschlüssel für Meggies Tür, Elinor?«

Sie begriff sofort. Ja, sie erriet ebenso wie er, was hinter der verschlossenen Tür passiert war, vermutlich in der letzten Nacht, während sie alle geschlafen hatten. Sie drückte seine Hand. Dann drehte sie sich wortlos um und hastete die Treppe hinunter. Mo aber lehnte sich gegen die verschlossene Tür, hörte, wie Elinor nach Darius rief, wie sie fluchend nach dem Schlüssel suchte, und starrte die Bücher an, die sich in Elinors Regalen reihten, den ganzen langen Flur hinunter. Resa kam die Treppe heraufgehastet, mit blassem Gesicht. Sie fragte ihn, was passiert war, ihre Hände flatterten dabei wie aufgescheuchte Vögel. Aber was sollte er antworten? Kannst du dir das nicht denken? Hast du ihr nicht oft genug davon erzählt?

Noch einmal drückte er die Klinke herunter, als könnte das irgendetwas ändern. Meggie hatte das ganze Türblatt mit Zitaten bedeckt. Wie Zauberformeln erschienen sie ihm nun, mit kindlicher Hand auf den weißen Lack geschrieben. Bringt mich in eine andere Welt! Nun macht schon! Ich weiß, ihr könnt es. Mein Vater hat mir vorgemacht, wie. Seltsam, dass einem das Herz nicht einfach stehen blieb, wenn es so wehtat. Doch auch vor zehn Jahren war es nicht stehen geblieben, damals, als die Buchstaben Resa verschlungen hatten.

Elinor zog ihn zur Seite, sie hielt den Schlüssel in den zitternden Fingern, schob ihn ungeduldig ins Schloss. Ärgerlich rief sie Meggies Namen - als wüsste sie nicht auch längst, dass nur eines hinter der Tür wartete: Stille, wie in jener Nacht, die Mortimer die Angst vor seiner eigenen Stimme gelehrt hatte.

Er betrat das leere Zimmer als Letzter, zögernd. Auf Meggies Kissen lag ein Brief. Liebster Mo... Er las nicht weiter, wollte nichts wissen von den Worten, die ihm nur das Herz zerbeißen würden. Während Resa nach dem Brief griff, sah er sich um - suchte mit den Augen nach einem anderen Blatt, dem Blatt, das der Junge mitgebracht hatte, aber es war nirgends zu entdecken. Natürlich nicht, du Dummkopf!, sagte er sich. Sie hat das Blatt mitgenommen, schließlich muss sie es in der Hand gehalten haben, als sie las. Erst Jahre später erfuhr er von Meggie, dass Orpheus’ Blatt sehr wohl noch in ihrem Zimmer gewesen war, in einem Buch, wo sonst? Ihrem Erdkundebuch. Was, wenn er es gefunden hätte? Hätte er Meggie folgen können? Nein, vermutlich nicht. Für ihn hatte die Geschichte einen anderen Weg vorgesehen, einen dunkleren, schwereren Weg.

»Vielleicht ist sie ja auch nur mit dem Jungen fort! Mädchen in ihrem Alter machen so etwas. Nicht dass ich davon etwas verstehe, aber.« Elinors Stimme klang wie von ferne zu ihm. Resa reichte ihr zur Antwort nur den Brief, der auf dem Kissen gewartet hatte.

Fort. Meggie war fort.

Er hatte keine Tochter mehr.

Würde sie wiederkommen, so wie ihre Mutter? Von irgendeiner Stimme wieder herausgefischt aus dem Meer der Worte? Und wann? Nach zehn Jahren, so wie Resa? Dann würde sie erwachsen sein, und er würde sie vielleicht nicht einmal erkennen. Alles verschwamm ihm vor den Augen, Meggies Schulsachen auf dem Tisch vorm Fenster, ihre Kleider, sorgsam über die Stuhllehne gehängt, als hätte sie tatsächlich vor, zurückzukehren, ihre Stofftiere gleich neben dem Bett, auch wenn sie Meggie schon seit langem nicht mehr beim Einschlafen helfen mussten, die pelzigen Gesichter kahl geküsst. Resa begann zu weinen, lautlos, die Hand vor den stummen Mund gepresst. Mo wollte sie trösten, aber wie, bei all der Verzweiflung in seinem Herzen?

Er drehte sich um, schob Darius zur Seite, der mit traurigem Eulenblick in der offenen Tür stand - und ging hinüber in sein Büro, wo die verfluchten Notizbücher sich immer noch zwischen seinen Belegen stapelten. Er stieß sie vom Tisch, eins nach dem anderen, als könnte er so die Worte zum Verstummen bringen, all die verfluchten Worte, die sein Kind verhext hatten, fortgelockt wie der Rattenfänger im Märchen, an einen Ort, an den er schon Resa nicht hatte folgen können. Mo war es, als träumte er erneut denselben schlimmen Traum, nur dass er diesmal nicht einmal das Buch hatte, auf dessen Seiten er nach Meggie hätte suchen können.

Wenn er sich später fragte, wie er den Rest dieses Tages überstanden hatte, ohne verrückt zu werden - er wusste es nicht mehr. Er erinnerte sich nur daran, dass er Stunden durch Elinors Garten geirrt war, als könnte er Meggie dort finden, irgendwo unter einem der alten Bäume, unter denen sie so gern gelesen hatte. Als die Dunkelheit kam und er sich auf die Suche nach Resa machte, fand er sie in Meggies Zimmer. Sie saß auf dem leeren Bett und starrte zu den drei winzigen Geschöpfen hinauf, die unter der Decke kreisten, als suchten sie dort nach der Tür, durch die sie gekommen waren. Meggie hatte das Fenster offen stehen lassen, aber sie flogen nicht hinaus, vielleicht, weil die fremde schwarze Nacht ihnen Angst machte. »Feuerelfen«, sagten Resas Hände, als er sich zu ihr setzte. »Du musst sie fortscheuchen, wenn sie sich auf deine Haut setzen, sonst verbrennen sie dich.«

Feuerelfen. Mo erinnerte sich, von ihnen gelesen zu haben. In dem Buch. Es schien nur noch das eine Buch auf der Welt zu geben.

»Warum sind es drei?«, fragte er. »Eine für Meggie, eine für den Jungen.«

»Ich glaube, der Marder ist auch fort«, sagten Resas Hände.

Mo hätte fast aufgelacht. Armer Staubfinger, offenbar konnte er das Unglück nicht abschütteln. Aber Mo konnte kein Mitleid für ihn empfinden. Diesmal nicht. Ohne Staubfinger hätte es die Worte auf dem Blatt Papier nicht gegeben, und ohne sie hätte er noch eine Tochter.

»Denkst du, es gefällt ihr wenigstens dort?«, fragte er und legte den Kopf in Resas Schoß. »Dir hat es schließlich auch gefallen, oder? Zumindest hast du ihr das immer wieder erzählt.«

»Es tut mir Leid«, sagten ihre Hände. »So Leid.«

Aber er hielt ihre Finger fest. »Was redest du da?«, sagte er leise. »Ich habe das verdammte Buch ins Haus gebracht, hast du das schon vergessen?«

Und dann schwiegen sie beide. Sahen den armen, verlore-nen Elfen zu und schwiegen. Irgendwann flogen sie doch nach draußen, hinaus in die fremde Nacht. Als ihre winzigen roten Körper in all dem Schwarz verschwanden wie verglühende Funken, fragte Mo sich, ob Meggie wohl gerade durch eine ebenso schwarze Nacht irrte. Der Gedanke verfolgte ihn in dunkle Träume.



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