Besuch von der falschen Seite des Waldes



»Darkness always had its part to play.

Without it, how would we know, when we walked in the light? It’s only, when its ambitions become too grandiose, that it must be opposed, disciplined, some-times - if necessary - brought down for a time.

Then it will rise again, as it must.«

Clive Barker, Abarat



Das Erste, wonach Meggies Augen suchten, waren die Vogelnester, von denen Resa erzählt hatte, und wirklich, da klebten sie, gleich unterhalb der Zinnen, als hätten die Mauern Pusteln bekommen. Gelbbrüstige Vögel schossen aus den Löchern. Wie Goldflocken, die in der Sonne tanzen, so hatte Resa sie ihr beschrieben, und sie hatte Recht gehabt. Der Himmel über Meggie schien bedeckt von wirbelndem Gold, alles zu Ehren des prinzlichen Geburtstages. Immer mehr Menschen quollen durch das Tor, obwohl es auf dem Hof schon von ihnen wimmelte. Stände waren zwischen den Mauern aufgebaut, vor Ställen und Hütten, in denen Schmiede, Stallknechte und all die anderen hausten, die auf der Burg lebten und arbeiteten. An diesem Tag, an dem der Fürst seine Untertanen einlud, mit ihm den Geburtstag seines Enkels und Thronerben zu feiern, waren Essen und Trinken umsonst. »Sehr großzügig, nicht wahr?«, hätte Mo wahrscheinlich geflüstert. »Essen und Trinken, das von ihren Feldern stammt, gewonnen mit ihrer Hände Arbeit.« Mo mochte Burgen nicht sonderlich. Doch so war Fenoglios Welt bestellt: Das Land, auf dem die Bauern schwitz - ten, gehörte den Fürsten, also gehörte ihm auch ein Großteil der Ernte, und er kleidete sich in Samt und Seide, während seine Bauern geflickte Kittel trugen, die auf der Haut kratzten.

Despina hatte ihre dünnen Arme fest um Fenoglios Hals geschlungen, als sie an den Wächtern vorm Tor vorbeikamen, doch als sie den ersten Gaukler sah, rutschte sie hastig von seinem Rücken.

Hoch oben zwischen den Zinnen hatte einer sein Seil gespannt und ging dort oben leichtfüßiger spazieren als eine Spinne auf ihrem Silberfaden. Seine Kleider waren blau wie der Himmel über ihm, denn Blau war die Farbe der Seiltänzer, auch das wusste Meggie von ihrer Mutter. Wenn Resa doch nur hier gewesen wäre! Überall zwischen den Ständen war es, das Bunte Volk: Pfeifer und Jongleure, Messerwerfer, Starke Männer, Tierbändiger, Schlangenmenschen, Schauspieler und Possenreißer. Gleich vor der Mauer entdeckte Meggie einen Feuerspucker, schwarz und rot, das war ihre Tracht, und für einen Moment dachte sie, es sei Staubfinger, doch als er sich umdrehte, war es ein Fremder mit narbenlosem Gesicht, und das Lächeln, mit dem er sich vor den umstehenden Menschen verbeugte, war so ganz anders als das von Staubfinger.

Aber er muss hier sein, wenn er wirklich zurück ist!, dachte Meggie, während sie sich suchend umsah. Wieso war sie nur so enttäuscht? Als ob sie das nicht wusste. Es war Farid, den sie vermisste. Und wenn Staubfinger nicht hier war, dann würde sie wohl auch nach Farid vergeblich Ausschau halten.

»Komm, Meggie!« Despina sprach ihren Namen aus, als müsste ihre Zunge sich erst noch an den Klang gewöhnen. Sie zog Meggie zu einem Stand, an dem es süße Kuchen gab, triefend von Honig.

Die Kuchen waren auch an diesem Tag nicht umsonst. Der Händler, der sie anbot, bewachte sie mit grimmiger Miene, doch Fenoglio hatte zum Glück ein paar Münzen dabei. Despinas schmale Finger klebten, als sie sie wieder in Meg-gies Hand schob. Mit großen Augen sah sie sich um, blieb immer wieder stehen, aber Fenoglio winkte sie ungeduldig weiter, vorbei an einer Tribüne aus Holz, die sich, geschmückt mit immergrünen Zweigen und Blüten, hinter den Ständen erhob. Die gleichen schwarzen Banner, die oben an den Zinnen und Türmen der Burg flatterten, hingen auch hier, zur Rechten und zur Linken von drei erhöht stehenden Sesseln, deren Lehnen mit dem Wappen des weinenden Löwen bestickt waren.

»Wozu drei Sessel, frage ich mich?«, raunte Fenoglio Meggie zu, während er sie und die Kinder weiterschob. »Der Speckfürst selbst lässt sich doch ohnehin nicht sehen. Kommt, wir sind schon spät dran.« Mit entschlossenem Schritt kehrte er dem Treiben auf dem Äußeren Hof den Rücken zu und bahnte sich einen Weg zum zweiten Mauerring der Burg. Das Tor, auf das er zustrebte, war nicht ganz so hoch wie das erste, doch abweisend sah auch dieses aus, ebenso wie die Wächter, die die Lanzen kreuzten, als Fenoglio auf sie zutrat. »Als ob sie mich nicht kennen würden!«, flüsterte er Meggie verärgert zu. »Aber jedes Mal dasselbe Spiel. Meldet dem Fürsten, Fenoglio , der Dichter, sei hier!«, sagte er mit erhobener Stimme, während die beiden Kinder sich an seine Seite drückten und die Lanzen betrachteten, als suchten sie auf den Spitzen nach getrocknetem Blut.

»Erwartet der Fürst dich?« Der Wächter, der fragte, schien noch sehr jung, nach dem zu urteilen, was von seinem Gesicht unter dem Helm zu erkennen war.

»Allerdings!«, erwiderte Fenoglio verärgert. »Und wenn er noch länger warten muss, werde ich dir die Schuld dafür geben, Anselmo. Und solltest du wieder mal ein paar schöne Worte von mir brauchen, so wie letzten Monat - «, der Wächter warf dem anderen Posten einen nervösen Blick zu, doch der tat, als hörte er nichts, und blickte zu dem Seiltänzer hinauf, »dann - «, beendete Fenoglio seinen Satz mit gesenkter Stimme, »lasse ich dich genauso warten wie du mich. Ich bin ein alter Mann und ich habe, weiß Gott, Besseres zu tun, als mir vor deiner Lanze die Beine in den Bauch zu stehen.«

Das, was von Anselmos Gesicht zu sehen war, wurde so rot wie der saure Wein, den Fenoglio am Feuer der Spielleute getrunken hatte. Trotzdem nahm er die Lanze nicht zur Seite. »Versteh doch, Tintenweber, wir haben Besuch«, sagte er mit gesenkter Stimme.

»Besuch? Wovon redest du?«

Aber Anselmo beachtete Fenoglio schon nicht mehr.

Das Tor hinter ihm öffnete sich, ächzend, als trage es zu schwer an der eigenen Last. Meggie zog Despina zur Seite, Fenoglio griff nach Ivos Hand. Soldaten ritten auf den Äußeren Hof, gepanzerte Reiter, die Mäntel silbergrau wie ihre Beinschienen, und das Wappen, das sie auf der Brust trugen, war nicht das des Speckfürsten. Beute schlagend hob eine Viper darauf den schlanken Leib und Meggie erkannte es sofort. Es war das Wappen des Natternkopfes.

Nichts rührte sich mehr auf dem Äußeren Hof. Totenstill war es geworden. Die Gaukler waren vergessen, selbst der blaue Tänzer hoch oben auf seinem Seil. Alles starrte die Reiter an. Die Mütter hielten ihre Kinder fest und die Männer zogen die Köpfe ein, selbst die in den prächtigen Gewändern. Resa hatte Meggie das Wappen des Natternkopfes genau beschrieben, sie hatte es oft genug aus der Nähe gesehen. Abgesandte von der Nachtburg waren gern gesehene Gäste auf Capricorns Festung gewesen. So mancher Hof, hatte man damals geflüstert, den Capricorns Männer ansteckten, hatte auf Befehl der Natter gebrannt.

Meggie drückte Despina fest an sich, als die Gepanzerten an ihnen vorbeiritten. Ihre Brustharnische schimmerten in der Sonne, nicht einmal der Bolzen einer Armbrust konnte sie angeblich durchschlagen, ganz zu schweigen der Pfeil eines armen Mannes. Zwei Männer ritten an ihrer Spitze, der eine gepanzert wie die, die ihm folgten, mit orangerotem Haar und einem Mantel aus Fuchsschwänzen, der andere in einem grünen, silberdurchwirkten Gewand, das jedem Fürsten Ehre gemacht hätte. Trotzdem war es nicht das Gewand, das jeder zuerst an ihm wahrnahm, sondern seine Nase, die nicht, wie bei anderen, aus Fleisch und Blut, sondern aus Silber war.

»Sieh sie dir an, welch ein Gespann!«, raunte Fenoglio Meggie zu, während die beiden Seite an Seite durch die schweigende Menschenmenge ritten. »Beide meine Erfindung und beide einst Capricorns Männer. Vermutlich hat deine Mutter dir von ihnen erzählt. Der Brandfuchs war einst Capricorns Stellvertreter, der Pfeifer sein Spielmann. Die Silbernase war allerdings nicht meine Idee. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie Cosimos Soldaten entkommen sind, als er Capricorns Festung angriff, und nun dem Natternkopf dienen.«

Es war immer noch gespenstisch still auf dem Hof. Nur das Klappern der Hufe war zu hören, das Schnauben der Pferde, das Klirren der Rüstungen, Waffen und Sporen - seltsam laut, als fingen sich die Geräusche wie Vögel zwischen den hohen Mauern. Der Natternkopf selbst ritt als einer der Letzten auf den Platz.

Er war nicht zu verkennen. »Wie ein Schlächter sieht er aus«, hatte Resa erzählt. »Ein fürstlich gekleideter Schlächter, dem der Spaß am Töten auf das grobe Gesicht geschrieben ist.« Das Pferd, auf dem er ritt, weiß und grobschlächtig wie sein Herr, verschwand fast vollständig unter einem Überwurf, der als einziges Muster das Schlangenwappen trug. Der Natternkopf selbst trug ein schwarzes Gewand, bestickt mit silbernen Blüten. Seine Haut war sonnenverbrannt, das schüttere Haar grau, der Mund seltsam klein, ein lippenloser Schlitz im groben, bartlosen Gesicht. Alles an ihm schien schwer und fleischig, Arme und Beine, der klobige Nacken, die breite Nase. Er trug keinen Schmuck wie die reicheren Untertanen des Speckfürsten, die auf dem Hof standen, keine schweren Ketten um den Hals, keine juwelenbesetzten Ringe an den plumpen Fingern. Nur in seinen Nasenwinkeln blitzten Juwelen, rot wie Blutstropfen, und am Mittelfinger der linken Hand trug er über dem Handschuh den silbernen Ring, mit dem er seine Todesurteile besiegelte. Seine Augen, schmal unter faltigen Lidern wie die eines Salamanders, wanderten ruhelos über den Hof. An allem, was sie sahen, schienen sie einen Wimpernschlag lang haften zu bleiben, wie die klebrige Zunge einer Eidechse: an den Spielleuten, dem Seiltänzer über seinem Kopf, den reichen Händlern, die neben der leeren, mit Blumen geschmückten Tribüne warteten und unterwürfig den Kopf neigten, als sein Blick sie streifte. Nichts, gar nichts schien diesen Salamanderaugen zu entgehen: kein Kind, das sich angstvoll in den Rock seiner Mutter drückte, keine schöne Frau, kein Mann, der feindselig zu ihm hochstarrte. Und doch zügelte er nur vor einem sein Pferd.

»Sieh an, der König der Spielleute! Das letzte Mal, dass ich dich gesehen habe, steckte dein Kopf in einem Pranger, auf dem Hof meiner Burg. Wann stattest du uns erneut einen Besuch ab?« Die Stimme des Natternkopfes drang über den ganzen stillen Hof. Sie klang sehr tief - als käme sie aus dem schwärzesten Innern seines plumpen Körpers. Meggie trat unwillkürlich dichter an Fenoglios Seite. Der Schwarze Prinz aber verbeugte sich, allerdings so tief, dass Spott aus der Verneigung wurde. »Es tut mir Leid«, erwiderte er so laut, dass jeder es hören konnte. »Aber dem Bären gefiel Eure Gastfreundschaft nicht. Der Pranger, sagt er, war etwas zu eng für seinen Hals.«

Meggie sah, wie der Mund des Natternkopfes sich zu einem bösen Lächeln verzog. »Nun, ich könnte für euren nächsten Besuch einen Strick bereithalten, der genau passt, und einen Galgen aus Eichenholz, der selbst einen so fetten alten Bären trägt wie deinen«, sagte er.

Der Schwarze Prinz drehte sich zu seinem Bären um und tat, als bespräche er sich mit ihm. »Es tut mir Leid«, sagte er, während der Bär ihm mit einem Grunzen die Tatzen um den Hals schlang, »der Bär sagt, er liebt den Süden, aber Euer Schatten lastet einfach zu dunkel darauf, und er will nur kommen, wenn auch der Eichelhäher Euch die Ehre erweist.«

Ein leises Raunen lief durch die Menge - und verstummte, als der Natternkopf sich im Sattel umdrehte und seinen Salamanderblick über die Umstehenden schweifen ließ.

»Außerdem«, fuhr der Prinz mit lauter Stimme fort, »wüss-te der Bär gern, warum Ihr den Pfeifer nicht an einer silbernen Kette hinter Eurem Pferd hertraben lasst, so wie es sich für einen handzahmen Spielmann wie ihn gehört?«

Der Pfeifer riss sein Pferd herum, aber bevor er es auf den Schwarzen Prinzen zutreiben konnte, hob der Natternkopf die Hand. »Ich werde dir Bescheid geben lassen, sobald der Eichelhäher mein Gast ist!«, sagte er, während der Silbernasige widerstrebend an seinen Platz zurückritt. »Es wird nicht mehr lange dauern, glaub mir. Ich habe den Galgen schon in Auftrag gegeben.« Dann gab er seinem Pferd die Sporen, und die Gepanzerten setzten sich erneut in Bewegung. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Letzte durch das Tor verschwunden war.

»Ja, reite nur!«, flüsterte Fenoglio, während der Hof der Burg sich langsam wieder mit sorglosem Lärm füllte. »Sieht sich um hier, als würde ihm schon alles gehören, glaubt, er kann sich in meiner Welt breit machen wie ein Geschwür und eine Rolle spielen, die ich ihm nicht geschrieben habe.«

Die Lanze des Wächters ließ ihn abrupt verstummen. »Also gut, Dichter!«, sagte Anselmo. »Nun kannst du rein. Na geh schon!«

»Na geh schon?«, donnerte Fenoglio. »Spricht man so mit dem Dichter des Fürsten? Hört zu! Ihr bleibt besser hier«, sagte er zu den beiden Kindern. »Esst nicht zu viel Kuchen. Kommt dem Feuerspucker nicht zu nahe, denn er ist ein Stümper, und lasst den Bären des Prinzen in Ruhe. Verstanden?«

Die zwei nickten - und liefen auf der Stelle zum nächsten Kuchenstand. Fenoglio aber griff nach Meggies Hand und schritt hoch erhobenen Hauptes mit ihr an den Wachen vorbei.

»Fenoglio!«, fragte sie mit gesenkter Stimme, als das Tor sich hinter ihnen schloss und der Lärm des Äußeren Hofes verklang. »Wer ist der Eichelhäher?«

Es war kühl hinter dem großen Tor, als hätte der Winter sich hier ein Nest gebaut. Bäume beschatteten einen weiten Hof, es roch nach Rosen und Blüten, deren Namen Meggie nicht kannte, und in einem Steinbecken, rund wie der Mond,

spiegelte sich der Teil der Burg, in dem der Speckfürst lebte.

»Ach, den gibt es nicht!«, antwortete Fenoglio nur, während er sie ungeduldig hinter sich herwinkte. »Aber das erklär ich dir später. Nun komm. Wir müssen dem Speckfürsten endlich meine Verse bringen, sonst bin ich die längste Zeit sein Hofdichter gewesen.«



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