Getauscht



Die Bläue meiner Augen ist erloschen in dieser Nacht, Das rote Gold meines Herzens.

Georg Trakl, Nachts


Es entkamen fast alle. Das Feuer rettete sie, die Wut des Bären, die Männer des Schwarzen Prinzen - und Mo, der an diesem grauen Morgen das Töten übte, als wollte er ein Meister darin werden. Basta blieb tot unter den Bäumen zurück ebenso wie der Schlitzer und so viele ihrer Männer, dass der Boden mit ihren Leibern bedeckt war wie mit welkem Laub. Zwei Spielleute wurden auch getötet - und Farid.

Farid.

Staubfinger war selbst bleich wie der Tod, als er ihn zurück zu der Mine trug. Meggie ging neben ihm, den ganzen dunklen Weg. Sie hielt Farids Hand, als könnte das helfen, und fühlte sich so wund im Innern, als würde es nie wieder gut.

Staubfinger schickte nur sie nicht fort, als er Farid in dem abgelegensten Stollen auf seinen Mantel bettete. Keiner wagte, ihn anzusprechen, als er sich über den toten Jungen beugte und ihm den Ruß von der Stirn wischte. Roxane versuchte, mit ihm zu sprechen, aber als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sah, ließ sie ihn allein. Nur Meggie - Meggie ließ er neben Farid sitzen, als hätte er in ihren Augen den eigenen Schmerz gesehen. Und so saßen sie beide da, im Bauch des Natternberges, wie am Ende aller Geschichten. Ohne ein einziges Wort, das noch zu sagen war.

Vielleicht war es draußen inzwischen Nacht geworden, als Meggie Staubfingers Stimme hörte. Wie von weit her drang sie zu ihr, durch den Nebel aus Schmerz, der sie einhüllte, als würde sie nie wieder hinausfinden.

»Du hättest ihn auch gern zurück, oder?«

Es fiel ihr schwer, den Blick von Farids Gesicht zu wenden. »Er kommt nie mehr zurück«, flüsterte sie und sah Staubfinger an. Sie hatte keine Kraft, lauter zu sprechen. All ihre Kraft war fort, als hätte Farid sie mitgenommen. Er hatte alles mitgenommen.

»Es gibt da so eine Geschichte«, Staubfinger sah auf seine Hände, als stünde dort geschrieben, worüber er sprach, »eine Geschichte über die Weißen Frauen.«

»Was für eine Geschichte?« Meggie wollte keine Geschichten mehr hören, nie wieder. Diese hatte ihr für alle Zeiten das Herz gebrochen. Aber trotzdem war da etwas in Staubfingers Stimme.

Er beugte sich über Farid und wischte ihm etwas Ruß von der kalten Stirn. »Roxane kennt sie«, sagte er. »Sie wird sie dir erzählen. Geh einfach zu ihr. und sag ihr, dass ich fortmusste. Sag ihr, ich will herausfinden, ob die Geschichte wahr ist.« Er sprach seltsam stockend, als wäre es unendlich schwer, die rechten Worte zu finden. »Und erinnere sie an mein Versprechen - dass ich immer einen Weg finde zurück zu ihr, egal, wo ich bin. Richtest du ihr das aus?«

Wovon sprach er? »Herausfinden?« Meggies Stimme war belegt von Tränen. »Was?«

»Oh, man erzählt sich so einiges über die Weißen Frauen. Manches ist nur Aberglaube, aber einiges ist sicherlich wahr. So ist es doch immer mit den Geschichten, oder? Fenoglio könnte mir vermutlich mehr darüber sagen, aber ehrlich gesagt habe ich keine Lust, ihn zu fragen. Nein, ich frage die Weißen Frauen lieber selbst.« Staubfinger richtete sich auf. Er stand da und sah sich um, als hätte er vergessen, wo er sich eigentlich befand.

Die Weißen Frauen.

»Sie kommen bald, oder?«, fragte Meggie besorgt. »Sie kommen, um Farid zu holen!«

Aber Staubfinger schüttelte den Kopf, und zum ersten Mal lächelte er, das seltsam traurige Lächeln, das Meggie nur von ihm kannte und das sie nie ganz verstanden hatte. »Nein, wozu? Sie sind sich seiner sicher. Sie kommen nur, wenn du noch am Leben hängst, wenn sie dich noch hinüberlocken müssen, mit einem Blick oder einem Wispern. Alles andere ist Aberglaube. Sie kommen, wenn du noch atmest, aber dem Tod schon ganz nahe bist. Wenn dein Herz immer schwächer schlägt, wenn sie deine Angst riechen oder Blut wie bei deinem Vater. Stirbst du so schnell wie Farid, dann gehst du ganz von selbst zu ihnen.«

Meggie strich über Farids Finger. Sie waren kälter als der Stein, auf dem sie saß. »Aber dann versteh ich nicht«, flüsterte sie. »Wenn sie gar nicht kommen, wie willst du sie dann fragen?«

»Ich werd sie rufen. Aber du bist besser nicht hier, wenn ich das tue, also geh zu Roxane und sag ihr, was ich dir aufgetragen habe, ja?« Er legte den Finger an die Lippen, als sie noch weiter fragen wollte. »Bitte, Meggie!« Er nannte sie nicht oft beim Namen. »Richte Roxane aus, was ich dir gesagt habe - und dass es mir Leid tut. Nun geh schon.«

Meggie spürte, dass er Angst hatte, aber sie fragte ihn nicht, wovor, weil ihr Herz andere Fragen stellte: Wie es sein konnte, dass Farid tot war, und wie es sich anfühlen würde, ihn tot in ihrem Herzen zu haben für alle Zeit? Sie streichelte ein letztes Mal das starre Gesicht, bevor sie aufstand. Als sie sich am Eingang des Stollens noch einmal umsah, blickte Staubfinger auf Farid hinab. Und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, zeigte sein Gesicht all das, was es sonst verbarg: Zärtlichkeit, Liebe - und Schmerz.

Meggie wusste, wo sie nach Roxane suchen musste, aber sie verlief sich zweimal in den dunklen Stollen, bis sie sie endlich fand. Roxane kümmerte sich um die verletzten Frauen, während der Schleierkauz nach den Männern sah. Viele hatten Verletzungen davongetragen, und obwohl das Feuer sie alle gerettet hatte, hatte es auch so manchen böse verbrannt. Mo war nirgends zu sehen, ebenso wenig wie der Prinz, vermutlich hielten sie Wache oben am Mineneingang, aber Resa war bei Roxane. Sie verband gerade einen verbrannten Arm, während Roxane einer alten Frau einen Schnitt auf der Stirn mit derselben Paste bestrich, die sie einst für Staubfingers Bein benutzt hatte. Der Duft nach Frühling passte so gar nicht hierher.

Als Meggie aus dem dunklen Gang trat, hob Roxane den Kopf. Vielleicht hatte sie gehofft, es wären Staubfingers Schritte, die sie gehört hatte. Meggie lehnte den Rücken gegen die kalte Stollenwand. Es ist alles ein Traum, dachte sie, ein böser, böser Traum. Ihr war schwindlig vom Weinen.

»Was ist das für eine Geschichte?«, fragte sie Roxane. »Eine Geschichte über die Weißen Frauen. Staubfinger sagt, du sollst sie mir erzählen. Und dass er fortmuss, weil er herausfinden will, ob sie wahr ist.«

»Fort?« Roxane stellte die Salbe zur Seite. »Was redest du da?«

Meggie wischte sich über die Augen, aber es waren keine Tränen mehr da. Vermutlich hatte sie sie alle aufgebraucht. Woher kamen sie nur, all die Tränen? »Er sagt, er will sie rufen«, murmelte sie. »Und dass du an sein Versprechen denken sollst. Dass er immer zurückkommen wird, dass er einen Weg findet, wo immer er ist.« Die Worte ergaben immer noch keinen Sinn, als sie sie wiederholte. Aber für Roxane offenbar schon.

Sie richtete sich auf, ebenso wie Resa.

»Was redest du da, Meggie?«, fragte ihre Mutter und ihre Stimme klang besorgt. »Wo ist Staubfinger?«

»Bei Farid. Er ist immer noch bei Farid.« Es tat so weh, den Namen auszusprechen. Resa nahm sie in den Arm. Roxane aber stand nur da und starrte in den dunklen Stollen, aus dem Meggie gekommen war. Dann stieß sie sie plötzlich aus dem Weg, drängte sich an ihr vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Resa lief ihr nach, ohne Meggies Hand loszulas-sen. Roxane war ihnen nur ein paar Schritte voraus. Sie trat auf den Saum ihres Kleides, fiel hin, raffte sich wieder auf und lief weiter. Immer schneller. Aber sie kam trotzdem zu spät.

Resa stolperte fast in Roxane hinein, so angewurzelt war sie am Eingang des Stollens stehen geblieben, in dem Farid lag. An der Wand brannte ihr Name, in feurigen Lettern, und die Weißen Frauen waren noch da. Sie zogen die bleichen Hände aus Staubfingers Brust, als hätten sie ihm das Herz herausgerissen. Vielleicht war Roxane das Letzte, was Staubfinger sah. Vielleicht sah er aber auch noch, wie Farid sich regte, bevor er selbst fiel, ebenso lautlos, wie die Weißen Frauen verschwanden.

Ja. Farid regte sich - wie jemand, der zu lang und zu tief geschlafen hatte. Mit verschleiertem Blick setzte er sich auf, nicht ahnend, wer da hinter ihm plötzlich so reglos dalag. Selbst als Roxane sich an ihm vorbeidrängte, drehte er sich nicht um. Er blickte nur ins Leere, als wären da Bilder, die niemand sonst sah.

Meggie ging zögernd auf ihn zu, wie auf einen Fremden. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Roxane aber stand neben Staubfinger, die Hand so fest auf den Mund gepresst, als müsste sie ihren Schmerz zurückhalten. An der Stollenwand brannte immer noch ihr Name, als hätte er schon ewig dort gestanden, aber sie beachtete die feurigen Buchstaben nicht. Ohne ein Wort sank sie auf die Knie, bettete Staubfingers Kopf in ihren Schoß und beugte sich über ihn, bis ihr schwarzes Haar sein Gesicht umgab wie ein Schleier.

Farid aber saß immer noch wie betäubt da. Erst als Meggie vor ihm stand, schien er sie zu bemerken. »Meggie?«, murmelte er mit schwerer Zunge.

Es konnte nicht sein. Er war wirklich zurück. Farid. Plötzlich schmeckte sein Name nicht mehr nach Schmerz. Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie griff danach, so hastig, als müsste sie ihn festhalten, damit er nicht wieder fortging, so weit fort. War Staubfinger jetzt dort? Wie warm sein Gesicht wieder war. Sie kniete sich neben ihn und schlang die Arme um ihn, viel zu fest, spürte sein Herz gegen das ihre schlagen, so kräftig.

»Meggie!« Er sah so erleichtert aus, als wäre er aus einem schlimmen Traum erwacht. Sogar ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Doch dann begann Roxane hinter ihnen zu schluchzen, ganz leise, so leise, dass man es kaum hörte hinter ihrem offenen Haar - und Farid drehte sich um.

Für einen Moment schien er nicht zu begreifen, was er sah.

Dann riss er sich von Meggie los, richtete sich auf, stolperte über den Mantel, als wären seine Beine noch zu schwach zum Laufen. Auf den Knien kroch er an Staubfingers Seite und strich ihm mit ungläubigem Entsetzen über das stille Gesicht.

»Was ist passiert?« Er schrie Roxane an, als wäre sie die Ursache allen Unglücks. »Was hast du gemacht? Was hast du mit ihm gemacht?«

Meggie kniete sich neben ihn, versuchte ihn zu besänftigen, aber er ließ es nicht zu. Er stieß ihre Hände weg und beugte sich erneut über Staubfinger, legte ihm das Ohr an die Brust, lauschte - und presste schluchzend sein Gesicht dorthin, wo kein Herz mehr schlug.

Der Schwarze Prinz kam in den Stollen, Mo war bei ihm, und hinter ihnen tauchten mehr Gesichter auf, immer mehr.

»Geht weg!«, schrie Farid sie an. »Geht alle weg! Was habt ihr mit ihm gemacht? Warum atmet er nicht? Da ist nirgends Blut, überhaupt kein Blut.«

»Niemand hat ihm etwas getan, Farid!«, flüsterte Meggie. Du hättest ihn auch gern zurück, oder?, hörte sie Staubfinger sagen. Immer wieder hörte sie die Worte in ihrem Kopf. »Es waren die Weißen Frauen. Wir haben sie gesehen. Er hat sie selbst gerufen.«

»Du lügst!«, fuhr Farid sie an. »Warum sollte er so etwas tun?«

Roxane aber fuhr mit dem Finger über Staubfingers Narben, so blass, als hätte sie kein Messer, sondern die Feder eines Glasmanns gezogen. »Es gibt eine Geschichte, die die Spielleute ihren Kindern erzählen«, sagte sie, ohne einen von ihnen anzusehen. »Sie handelt von einem Feuerspucker, dem die Weißen Frauen seinen Sohn nahmen. In seiner Verzweiflung fiel ihm ein, was man sich über die Weißen Frauen erzählte: dass sie das Feuer fürchten und sich zugleich nach seiner Wärme verzehren. Also beschloss er, sie mit seiner Kunst herbeizurufen und zu bitten, ihm seinen Sohn zurückzugeben. Es gelang. Er rief sie mit dem Feuer, er ließ es tanzen und singen für sie, und sie überbrachten seinen Sohn nicht dem Tod, sondern gaben ihm das Leben zurück. Den Feuerspucker jedoch nahmen sie mit sich und er kehrte niemals zurück. Man sagt, er müsse ewig bei ihnen wohnen, bis ans Ende aller Zeit, und das Feuer für sie tanzen lassen.« Roxane griff nach Staubfingers lebloser Hand und küsste die rußigen Fingerkuppen. »Es ist nur eine Geschichte«, fuhr sie fort. »Aber er liebte es, sie zu hören. Er sagte immer, sie sei so schön, dass ein Funken Wahrheit in ihr stecken müsse. Nun hat er selbst sie wahr gemacht - und er wird nie zurückkommen. Auch wenn er es versprochen hat. Diesmal nicht.«

Es wurde eine lange Nacht.

Roxane und der Prinz hielten Wache an Staubfingers Seite, aber Farid war nach oben gestiegen, dorthin, wo der Mond sich durch schwarze Wolken schob und Nebel aufstieg von der regenfeuchten Erde. Er hatte die Wachen zur Seite gestoßen, die ihn aufhalten wollten, und sich ins Moos geworfen. Dort lag er nun, unter Mortolas giftigen Bäumen, und schluchzte -während die beiden Marder in der Dunkelheit kämpften, als hätten sie noch einen Herrn, um den sie streiten mussten.

Natürlich ging Meggie zu ihm, doch Farid schickte sie fort, und so machte sie sich auf die Suche nach Mo. Resa schlief an seiner Seite, doch Mo war wach. Er saß da und blickte in die Dunkelheit, als stünde dort eine Geschichte geschrieben, die er nicht verstand. Da war etwas Fremdes, Verschlossenes in seinem Gesicht, hart wie die Kruste über einer Wunde, aber als er sie bemerkte und ihr zulächelte, war alle Fremdheit fort.

»Komm her«, sagte er leise, und sie setzte sich zu ihm und presste das Gesicht gegen seine Schulter. »Ich will nach Hause, Mo!«, flüsterte sie.

»Nein, das willst du nicht«, flüsterte er zurück, und sie schluchzte in sein Hemd, wie sie es so oft als kleines Mädchen getan hatte. Allen Kummer hatte sie bei ihm lassen können, schon immer, so schwer er auch wog. Mo hatte ihn fortgewischt, nur indem er ihr übers Haar strich, ihr die Hand auf die Stirn legte und ihren Namen flüsterte, und so machte er es auch jetzt, an diesem traurigen Ort, in dieser traurigen Nacht. Er konnte ihn nicht fortnehmen, all den Schmerz, dafür war es einfach zu viel, aber er konnte ihn lindern, nur indem er sie festhielt. Niemand konnte das besser als er. Nicht Resa. Nicht einmal Farid.

Ja. Es war eine lange Nacht, so lang wie tausend Nächte und dunkler als alle, die Meggie je erlebt hatte. Und sie wusste nicht, wie lange sie an Mos Seite geschlafen hatte, als Farid sie plötzlich wachrüttelte. Er zog sie mit sich, fort von ihren schlafenden Eltern, in eine dunkle Ecke, die nach dem Bären des Prinzen roch.

»Meggie!«, flüsterte er und nahm ihre Hand so fest zwischen die seinen, dass es schmerzte. »Ich weiß jetzt, wie alles wieder gut wird. Du gehst zu Fenoglio! Sag ihm, er soll etwas schreiben, das Staubfinger wieder lebendig macht! Auf dich wird er hören!«

Natürlich. Sie hätte sich denken können, dass er auf diese Idee kommen würde. Er sah sie so flehend an, dass es wehtat, aber sie schüttelte den Kopf.

»Nein, Farid. Staubfinger ist tot. Fenoglio kann nichts für ihn tun. Und selbst wenn - hast du nicht gehört, was er ständig vor sich hin murmelt? Dass er nie wieder ein Wort schreiben will nach dem, was mit Cosimo passiert ist?«

Ja, Fenoglio hatte sich verändert. Meggie hatte ihn kaum erkannt, als sie ihn wiedergesehen hatte. Früher hatten sie seine Augen stets an die eines kleinen Jungen erinnert. Nun waren es die eines alten Mannes. Sein Blick war misstrauisch, unsicher, als traute er dem Boden unter seinen Füßen nicht mehr, und offenbar hielt er seit Cosimos Tod nichts mehr vom Rasieren, Kämmen oder Waschen. Nur nach dem Buch hatte er sie gefragt, dem Buch, das Mo gebunden hatte. Aber nicht einmal Meggies Auskunft, dass seine leeren Seiten tatsächlich vor dem Tod schützten, hatte ihm die Bitterkeit vom Gesicht gewischt. »Na, wunderbar!«, hatte er nur gemurmelt. »Dann ist der Natternkopf nun also unsterblich und Cosimo mausetot. Mit dieser Geschichte stimmt wirklich rein gar nichts!« Nein, Fenoglio wollte niemandem mehr helfen, nicht einmal sich selbst, aber Meggie ging trotzdem mit Farid, als er sich auf die Suche nach ihm machte.

Fenoglio hielt sich die meiste Zeit in einem der untersten Stollen auf, in dem Teil der Mine, der fast vollständig verschüttet war und in den niemand außer ihm hinabstieg. Er schlief, als sie die steile Leiter hinunterkletterten, das Fell, das die Räuber ihm gegeben hatten, bis ans Kinn gezogen, die faltige Stirn gerunzelt, als dachte er selbst im Schlaf angestrengt nach.

»Fenoglio!« Farid rüttelte ihn unsanft wach.

Der alte Mann wälzte sich mit einem Grunzen auf den Rücken, das dem Bären des Prinzen Ehre gemacht hätte, schlug die Augen auf und starrte Farid an, als sähe er sein braunes Gesicht zum allerersten Mal. »Ach, du bist es!«, brummte er schlaftrunken. »Der Junge, der von den Toten zurück ist. Auch wieder etwas, das ich nicht geschrieben habe! Was willst du? Weißt du, dass ich gerade meinen ersten guten Traum seit Tagen hatte?«

»Du musst etwas schreiben!«

»Schreiben? Ich schreibe nicht mehr. Haben wir es nicht gerade erst wieder gesehen? Da habe ich diese fabelhafte Idee mit dem Buch der Unsterblichkeit, das die Guten befreien und dem Natternkopf den Tod bringen soll. Und was passiert? Die Natter ist nun unsterblich, und im Wald liegt schon wieder alles voller Leichen! Räuber, Spielleute - der Zweifinger! Tot! Warum erfinde ich sie überhaupt noch, wenn diese Geschichte sie doch nur umbringt?«

»Aber du musst ihn zurückholen!« Farids Lippen zitterten. »Du hast den Natternkopf unsterblich gemacht, warum dann nicht ihn?«

»Ah, du sprichst von Staubfinger, nicht wahr?« Fenoglio setzte sich auf und rieb sich mit einem tiefen Seufzer das Gesicht. »Ja, der ist nun auch tot, mausetot, allerdings hatte ich das bei ihm schon länger geplant, falls ihr euch erinnert. Wie auch immer, Staubfinger ist tot, du warst tot. Minervas Mann, Cosimo, all die Jungen, die mit ihm gezogen sind. tot! Fällt dieser Geschichte nichts anderes ein? Ich sage dir eins, mein Junge. Ich bin nicht länger ihr Verfasser. Nein! Der Tod ist es, der Sensenmann, der Kalte König, nenn ihn, wie du willst. Es ist sein Tanz, und egal, was ich schreibe, er nimmt meine Worte und macht sie sich zu Dienern!«

»Unsinn!« Farid wischte die Tränen nicht einmal mehr fort, die ihm übers Gesicht liefen. »Du musst ihn zurückholen. Es war ja gar nicht sein Tod, es war meiner! Lass ihn wieder atmen! Es sind doch nur ein paar Worte, schließlich hast du dasselbe auch für Cosimo getan und für Zauberzunge.«

»Also Moment mal, Meggies Vater war noch nicht tot«, stellte Fenoglio nüchtern fest. »Und was Cosimo betrifft, der sah nur aus wie Cosimo, wie oft soll ich dir das noch erklären? Meggie und ich haben ihn nagelneu erschaffen, was leider furchtbar schief ging.

Nein!« Er griff in seinen Gürtel, zog etwas heraus, das einem Taschentuch glich, und schnauzte sich geräuschvoll die Nase. »Dies ist keine Geschichte, in der die Toten auferstehen! Gut, ich gebe zu, ich habe die Unsterblichkeit ins Spiel gebracht, aber das ist immer noch etwas anderes, als die Toten zurückzuholen! Nein! Es bleibt dabei. Wenn hier erst mal einer tot ist, dann bleibt er auch tot! Das gilt in dieser Welt ebenso wie in der, aus der ich stamme. Staubfinger hat diese Regel für dich sehr geschickt umgangen. Vielleicht habe ich selbst die sentimentale Geschichte geschrieben, die ihn auf die Idee brachte. ich erinnere mich nicht, aber nun gut. Lücken gibt es immer, und er hat für dein Leben mit dem seinen bezahlt. Das war von jeher der einzige Handel, den der Tod akzeptiert. Ja, wer hätte das gedacht? Ausgerechnet Staubfinger schließt einen hergelaufenen Jungen so sehr ins Herz, dass er schließlich für ihn stirbt. Ich gebe zu, die Idee ist viel besser als die mit dem Marder, aber sie stammt nicht von mir! O nein! Wenn du jemanden suchst, dem du die Schuld geben kannst, fass dir an die eigene Nase, denn eins steht fest, mein Junge«, und mit diesen Worten stieß er Farid den Finger grob gegen die schmale Brust, »du gehörst nicht in diese Geschichte! Und wenn du es dir nicht in den Kopf gesetzt hättest, dich in sie hineinzumogeln, würde Staubfinger wohl noch leben.«

Farid schlug ihm die braune Faust mitten ins Gesicht.

»Wie kannst du so etwas sagen?«, fuhr Meggie Fenoglio an, während Farid schluchzend die Arme um sie schlang. »Er hat Staubfinger in der Mühle gerettet! Seit er hier ist, hat er ihn beschützt - «

»Ja, ja, schon gut!«, brummte Fenoglio und betastete seine schmerzende Nase. »Ich bin ein herzloser alter Mann, ich weiß.

Aber auch wenn du es mir nicht glaubst - ich habe mich abscheulich gefühlt, als ich Staubfinger da liegen sah. Und dann Roxanes Weinen, furchtbar, ganz furchtbar. All die Verwundeten, all die Toten. Nein, Meggie, die Worte gehorchen mir schon lange nicht mehr. Sie tun es nur, wenn es ihnen passt. Wie Schlangen haben sie sich gegen mich gewandt.«

»Genau. Du bist ein Stümper, ein elender Stümper!« Farid machte sich von Meggie los. »Nichts verstehst du von deinem Handwerk! Aber ein anderer tut es. Der, der Staubfinger hergebracht hat. Orpheus. Er wird ihn schon zurückholen, du wirst sehen. Schreib ihn her! Das wenigstens wirst du doch können! Ja, schreib Orpheus her, sofort, oder. oder. ich erzähl dem Natternkopf, dass du ihn töten wolltest. ich sag allen Frauen in Ombra, dass sie deinetwegen keine Männer mehr haben. ich, ich.«

Mit geballten Fäusten stand er da, zitternd vor Wut und Verzweiflung. Der alte Mann aber blickte ihn nur an. Dann kam er mühsam auf die Füße. »Weißt du was, mein Junge?«, sagte er und brachte sein Gesicht ganz nah an das von Farid heran. »Hättest du mich nett gebeten, dann hätte ich es vielleicht versucht, aber so nicht. O nein! Fenoglio will gebeten, nicht bedroht werden. So viel Stolz ist mir noch geblieben.«

Daraufhin wollte Farid erneut auf ihn losgehen, doch Meggie hielt ihn zurück. »Fenoglio, hör auf!«, fuhr sie den alten Mann an. »Er ist verzweifelt, siehst du das nicht?«

»Verzweifelt? Na und? Ich bin auch verzweifelt!«, gab Fenoglio zurück. »Meine Geschichte ertrinkt im Unglück und die hier - «, er hielt ihr seine Hände entgegen, »- wollen nicht mehr schreiben! Ich habe Angst vor den Worten, Meggie! Früher waren sie Honig, nun sind sie Gift, pures Gift! Aber was ist ein Dichter, der die Worte nicht mehr liebt? Was bin ich noch? Diese Geschichte frisst mich, sie zermalmt mich, mich, ihren Schöpfer!«

»Hol Orpheus!« Meggie hörte, wie sehr Farid sich Mühe gab, seine Stimme zu beherrschen, alle Wut daraus zu verbannen. »Hol ihn her, und lass ihn für dich schreiben! Lehr ihn, was du kannst, so wie Staubfinger mich alles gelehrt hat! Lass ihn für dich die richtigen Worte finden. Er liebt deine Geschichte, er hat es Staubfinger selbst erzählt! Er hat dir sogar einen Brief geschrieben, als er ein Junge war.«

»Tatsächlich?« Für einen Moment klang Fenoglios Stimme fast wieder nach seinem alten neugierigen Ich.

»Ja, er bewundert dich! Er hält diese Geschichte für die beste von allen, das hat er selbst gesagt!«

»So, hat er?« Fenoglio klang geschmeichelt. »Nun, sie ist wirklich nicht schlecht. Das heißt, sie war nicht schlecht.« Nachdenklich blickte er Farid an. »Ein Schüler. Ein Schüler für Fenoglio«, murmelte er. »Ein Dichterlehrling. Hm. Orpheus.« Er sprach den Namen aus, als müsste er ihn erst kosten. »Der einzige Dichter, der sich je mit dem Tod maß. passend.«

Farid blickte ihn so hoffnungsvoll an, dass es Meggie erneut das Herz zerschnitt.

Fenoglio aber lächelte, auch wenn es ein trauriges Lächeln war. »Sieh ihn dir an, Meggie!«, sagte er. »Der Junge beherrscht denselben flehenden Blick, mit dem meine Enkel alles von mir bekommen konnten. Sieht er dich auf dieselbe Art an, wenn er etwas von dir will?«

Meggie spürte, wie sie rot wurde. Fenoglio ersparte ihr die Antwort. »Du weißt, dass wir Meggies Hilfe brauchen werden, nicht wahr?«, fragte er Farid.

»Wenn du schreibst, werd ich lesen«, sagte sie. Und den Mann in diese Geschichte holen, der Mortola geholfen hat, meinen Vater herzubringen und ihn fast zu töten, setzte Meggie in Gedanken hinzu. Sie versuchte nicht daran zu denken, was Mo zu diesem Handel sagen würde.

Fenoglio aber schien bereits nach Worten zu suchen, den richtigen Worten - solchen, die ihn nicht verraten und betrügen würden. »Nun gut«, murmelte er abwesend. »Machen wir uns ein letztes Mal an die Arbeit, aber woher soll ich Papier oder Tinte nehmen? Von einer Feder und einem hilfreichen Glasmann ganz zu schweigen. Der arme Rosenquarz sitzt schließlich immer noch in Ombra.«

»Ich habe Papier«, sagte Meggie, »und auch einen Stift.«

»Das ist sehr schön«, sagte Fenoglio, als sie ihm das Notizbuch in den Schoß legte. »Hat dein Vater das gebunden?«

Meggie nickte »Es sind Seiten herausgerissen!«

»Ja, für eine Nachricht an meine Mutter und für den Brief, den ich dir geschickt habe. Den Brief, den Wolkentänzer dir gebracht hat.«

»Oh. Ja. Der.« Fenoglio sah für einen Augenblick furchtbar müde aus. »Bücher mit leeren Seiten«, murmelte er. »Sie scheinen eine zunehmend große Rolle in dieser Geschichte zu spielen, nicht wahr?« Dann bat er Meggie, ihn mit Farid allein zu lassen, damit er ihm von Orpheus erzählte. »Ehrlich gesagt«, raunte er Meggie zu, »glaube ich, dass er seine Fähigkeiten maßlos überschätzt! Was hat dieser Orpheus schon geschafft? Er hat meine Worte neu aneinander gereiht, das ist alles. Trotzdem gebe ich zu, dass ich neugierig auf ihn bin. Es gehört eine Portion Größenwahn dazu, sich Orpheus zu nennen, und Größenwahn ist ein interessanter Charakterzug.«

Der Meinung war Meggie nicht, aber es war zu spät, ihr Versprechen zurückzunehmen. Sie würde erneut lesen. Diesmal für Farid. Sie schlich sich zurück zu ihren Eltern, legte den Kopf auf Mos Brust und schlief ein, den Schlag seines Herzens im Ohr. Die Worte hatten ihn gerettet, warum sollten sie nicht dasselbe für Staubfinger tun können? Auch wenn er weit, weit fortgegangen war. Herrschten die Worte in dieser Welt nicht sogar über das Land des Schweigens?



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