Wütender Orpheus



Alle Wörter sind mit derselben Tinte geschrieben, »Fleur« (Blume) und »peur« (Furcht) sind fast gleich, Und ich kann »sang« (Blut) auf einer ganzen Seite schreiben, Von oben bis unten, es wird sie nicht beflecken,

Und mich auch nicht verletzen.

Philippe Jaccottet, Parlet


Elinor lag auf ihrer Luftmatratze und starrte die Decke an. Sie hatte wieder mit Orpheus gestritten. Obwohl sie wusste, dass die Strafe dafür der Keller war. Früh ins Bett, Elinor!, dachte sie bitter. So hat dich dein Vater früher auch bestraft, wenn er dich wieder einmal mit einem Buch erwischt hatte, das seiner Meinung nach nicht deinem Alter entsprach. Ja, früh ins Bett, manchmal schon um fünf Uhr nachmittags. Besonders im Sommer war das schlimm gewesen, wenn draußen die Vögel sangen und ihre Schwester unter dem Fenster herumtollte -ihre Schwester, die überhaupt nichts von Büchern hielt, aber nichts so sehr liebte, wie Elinor zu verpetzen, wenn sie statt mit ihr zu spielen den Kopf in ein Buch steckte, das der Vater ihr verboten hatte.

»Elinor, streite nicht mit Orpheus!« Wie oft hatte Darius ihr das eingeschärft, aber nein! Sie konnte sich nicht beherrschen! Wie auch, wenn sein elender Hund einige ihrer wertvollsten Bücher voll sabberte, weil sein Herr nichts davon hielt, sie zurück ins Regal zu stellen, nachdem er seinen Spaß mit ihnen gehabt hatte!

Seit neuestem zog er allerdings kein einziges mehr aus den Regalen, was wenigstens ein kleiner Trost war. »Er liest nur noch in Tintenherz!«, hatte Darius ihr zugeraunt, als sie oben in der Küche zusammen den Abwasch erledigten. Ihre Spülmaschine war kaputtgegangen. Als wäre es nicht schon genug, dass sie wie eine Küchenmagd in ihrem eigenen Haus arbeiten musste, jetzt quollen ihre Hände auch noch auf vom Abwasch! »Er scheint sich Wörter herauszusuchen«, hatte Darius ihr zugeraunt, »Wörter, die er neu zusammensetzt, er schreibt sie auf, schreibt und schreibt, der ganze Papierkorb ist schon voll. Er versucht es immer wieder, dann liest er laut, was er geschrieben hat, und wenn nichts passiert - «

»Dann was?«

»Nichts!«, hatte Darius ausweichend geantwortet und emsig an einer fettverkrusteten Pfanne herumgeschrubbt, aber Elinor wusste, dass »nichts« ihn nicht so verlegen und mundtot gemacht hätte.

»Was?«, hatte sie wiederholt - und Darius hatte es ihr schließlich mit rot angelaufenen Ohren erzählt: Orpheus warf ihre Bücher gegen die Wände, ihre wunderbaren Bücher! Er warf sie auf den Boden vor Wut, ja, ab und zu flog sogar eins aus dem Fenster, und das alles nur deshalb, weil ihm nicht gelang, was Meggie gelungen war: Tintenherz blieb verschlossen für ihn, sosehr er auch gurrte und flehte mit seiner samtenen Stimme und wieder und wieder die Sätze las, zwischen die er so sehnlichst zu schlüpfen wünschte.

Natürlich war sie losgerannt, als sie ihn hatte schreien hören. Um ihre gedruckten Kinder zu retten! »Nein!«, hatte Orpheus geschrien, so laut, dass man es bis in die Küche hörte. »Nein, nein, nein! Lass mich endlich hinein, du dreimal verfluchtes Ding! Ich war es, der Staubfinger zurückgeschickt hat! Begreif das doch endlich! Was wärst du denn ohne ihn? Ich hab dir Mortola zurückgegeben und Basta! Dafür habe ich mir doch wohl eine Belohnung verdient, oder?«

Der Schrankmann stand nicht vor der Bibliothekstür, um Elinor aufzuhalten. Vermutlich strich er gerade wieder durchs Haus, um zu sehen, ob er nicht doch etwas zum Stehlen fand (dass die Bücher das mit Abstand Wertvollste in diesem Haus waren, darauf wäre er in hundert Jahren nicht gekommen). Elinor wusste später nicht mehr, mit welchen Schimpfwörtern sie Orpheus bedacht hatte. Nur an das Buch erinnerte sie sich, das er in der erhobenen Hand gehalten hatte, eine wunderschöne Ausgabe von William Blakes Gedichten. Und er warf es trotz ihrer wüsten Beschimpfungen aus dem Fenster, während der Schrankmann sie von hinten packte und zur Kellertreppe zerrte.

O Meggie!, dachte Elinor, während sie auf ihrer Luftmatratze lag und den bröckelnden Putz an ihrer Kellerdecke anstarrte. Warum hast du mich nicht mitgenommen? Warum hast du mich nicht wenigstens gefragt?



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