»Verzeihung vielmals, Eure Blutigkeit, Herr Baron, Sir«, sagte er schleimig.
»Meine Schuld, ganz meine Schuld - ich hab Sie nicht gesehen -natürlich nicht, Sie sind unsichtbar -verzeihen Sie dem alten Peeves diesen kleinen Scherz, Sir.«
Joanne K. Rowling, Harry Potter und der Stein der Weisen
Es war ein seltsames Gefühl, unsichtbar zu sein. Farid fühlte sich allmächtig und verloren zugleich. Als gäbe es ihn nirgends und überall. Das Schlimmste war, dass er Staubfinger nicht sehen konnte. Er konnte sich nur auf sein Gehör verlassen. »Staubfinger?«, flüsterte er immer wieder, während er ihm durch die Nacht folgte, und jedes Mal kam es leise zurück: »Ich bin hier, gleich vor dir.«
Die Soldaten, die Meggie und den Schleierkauz mitgenommen hatten, würden einer Straße folgen müssen, einer schlechten, an vielen Stellen fast zugewachsenen Straße, die sich in weiten Windungen die Hügel hinaufwand. Staubfinger dagegen suchte sich seinen Weg querfeldein, Hänge hinauf, die zu steil für ein Pferd waren, vor allem, wenn es einen gepanzerter Reiter tragen musste. Farid versuchte nicht daran zu denken, wie sehr Staubfingers Bein dabei schmerzen musste. Ab und zu hörte er ihn leise fluchen, und immer wieder blieb er stehen, unsichtbar, nichts als ein Atmen in der Nacht.
Die Burg war tatsächlich weiter entfernt, als es vom Strand aus geschienen hatte, aber schließlich ragten ihre Mauern direkt vor ihnen in den Himmel. Gegen diese Festung kam Farid die Burg von Ombra wie ein Spielzeug vor, gebaut von einem Fürsten, der gern aß und trank, aber nicht ans Kriegführen dachte. Bei der Nachtburg schien jeder Stein mit dem Gedanken an Krieg gemeißelt worden zu sein, und während Farid Staubfingers keuchendem Atem folgte, stellte er sich voll Grauen vor, wie es sein müsste, den steilen Hang hinaufzustürmen, während oben von den Zinnen das heiße Pech herunterrann und die Bolzen der Armbrüste einem entgegenflogen.
Der Morgen war noch fern, als sie das Burgtor erreichten. Ihre Unsichtbarkeit würde noch einige kostbare Stunden vorhalten, aber das Tor war verschlossen und Farid spürte, wie ihm Tränen der Enttäuschung in die Augen stiegen. »Es ist zu!«, stammelte er. »Sie haben sie schon reingebracht! Was nun?« Jeder Atemzug schmerzte ihn, so schnell waren sie gelaufen. Aber was half es ihnen nun, dass sie durchsichtig waren wie Glas, unsichtbar wie der Wind?
Er spürte Staubfingers Körper neben sich, so warm in der windigen Nacht. »Ja, sicher ist es zu!«, raunte seine Stimme ihm zu. »Was hast du gedacht? Dass wir zwei sie einholen? Das hätten wir nicht mal geschafft, wenn ich nicht hinken würde wie eine alte Frau! Aber du wirst sehen - für irgendwen werden sie das Tor heute Nacht bestimmt noch mal öffnen. Und wenn es nur für einen ihrer Spitzel ist.«
»Vielleicht können wir auch klettern?« Farid blickte hoffnungsvoll an den fahlgrauen Mauern hinauf. Er sah die Posten zwischen den Zinnen, lanzenbewehrt.
»Klettern? Du scheinst ja wirklich sehr verliebt zu sein. Siehst du, wie glatt und hoch diese Mauern sind? Vergiss es. Wir warten.«
Vor ihnen ragten sechs Galgen auf. An vieren davon hing ein Toter, Farid war sehr dankbar dafür, dass die Nacht sie nur wie Bündel alter Kleider aussehen ließ. »Verdammt!«, hörte er Staubfinger murmeln. »Warum lässt dieses Feengift die Angst nicht ebenso verschwinden wie den Körper?« Ja, das hätte Farid auch gefallen. Aber er hatte keine Angst vor den Wachen, vor Basta oder dem Brandfuchs. Er hatte Angst um Meggie, furchtbare Angst. Dass er unsichtbar war, machte es nur schlimmer. Es schien nichts von ihm übrig zu sein als der Schmerz in seinem Herzen.
Es wehte ein kühler Wind, und Farid wärmte sich gerade die unsichtbaren Finger an seinem eigenen Atem, als Hufschläge durch die Nacht drangen.
»Na bitte!«, flüsterte Staubfinger. »Scheint, dass wir zur Abwechslung einmal Glück haben! Denk dran, was auch immer passiert: Vor Tagesanbruch müssen wir wieder fort sein. Die Sonne wird uns fast so schnell sichtbar machen, wie du das Feuer rufen kannst.«
Die Hufschläge wurden lauter und ein Reiter tauchte aus der Dunkelheit auf, nicht im blassen Silber des Natternkopfes, sondern gekleidet in Rot und Schwarz. »Nun sieh einer an!«, flüsterte Staubfinger. »Wenn das nicht der Rußvogel ist.«
Eine der Wachen rief etwas von den Zinnen herunter, und der Rußvogel antwortete.
»Komm!«, zischte Staubfinger Farid zu, als das Tor ächzend aufschwang. Sie folgten dem Rußvogel so dicht, dass Farid den Schweif seines Pferdes hätte berühren können. Verräter!, dachte er. Schmutziger Verräter. Er hätte ihn zu gern aus dem Sattel gerissen, ihm sein Messer an den Hals gehalten und gefragt, welche Nachricht er auf die Nachtburg brachte, aber Staubfinger stieß ihn weiter, durch das riesige Tor und auf den Hof. Er zog ihn mit sich, während der Rußvogel auf die Ställe der Burg zuritt. Es wimmelte von Gepanzerten dort. Offenbar war die Nachtburg ebenso schlaflos, wie man es ihrem Herrn nachsagte.
»Hör zu!«, raunte Staubfinger, während er Farid unter einen Torbogen zog. »Diese Burg ist groß wie eine Stadt und verwinkelt wie ein Labyrinth. Markier dir deinen Weg mit Ruß, ich will dich nachher nicht suchen müssen, weil du dich verlaufen hast wie ein Kind im Wald, verstanden?«
»Aber was ist mit dem Rußvogel? Er war es, der das Geheime Lager verraten hat, oder?«
»Vermutlich. Vergiss ihn jetzt. Denk an Meggie.«
»Aber er war unter den Gefangenen!« Ein Trupp Soldaten marschierte an ihnen vorbei. Farid wich erschrocken zurück. Er konnte immer noch nicht glauben, dass sie ihn tatsächlich nicht sahen.
»Na und?« Staubfingers Stimme klang, als spräche der Wind selbst. »Die älteste Verräter-Tarnung der Welt. Wo verbirgst du deinen Spitzel? Zwischen deinen Opfern. Vermutlich hat der Pfeifer ihm ein paar Mal erzählt, was für ein fabelhafter Feuerspucker er ist, und schon war er sein bester Freund. Der Rußvogel hatte schon immer einen seltsamen Geschmack, was Freunde betraf. Aber jetzt komm, oder wir stehen hier immer noch, wenn die Sonne uns die Unsichtbarkeit von den Gliedern leckt.«
Seine Worte ließen Farid unwillkürlich zum Himmel blicken. Es war eine dunkle Nacht. Selbst der Mond schien verloren in all dem Schwarz, und er konnte den Blick nicht von den Silbertürmen wenden.
»Das Nest der Natter!«, flüsterte er. Dann spürte er, wie Staubfingers unsichtbare Hand ihn erneut unsanft mit sich zog.