Die richtigen Worte



In solchem Tempel kann nichts Böses wohnen.

Denn hätt das Böse solche schöne Wohnung,

Dann würd das Gute bei ihm leben wolln.

William Shakespeare, Der Sturm


Der Stallknecht war ein dummer Kerl, brauchte eine Ewigkeit, um das verfluchte Pferd zu satteln. Einen wie den hätte ich nie erfunden!, dachte Fenoglio. Ein Glück, dass ich so gute Laune habe. O ja, er hatte die allerbeste Laune. Seit Stunden schon pfiff er leise vor sich hin, denn er hatte es geschafft. Er hatte die Lösung gefunden! Die Wörter waren ihm aufs Papier geflossen, als hätten sie nur darauf gewartet, dass er sie endlich aus dem Meer der Buchstaben fischte. Die richtigen. Die einzig richtigen. Nun konnte die Geschichte weitergehen und alles würde sich zum Guten wenden. Er war eben doch ein Zauberer, ein Wortzauberer allererster Güte. Keiner konnte ihm das Wasser reichen, nun ja, ein paar wenige vielleicht, aber nicht in dieser Welt, in seiner Welt. Wenn dieser dumme Knecht sich nur etwas beeilen würde. Schließlich wurde es allerhöchste Zeit, dass er zu Roxane kam, sonst würde sie doch noch ohne den Brief losreiten - und wie sollte Meggie ihn dann bekommen? Schließlich gab es von dem jungen Heißsporn, den er ihr nachgeschickt hatte, immer noch kein Lebenszeichen. Hatte sich vermutlich im Weglosen Wald verirrt, der Milchbart.

Er tastete nach dem Brief unter seinem Umhang. Nur gut, dass Wörter eine federleichte Sache waren, selbst die gewichtigsten.

Roxane würde nicht schwer zu tragen haben, wenn sie Meggie das Todesurteil für den Natternkopf brachte. Und noch etwas würde sie hinübertragen in das Fürstentum am Meer -den sicheren Sieg für Cosimo. Falls der nicht loszog, bevor Meggie überhaupt etwas zu lesen bekam!

Cosimo brannte vor Ungeduld, er fieberte dem Tag entgegen, an dem er seine Soldaten auf die andere Seite des Waldes führen würde. »Weil er herausfinden will, wer er ist!«, flüsterte die leise Stimme in Fenoglios Kopf (oder saß sie in seinem Herzen?). »Weil er leer ist wie eine Schachtel ohne Inhalt, dein schöner Racheengel. Ein paar geliehene Erinnerungen, ein paar steinerne Abbilder, das ist alles, was der arme Junge hat, und deine Geschichten über seine Heldentaten, nach deren Echo er so verzweifelt in seinem leeren Herzen sucht. Du hättest eben doch versuchen müssen, den echten Cosimo zurückzuholen, geradewegs aus dem Reich des Todes, aber das hast du dich nicht getraut!«

Still! Fenoglio schüttelte unmutig den Kopf. Warum kamen diese lästigen Gedanken nur immer wieder? Alles würde gut sein, wenn Cosimo nur erst auf dem Thron des Natternkopfes saß. Dann würde er seine eigenen Erinnerungen haben und neue hinzubekommen mit jedem Tag. Und bald würde die Leere vergessen sein.

Na endlich. Sein Pferd war gesattelt. Mit spöttisch verzogenem Mund half der Stallknecht ihm in den Sattel. Was für ein Dummkopf! Fenoglio wusste genau, dass er keine sonderlich gute Figur auf einem Pferd machte. Na und? Unheimliche Biester waren sie, diese Pferde, viel zu stark für seinen Geschmack, aber ein Dichter, der auf der Burg seines Fürsten lebte, ging eben nicht zu Fuß wie ein Bauer. Außerdem war er auf diese Weise nun mal schneller - wenn das Biest in die gleiche Richtung wollte wie er. Was für einen Aufstand man allein machen musste, um es in Bewegung zu setzen.

Die Hufe klapperten über den gepflasterten Hof, vorbei an Pechfässern und Eisenspießen, die Cosimo auf die Mauern hatte pflanzen lassen. Immer noch hallte die Burg nachts wider vom Hämmern der Schmiede, und in den Holzverschlägen entlang der Mauer schliefen Cosimos Soldaten, dicht gedrängt wie Larven in einem Ameisennest. Wahrhaftig, einen kriegerischen Engel hatte er da geschaffen, aber waren Engel nicht schon immer kriegerisch gewesen? Tja, aufs Erfinden von friedlichen Figuren versteh ich mich eben einfach nicht!, dachte Fenoglio, während er über den Hof trabte. Meinen Guten folgt entweder das Unglück wie Staubfinger, oder sie gehen unter die Räuber wie der Schwarze Prinz. Hätte er jemanden wie Mortimer erfinden können? Vermutlich nicht.

Als Fenoglio auf das Äußere Tor zuritt, schwang es auf, sodass er im ersten Moment tatsächlich annahm, die Wächter würden endlich etwas Ehrerbietung für den Dichter ihres Fürsten zeigen, doch daran, wie tief sie die Köpfe beugten, erkannte er, dass unmöglich er gemeint sein konnte.

Cosimo kam ihm durch das weit offene Tor entgegen, auf einem weißen Pferd, so weiß, dass es fast unwirklich aussah. In der Dunkelheit erschien er noch schöner als bei Tageslicht, aber war nicht auch das bei allen Engeln so? Nur sieben Soldaten folgten ihm, mehr nahm er nie als Wachen mit auf seine nächtlichen Ausritte. Doch an seiner Seite ritt noch jemand: Brianna, Staubfingers Tochter, nicht länger in einem Kleid ihrer Herrin, der armen Violante, wie es früher so oft gewesen war, sondern in einem der Kleider, die Cosimo ihr geschenkt hatte. Er überhäufte sie mit Geschenken, während er seiner Frau nicht einmal mehr erlaubte, die Burg zu verlassen, ebenso wenig wie ihrem gemeinsamen Sohn. Aber Brianna blickte trotz all der Liebesbeweise nicht sonderlich glücklich drein. Wie auch? Wer war schon fröhlich, wenn der Geliebte plante, in den Krieg zu ziehen?

Cosimos Laune schien diese Aussicht nicht zu trüben. Im Gegenteil. Er blickte so unbeschwert, als könnte die Zukunft nur Gutes bringen. Jede Nacht ritt er aus, schien kaum Schlaf zu brauchen und ritt, wie man Fenoglio berichtet hatte, so halsbrecherisch, dass kaum einer seiner Leibwächter ihm folgen konnte - wie ein Mann, dem man erzählt hatte, dass der Tod ihn ohnehin nicht festhalten konnte. Was machte es da schon, dass er sich weder an den Tod noch an sein Leben erinnerte?

Tag und Nacht versah Balbulus Texte über dieses verlorene Leben mit den wunderbarsten Bildern. Mehr als ein Dutzend Schreiber lieferten ihm die handgeschriebenen Seiten. »Betreten will mein Mann die Bibliothek immer noch nicht!«, hatte Violante bitter festgestellt, als Fenoglio sie das letzte Mal sah. »Aber er füllt alle Lesepulte - mit Büchern über sich selbst.«

Ja, leider war es nur zu deutlich: Die Worte, aus denen Fenoglio und Meggie ihn erschaffen hatten, reichten Cosimo nicht. Es waren einfach nicht genug gewesen. Und alles, was er über sich hörte, schien einem anderen zu gehören. Vielleicht liebte er Staubfingers Tochter deshalb so sehr: weil sie nicht dem Mann gehört hatte, der er angeblich vor seinem Tod gewesen war. Fenoglio musste ihm immer neue inbrünstige Liebeslieder auf Brianna dichten. Meist stahl er sie von anderen Dichtern. Er hatte sich Verse schon immer gut merken können, und Meggie war ja nicht da, um ihn bei diesen Diebstählen zu ertappen. Brianna hatte jedes Mal Tränen in den Augen, wenn ihr einer der Spielleute, die nun wieder gern gesehene Gäste auf der Burg waren, eins der Lieder vortrug.

»Fenoglio!« Cosimo zügelte sein Pferd, und Fenoglio beugte den Kopf so selbstverständlich, wie er es nur vor dem jungen Fürsten tat. »Wo willst du hin, Dichter? Es ist alles zum Aufbruch bereit!« Er klang so ungestüm wie sein Pferd, das hin und her tänzelte und Fenoglios Pferd mit seiner Unruhe anzustecken drohte. »Oder ziehst du es nun doch vor, hier zu bleiben und deine Federn für all die Lieder zu spitzen, die du über meinen Sieg wirst schreiben müssen?«

Aufbruch? Bereit?

Fenoglio sah sich verwirrt um, aber Cosimo lachte. »Denkst du, ich ließe die Truppen in der Burg versammeln? Dafür sind es längst zu viele. Nein, sie lagern unten am Fluss. Ich warte nur noch auf eine Schar Söldner, die ich im Norden habe anwerben lassen. Vielleicht treffen sie morgen schon ein!«

Morgen schon? Fenoglio warf Brianna einen schnellen Blick zu. Also deshalb blickte sie so traurig. »Ich bitte Euch, Euer Gnaden!« Fenoglio konnte die Sorge in seiner Stimme nicht verbergen. »Das ist viel zu früh! Wartet noch!«

Aber Cosimo lächelte nur. »Der Mond ist rot, Dichter! Die Wahrsager halten das für ein gutes Zeichen. Ein Zeichen, das man nicht verstreichen lassen darf, sonst schlägt es in Unheil um.«

Was für ein Unsinn! Fenoglio senkte den Kopf, damit Cosimo ihm den Ärger nicht vom Gesicht ablas. Er wusste ohnehin, dass ihm die Vorliebe des jungen Königs für Wahrsager und Kartenleger ein Ärgernis war, dass er sie alle für eine Bande goldgieriger Betrüger hielt. »Ich sage es noch einmal, Euer Gnaden!« Wie oft hatte Fenoglio die Warnung nun schon wiederholt, langsam schmeckte sie schal. »Das Einzige, was Euch Unglück bringen wird, ist ein zu früher Aufbruch!«

Aber Cosimo schüttelte nur nachsichtig den Kopf. »Ihr seid ein alter Mann, Fenoglio«, sagte er, »Euer Blut fließt schon langsam, aber ich bin jung! Worauf soll ich warten? Dass der Natternkopf ebenfalls Söldner anwirbt und sich auf der Nachtburg verbarrikadiert?«

Vermutlich hat er das längst getan, dachte Fenoglio. Und deshalb musst du auf die Worte warten, auf meine Worte, und dass Meggie sie liest, so wie sie dich hergelesen hat. Warte auf ihre Stimme! »Nur ein, zwei Wochen noch, Euer Gnaden!«, sagte er eindringlich. »Eure Bauern müssen die Ernte einbringen. Wovon sollen sie sonst im Winter leben?«

Aber solche Dinge wollte Cosimo nicht hören. »Das ist wahrlich das Gerede eines alten Mannes!«, sagte er ärgerlich. »Wo sind Eure feurigen Worte hin? Von den Vorräten des Natternkopfes werden sie leben, vom Glück unseres Sieges, von dem Silber auf der Nachtburg, das ich in den Dörfern verteilen lassen werde!«

Silber können sie nicht essen, Euer Gnaden, dachte Fenoglio, aber er sprach die Worte nicht aus. Stattdessen blickte er zum Himmel hinauf. Gott, wie hoch der Mond schon stand!

Aber Cosimo hatte noch etwas anderes auf dem Herzen.

»Was ich Euch schon lange fragen wollte«, sagte er, gerade als Fenoglio sich mit irgendeiner gestammelten Entschuldigung verabschieden wollte. »Ihr habt doch so gute Verbindungen zu den Spielleuten. Alle reden von diesem Feuerspucker, der angeblich mit den Flammen reden kann.«

Fenoglio sah aus dem Augenwinkel, wie Brianna den Kopf senkte. »Redet Ihr von Staubfinger?«

»Ja, so ist sein Name. Ich weiß, er ist Briannas Vater.« Cosimo warf ihr einen zärtlichen Blick zu. »Aber sie will nicht über ihn reden. Außerdem sagt sie, dass sie nicht weiß, wo er ist. Aber vielleicht wisst Ihr es?« Cosimo tätschelte seinem Pferd den Hals. Sein Gesicht schien zu brennen vor Schönheit.

»Warum? Was wollt Ihr von ihm?«

»Nun, liegt das nicht auf der Hand? Er kann mit dem Feuer sprechen! Sie sagen, er kann die Flammen wachsen lassen, meterhoch, ohne dass sie ihn verbrennen.«

Fenoglio begriff, bevor Cosimo es aussprach. »Ihr wollt Staubfinger für Euren Krieg.« Er konnte es nicht verhindern, er lachte laut auf.

»Was ist daran so komisch?« Cosimo runzelte die Stirn.

Staubfinger, der Feuertänzer, als Waffe! Fenoglio schüttelte den Kopf.

»Nun«, sagte er. »Ich kenne Staubfinger recht gut.« Er sah, wie erstaunt Brianna ihn ansah. »Und er ist vieles, aber ganz gewiss kein Krieger. Er würde Euch auslachen.«

»Nun, das sollte er besser nicht.« Der Ärger in Cosimos Stimme war nicht zu überhören. Brianna aber sah Fenoglio an, als hätte sie tausend Fragen auf der Zunge. Als ob dafür jetzt Zeit wäre!

»Euer Hoheit«, sagte er hastig. »Entschuldigt mich jetzt bitte! Eins von Minervas Kindern ist krank, und ich habe versprochen, ihr bei Briannas Mutter ein paar Kräuter zu besorgen.«

»Ach so. Sicher. Sicher, reitet, wir sprechen später.« Cosimo nahm seine Zügel wieder auf. »Wenn es nicht besser wird,

sagt mir Bescheid, dann schicke ich ihr einen Bader.«

»Ich danke Euch«, sagte Fenoglio, aber bevor er sich endgültig auf den Weg machte, musste er selbst noch eine Frage stellen. »Ich habe gehört, Eurer Frau geht es auch nicht gut?« Balbulus hatte es ihm erzählt. Er war zurzeit der Einzige, der zu Violante vorgelassen wurde.

»Oh, sie ist nur wütend.« Cosimo griff nach Briannas Hand, als müsste er sie dafür trösten, dass von seiner Frau die Rede war. »Violante wird schnell wütend. Das hat sie von ihrem Vater. Sie will einfach nicht begreifen, warum ich sie nicht aus der Burg lasse. Dabei ist es doch offensichtlich, dass die Spitzel ihres Vaters überall sind, und wen werden sie zuerst versuchen auszuhorchen? Violante und Jacopo.«

Es fiel schwer, nicht jedes Wort zu glauben, das von diesen schönen Lippen kam, vor allem, wenn es mit so viel ehrlicher Überzeugung geäußert wurde. »Nun, vermutlich habt Ihr Recht! Aber bitte vergesst nicht, dass Eure Frau ihren Vater hasst.«

»Man kann jemanden hassen und ihm dennoch gehorchen. Ist das nicht so?« Cosimo sah Fenoglio an, mit diesem blanken Ausdruck in den Augen, blank wie der eines sehr jungen Kindes.

»Doch, doch, vermutlich«, antwortete er unbehaglich. Jedes Mal, wenn Cosimo ihn so ansah, war es Fenoglio, als hätte er eine leere Seite in einem Buch entdeckt, ein Mottenloch im fein gewebten Wort-Teppich.

»Euer Hoheit!«, sagte er, neigte ein weiteres Mal den Kopf und brachte sein Pferd wenig elegant dazu, endlich zum Tor hinauszutraben.

Brianna hatte ihm den Weg zum Hof ihrer Mutter gut beschrieben. Gleich nach Roxanes Besuch hatte er sie danach gefragt, in aller Unschuld, angeblich, weil ihn ein Knochenreißen plagte. Ein seltsames Kind war Staubfingers Tochter. Wollte nichts von ihrem Vater wissen und offenbar auch nicht viel von ihrer Mutter. Vor der Gans hatte sie ihn zum Glück gewarnt, so hatte er sein Pferd schon fest am Zügel, als sie ihm schnatternd entgegenkam.

Roxane saß vor ihrem Haus, als er auf ihren Hof geritten kam. Es war ein ärmliches Haus. Ihre Schönheit schien ebenso wenig hineinzupassen wie ein Schmuckstück an den Hut eines Bettlers. Ihr Sohn schlief neben ihr auf der Schwelle, zusammengerollt wie ein junger Hund, den Kopf auf ihrem Schoß.

»Er will mitkommen«, sagte sie, während Fenoglio ungeschickt vom Pferd rutschte. »Die Kleine hat auch geweint, als ich ihr sagte, dass ich fortmuss. Aber ich kann sie nicht mitnehmen, nicht zum Natternkopf. Er hat auch schon Kinder hängen lassen. Eine Freundin wird auf sie aufpassen, auf sie, auf ihn, auf die Pflanzen und Tiere.«

Sie strich ihrem Sohn über das dunkle Haar, und für einen Augenblick wollte Fenoglio nicht, dass sie ritt. Aber was würde dann aus seinen Worten werden? Wer sonst sollte Meggie finden? Sollte er Cosimo erneut um einen Reiter bitten, der dann doch nicht zurückkam? Nun, wer weiß, vielleicht kommt auch Roxane nicht zurück, flüsterte es erneut hämisch in ihm. Und deine kostbaren Worte sind verloren. »Unsinn!«, sagte er ärgerlich. »Natürlich habe ich eine Abschrift gemacht.«

»Was sagst du?« Erstaunt sah Roxane ihn an.

»Ach nichts, nichts!« Himmel, jetzt führte er schon Selbstgespräche. »Ich muss Euch noch etwas erzählen. Reitet nicht zu der Mühle! Ein Spielmann, der für Cosimo singt, hat mir Nachricht vom Schwarzen Prinzen gebracht.«

Roxane presste die Hand vor den Mund.

»Nein, nein. Es ist halb so schlimm!«, beschwichtigte Fenoglio sie schnell. »Nun ja, Meggies Vater ist offenbar ein Gefangener des Natternkopfes, aber das hatte ich ehrlich gesagt schon befürchtet. Und Staubfinger und Meggie - also, um es kurz zu machen: Die Mühle, bei der Meggie auf meinen Brief warten wollte, ist offenbar abgebrannt. Der Müller soll herumerzählen, dass ein Marder Feuer von der Decke hat regnen lassen, während ein Hexer mit Narben im Gesicht mit den Flammen sprach. Er soll einen Dämon dabeigehabt haben in Gestalt eines dunkelhäutigen Jungen, der ihn rettete, als er verwundet wurde, und ein Mädchen.«

Roxane sah ihn so abwesend an, als müsste sie den Sinn seiner Worte erst suchen. »Verwundet?«

»Ja, aber sie sind entkommen! Das ist doch die Hauptsache! Roxane, denkt Ihr, Ihr könnt sie wirklich finden?«

Roxane strich sich über die Stirn. »Ich werd es versuchen.«

»Macht Euch keine Sorgen!«, sagte Fenoglio. »Ihr habt es doch gehört. Staubfinger hat jetzt einen Dämon, der ihn schützt. Außerdem - ist er nicht immer bestens allein zurechtgekommen?«

»O ja! Das ist er.«

Fenoglio verfluchte jede einzelne Falte in seinem alten Gesicht, so schön war sie. Warum hatte er nicht Cosimos Gesicht? Obwohl - würde ihr das gefallen? Staubfinger gefiel ihr, Staubfinger, der eigentlich längst tot sein sollte, wäre es danach gegangen, was er einst geschrieben hatte. Fenoglio!, dachte er. Das geht zu weit. Du benimmst dich ja wie ein eifersüchtiger Liebhaber!

Aber Roxane beachtete ihn ohnehin nicht. Sie blickte auf den Jungen hinab, der in ihrem Schoß schlief. »Brianna war furchtbar wütend, als sie erfuhr, dass ich ihrem Vater hinterherreite«, sagte sie. »Ich hoffe nur, Cosimo passt auf sie auf, und dass er seinen Krieg nicht beginnt, bevor ich zurück bin.«

Dazu schwieg Fenoglio. Wozu sollte er ihr von Cosimos Plänen erzählen? Damit sie sich noch mehr Sorgen machte? Nein. Er zog den Brief für Meggie unter dem Umhang hervor. Buchstaben, die sich in Klang verwandeln konnten, mächtigen Klang. Nie zuvor hatte er Rosenquarz einen Brief sorgsamer versiegeln lassen.

»Dieser Brief kann Meggies Eltern retten«, sagte er eindringlich, »er kann ihren Vater retten. Er kann uns alle retten, also gebt gut Acht auf ihn!«

Roxane drehte und wendete das versiegelte Pergament, als schiene es ihr allzu klein für so große Worte. »Ich habe noch nie von einem Brief gehört, der die Kerker der Nachtburg öffnet«, sagte sie. »Findet Ihr es richtig, dem Mädchen falsche Hoffnung zu machen?«

»Es ist keine falsche Hoffnung«, sagte Fenoglio, etwas gekränkt darüber, dass sie seinen Worten so wenig Glauben schenkte.

»Nun gut. Wenn ich Staubfinger finde und das Mädchen noch bei ihm ist, wird sie Euren Brief bekommen.« Roxane strich ihrem Sohn noch einmal übers Haar, so sacht, als würde sie ein Blatt fortwischen. »Liebt sie ihren Vater?«

»O ja, sie liebt ihn sehr.«

»Das tut meine Tochter auch. Brianna liebt Staubfinger so sehr, dass sie kein Wort mit ihm wechselt. Wenn er früher fortging, einfach fort, in den Wald, ans Meer, wohin ihn das Feuer oder der Wind gerade lockte, dann versuchte sie ihm nachzulaufen auf ihren kleinen Füßen. Ich glaube, er hat es nicht mal bemerkt, so schnell war er immer verschwunden, schnell wie ein Fuchs, der ein Huhn gestohlen hat. Aber geliebt hat sie ihn trotzdem. Warum? Dieser Junge liebt ihn auch. Er denkt sogar, er braucht ihn, aber Staubfinger braucht niemanden, nur das Feuer.«

Nachdenklich sah Fenoglio sie an. »Da irrt Ihr Euch!«, sagte er. »Er war kreuzunglücklich, als er so lange fort von Euch war. Ihr hättet ihn sehen sollen.«

Wie ungläubig sie ihn musterte. »Ihr wisst, wo er war?«

Was nun? Alter Narr, was hatte er da nur wieder geredet? »Nun ja«, stammelte er. »Ja. Ja. Ich war ja selbst dort.« Her mit den Lügen. Wo waren sie? Mit der Wahrheit war in diesem Fall wenig anzufangen. Ein paar schöne Lügen mussten her, die alles erklärten. Warum sollte er zur Abwechslung nicht mal ein paar gute Worte für Staubfinger finden - auch wenn er ihn um seine Frau beneidete?

»Er sagt, er konnte nicht zurückkommen.« Sie glaubte es nicht, aber man hörte Roxanes Stimme an, wie gern sie es getan hätte.

»Genau so war es! Er hatte eine schlimme Zeit! Capricorn hat ihn von Basta jagen lassen, sie haben ihn verschleppt, weit, weit fort. haben versucht, ihm zu entlocken, wie man mit dem Feuer spricht.« Da kamen sie, die Lügen. Und wer konnte es schon sagen? Vielleicht kamen sie der Wahrheit ja ganz nahe? »Glaubt mir, Basta hat sich gründlich dafür gerächt, dass Ihr Staubfinger ihm vorgezogen habt! Sie haben ihn eingesperrt, jahrelang, schließlich ist er entkommen, aber sie haben ihn bald gefunden. Haben ihn halb totgeschlagen.« Davon hatte Meggie ihm erzählt. Ein bisschen Wahrheit konnte nicht schaden, und Roxane musste ja nicht wissen, dass es wegen Resa gewesen war. »Es war furchtbar, so furchtbar!« Fenoglio spürte, wie sie mit ihm durchging, die Lust am Erzählen, die Lust daran, zu beobachten, wie Roxanes Augen sich weiteten, wie sie an seinen Lippen hing, sehnsüchtig auf seine nächsten Worte wartend. Sollte er Staubfinger vielleicht doch noch etwas schlecht machen? Nein, er hatte ihn schon umgebracht, heute würde er ihm einen Gefallen tun. Heute würde er seine Frau dazu bringen, ihm ein für alle Mal zu verzeihen, dass er zehn Jahre fort gewesen war. Manchmal kann ich doch wahrlich ein netter Mensch sein!, dachte Fenoglio.

»Er dachte, er würde sterben. Er dachte, er würde Euch nie wieder sehen, das war das Schlimmste für ihn.« Fenoglio musste sich räuspern. Er war gerührt von seinen eigenen Worten - und Roxane war es auch. O ja. Er sah, wie das Misstrauen aus ihren Augen verschwand, wie sie weich wurden, weich vor Liebe. »Danach ist er umhergestrichen durch fremde Länder wie ein vor die Tür gesetzter Hund, auf der Suche nach einem Weg, an dessen Ende nicht Basta oder Capricorn, sondern Ihr auf ihn warten würdet.« Jetzt kamen die Worte wie von selbst, als wüsste er tatsächlich, was Staubfinger all die Jahre empfunden hatte. »Er war verloren, wahrlich verloren, sein Herz kalt wie ein Stein von all der Einsamkeit. Nichts als Sehnsucht hatte noch Platz darin, Sehnsucht nach Euch. Und nach seiner Tochter.«

»Er hatte zwei Töchter.« Roxanes Stimme war kaum zu verstehen.

Verflucht, das hatte er vergessen. Natürlich, zwei! Aber Roxane war schon so eingesponnen in seine Worte, dass sein Fehler das Netz nicht zerriss.

»Woher wisst Ihr das alles?«, fragte sie. »Er hat mir nie erzählt, dass Ihr Euch so gut kennt.«

Oh, niemand kennt ihn besser!, dachte Fenoglio. Das versichere ich Euch, meine Schöne.

Roxane strich sich das schwarze Haar aus dem Gesicht. Eine Spur von Grau entdeckte Fenoglio darin, als hätte sie sich mit einem staubigen Kamm gekämmt. »Ich reite morgen in aller Frühe«, sagte sie.

»Bestens.« Fenoglio zog das Pferd an seine Seite. Warum war es nur so schwer, halbwegs anständig auf die Biester hinaufzukommen? Roxane musste denken, dass er wahrlich schon ein steifer alter Mann war. »Passt auf Euch auf!«, sagte er, als er endlich oben saß. »Auf Euch und den Brief. Und grüßt Meggie von mir. Sagt ihr, alles wird gut. Ich verspreche es!«

Als er davonritt, stand sie mit nachdenklichem Gesicht neben ihrem schlafenden Sohn und sah ihm nach. Er hoffte wirklich, dass sie Staubfinger finden würde, nicht nur, damit Meggie seine Worte bekam. Nein. Ein bisschen Glück konnte dieser Geschichte nicht schaden, und Roxane war nun mal nicht glücklich ohne Staubfinger. So hatte er es eingerichtet.

Verdient hat er sie trotzdem nicht!, dachte Fenoglio erneut, während er auf die Lichter von Ombra zuritt, nicht so hell leuchtend und nicht so zahllos wie in seiner alten Welt, aber mindestens ebenso einladend. Bald würden die Häuser hinter den schützenden Mauern ohne Männer sein. Ja, alle würden sie mit Cosimo gehen: Minervas Mann - obwohl sie ihn gebeten hatte zu bleiben - und der Schuster, der neben ihm seine Werkstatt hatte. Selbst der Lumpensammler, der jeden Dienstag durch den Ort zog, wollte gegen den Natternkopf kämpfen. Ob sie Cosimo ebenso bereitwillig folgen würden, wenn ich ihn hässlich gemacht hätte?, dachte Fenoglio. Hässlich wie den Natternkopf mit seinem Schlachtergesicht. Nein, einem schönen Gesicht glaubte man so viel leichter die edlen Absich-ten - und deshalb hatte er klug daran getan, einen Engel auf den Thron zu setzen. Ja, sehr klug, überaus klug. Fenoglio ertappte sich dabei, dass er leise vor sich hin summte, während das Pferd ihn an den Wachen vorbeitrug. Ohne ein Wort ließen sie ihn passieren, den Dichter ihres Fürsten, den Mann, der ihre Welt in Worte fasste, der sie aus Worten erschaffen hatte. Ja, beugt eure Köpfe vor Fenoglio!

Auch die Wachen würden mit Cosimo ziehen, und die Soldaten oben auf der Burg, die Knechte, kaum so alt wie der Junge, der mit Staubfinger herumzog. Selbst Ivo, Minervas Sohn, wäre gegangen, wenn sie ihn gelassen hätte. Sie werden schon alle zurückkommen, dachte Fenoglio, während er auf die Ställe zuritt. Zumindest die meisten. Alles wird gut werden, ja, das wird es. Ach was, nicht nur gut. Vortrefflich!



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