Feuer an der Wand



Und sieh! und sieh! an weißer Wand Da kam’s hervor wie Menschenhand.

Und schrieb, und schrieb an weißer Wand Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.

Heinrich Heine, Belsazar


Es war still in den weiten, dunklen Korridoren, als Staubfinger und Farid sich in die Nachtburg schlichen. Nur das Wachs tropfte von tausend Kerzen auf die Steinfliesen, die alle das Wappen des Natternkopfs trugen. Diener hasteten auf leisen Sohlen an ihnen vorbei, Mägde, die Köpfe gesenkt. Wachen standen auf endlosen Gängen und vor Türen, so hoch, als wären sie für Riesen und nicht für Menschen gedacht. Auf jeder einzelnen prangte in geschupptem Silber das Wappentier des Natternkopfes, die Beute schlagende Schlange, und neben den Türen hingen mächtige Spiegel, vor denen Farid immer wieder stehen blieb, um sich in dem polierten Metall davon zu überzeugen, dass er tatsächlich unsichtbar war. Staubfinger ließ eine eichelgroße Flamme auf seiner Hand tanzen, damit der Junge ihm folgen konnte. Aus einem der Säle, an dem sie vorbeikamen, trugen Diener Köstlichkeiten, deren Duft Staubfinger schmerzhaft an seinen unsichtbaren Magen erinnerte, und als er sich lautlos wie die Schlange des Natternkopfes an den Männern vorbeischob, hörte er, dass sie mit gedämpften Stimmen von einer jungen Hexe sprachen und einem Handel, der den Eichelhäher vor dem Galgen retten sollte. Staubfinger lauschte ihnen, unsichtbar wie ihre Stimmen, und wusste nicht recht, welches Gefühl in seinem Innern das stärkere war: die Erleichterung darüber, dass Fenoglios Worte offenbar erneut Wirklichkeit wurden, oder die Furcht vor ihnen und den unsichtbaren Fäden, die der alte Mann spann, Fäden, die selbst den Natternkopf einfingen und ihn träumen ließen von der Unsterblichkeit, während Fenoglio längst seinen Tod niedergeschrieben hatte. Aber hatte Meggie die tötenden Worte auch wirklich gelesen, bevor man sie fortgeschleppt hatte?

»Was jetzt?«, flüsterte Farid ihm zu. »Hast du gehört? Sie haben Meggie zu Zauberzunge gesperrt, in einen der Türme! Wie komm ich da hin?« Wie seine Stimme bebte. Himmel, die Liebe war eine Plage. Jeder, der etwas anderes behauptete, hatte es noch nie gespürt, das verfluchte Herzzittern.

»Vergiss es!«, flüsterte Staubfinger dem Jungen zu. »Die Kerker im Turm haben feste Türen, durch die kommst du auch unsichtbar nicht. Außerdem wird es da oben von Wachen wimmeln. Schließlich glauben sie immer noch, den Eichelhäher gefangen zu haben. Schleich lieber in die Küche und belausch die Diener und Mägde, dabei erfährt man immer das Interessanteste. Aber sei vorsichtig! Ich sag’s dir noch mal: Unsichtbar heißt nicht unsterblich.«

»Und du?«

»Ich werd mich in die Kerker unter der Burg wagen, zu den weniger feinen Gefangenen, zum Schleierkauz und Meggies Mutter. Siehst du den marmornen Fettwanst dort? Vermutlich irgendein Vorfahre der Natter. Dort treffen wir uns wieder. Und komm nicht auf die Idee, mir nachzuschleichen! Farid?« Aber der Junge war schon fort. Staubfinger unterdrückte einen leisen Fluch. Wenn sie nur sein verliebtes Herz nicht schlagen hörten!

Es war ein weiter, dunkler Weg zu den Kerkern. Eine der Heilerinnen, die für den Schleierkauz arbeiteten, hatte ihm beschreiben können, wo der Eingang lag. Nicht einer der Wächter, an denen er vorbeikam, wandte auch nur den Kopf, wenn Staubfinger sich an ihm vorbeischob. Gleich zwei lungerten vor dem feuchten, nur von einer Fackel erleuchteten Gang herum, an dessen Ende die Tür lag, hinter der es hinunterging, hinunter in die tödlichen Eingeweide der Nachtburg, die Menschen verdauten wie ein steinerner Magen und ab und zu ein paar Tote ausschieden. Auch auf der Tür, durch die keiner gehen wollte, prangte eine Schlange, doch auf dieser wand sich die silberne Natter um einen Totenkopf.

Die Wächter stritten miteinander, es ging um den Brandfuchs, aber Staubfinger hatte keine Zeit, sie zu belauschen. Er war nur froh, dass sie miteinander beschäftigt waren, als er sich an ihnen vorbeischlich. Die Tür ächzte leise, als er sie öffnete, gerade weit genug, um hindurchzuschlüpfen - das Herz blieb ihm fast stehen dabei -, aber die Wachen drehten sich nicht um. Was hätte er darum gegeben, ein so furchtloses Herz wie Farid zu haben, auch wenn es leichtsinnig machte.

Hinter der Tür war es so finster, dass er das Feuer rief, gerade rechtzeitig, bevor seine unsichtbaren Füße die Treppe hinunterstolperten, die dahinter lag, steil und ausgetreten. Verzweiflung und Angst stiegen ihm wie Rauch aus der Tiefe entgegen. Angeblich führte die Treppe genauso weit in den Hügel hinab, wie die Türme der Burg in den Himmel ragten, aber Staubfinger war noch keinem begegnet, der die Geschichte hätte bestätigen können. Von denen, die er gekannt hatte und die dort hinuntergebracht worden waren, hatte er nicht einen lebendig wiedergesehen.

Staubfinger, Staubfinger, dachte er, bevor er sich an den Abstieg machte, das ist ein gefährlicher Weg, nur um zwei alten Freunden guten Tag zu sagen, noch dazu, wo ihnen dein Besuch wenig nützen wird. Aber nun gut, dem Schleierkauz war er viele Jahre ebenso hinterhergelaufen, wie Farid es nun bei ihm tat, und was Resa betraf - vielleicht dachte er ihren Namen zuletzt, um sich selbst davon zu überzeugen, dass er ganz gewiss nicht wegen ihr die dreimal verfluchte Treppe hinunterstieg.

Leider machen auch unsichtbare Füße Geräusche, aber zum Glück kam ihm nur ein einziges Mal jemand entgegen. Drei Aufseher waren es, sie gingen so dicht an ihm vorbei, dass ihr Knoblauchatem ihm übers Gesicht strich und er es nur knapp schaffte, sich gegen die Wand zu pressen, bevor der dickste ihn anrempelte. Den Rest des dunklen Abstiegs begegnete ihm niemand. An den grob behauenen Wänden, so anders als die fein gemeißelten oben in der Burg, brannte alle paar Meter eine Fackel. Zweimal kam Staubfinger an einer Kammer vorbei, in der Wachtposten saßen, aber sie hoben nicht einmal den Kopf, als er vorbeischlich, leiser als ein Luftzug und ebenso unsichtbar.

Als die Treppe endlich ein Ende nahm, stolperte er fast in einen Aufseher hinein, der mit gelangweiltem Gesicht einen von Kerzen erhellten Korridor auf und ab schritt. Lautlos schob er sich an ihm vorbei, spähte in Verliese, die kaum mehr als ein Loch waren, zu niedrig, um darin zu stehen, und andere, die groß genug waren, um fünfzig Männer hineinzusperren. Sicherlich war es ein Leichtes, hier unten einen Gefangenen einfach zu vergessen, und Staubfingers Herz zog sich zusammen, als er sich vorstellte, wie Resa sich fühlen musste in dieser Finsternis. So viele Jahre war sie immer wieder eine Gefangene gewesen, und auch diesmal hatte die Freiheit kaum ein Jahr gedauert.

Er hörte Stimmen und folgte ihnen, einen weiteren Gang hinunter, bis sie lauter wurden. Ein Mann kam ihm entgegen, klein und kahlköpfig. Er ging so dicht an ihm vorbei, dass Staubfinger den Atem anhielt, aber der andere bemerkte ihn nicht, murmelte nur irgendetwas von dummen Weibern und verschwand um die Ecke. Staubfinger presste den Rücken gegen die feuchte Wand und lauschte. Jemand weinte - eine Frau, und eine andere sprach beruhigend auf sie ein. Nur eine Zelle lag am Ende des Ganges, ein dunkles, vergittertes Loch, neben dem eine Fackel brannte. Wie sollte er durch das verdammte Gitter kommen? Er schob sich ganz dicht an die Stäbe. Da saß Resa, strich einer anderen Frau tröstend übers Haar, während der Zweifinger daneben saß und auf einer kleinen Flöte eine traurige Melodie spielte. Kein Mann konnte das mit zehn Fingern auch nur halb so gut wie er mit seinen sieben. Die anderen kannte Staubfinger nicht, weder die Frauen, die bei Resa saßen, noch die anderen Männer. Vom Schleierkauz war nichts zu entdecken. Wo hatten sie ihn hingebracht? Hatten sie ihn etwa zu Zauberzunge gesperrt?

Er blickte sich um, lauschte. Irgendwo lachte ein Mann, vermutlich einer der Aufseher. Staubfinger hielt einen Finger in die brennende Fackel, flüsterte Feuerworte, bis eine Flamme ihm auf die Fingerkuppe sprang wie ein Sperling, der Krümel pickt. Als er Farid zum ersten Mal gezeigt hatte, wie er seinen Namen mit Feuer an eine Wand schreiben konnte, waren dem Jungen fast die schwarzen Augen aus dem Kopf gesprungen. Dabei war es ganz leicht. Staubfinger schob die Hand durch die Stäbe und fuhr mit dem Finger über den rauen Stein. Resa schrieb er und sah, wie der Zweifinger die Flöte sinken ließ und die brennenden Buchstaben anstarrte. Resa drehte sich um. Himmel, sah sie traurig aus! Er hätte früher kommen müssen. Gut, dass ihre Tochter sie nicht so sah.

Sie stand auf, machte einen Schritt auf ihren Namen zu und zögerte. Staubfinger zog mit dem Finger eine Linie aus Feuer, wie einen Pfeil, der zu ihm wies. Sie trat an das Gitter, starrte in die leere Luft, ungläubig, ratlos.

»Es tut mir Leid«, flüsterte er. »Mein Gesicht bekommst du heute nicht zu sehen. Aber es ist immer noch so narbig wie früher.«

»Staubfinger?« Sie griff in die leere Luft, und er fasste mit seinen unsichtbaren Fingern nach ihrer Hand. Tatsächlich, sie sprach! Der Schwarze Prinz hatte ihm erzählt, dass sie sprechen konnte, aber er hatte ihm nicht geglaubt.

»Was für eine schöne Stimme!«, flüsterte er. »So ähnlich hatte ich sie mir immer vorgestellt. Wann hast du sie zurückbekommen?«

»Als Mortola auf Mo schoss.«

Der Zweifinger starrte immer noch zu ihr herüber. Auch die Frau, die Resa getröstet hatte, wandte sich zu ihnen um. Solange sie nur nichts sagte.

»Wie geht es dir?«, flüsterte sie. »Wie geht es Meggie?«

»Gut. Sicherlich besser als dir. Sie und der Dichter haben sich zusammengetan, um diese Geschichte zum Guten zu wenden.«

Resa umklammerte mit der einen Hand die Stäbe, mit der anderen seine Hand. »Wo ist sie jetzt?«

»Vermutlich bei ihrem Vater.« Er sah den Schrecken in ihrem Gesicht. »Ja, ich weiß, er sitzt oben im Turm, aber sie wollte es so. Es gehört alles zu dem Plan, den Fenoglio ausgeheckt hat.«

»Wie geht es ihm? Wie geht es Mo?«

Die Eifersucht stach immer noch, das Herz war so ein dummes Ding. »Es soll ihm besser gehen, und dank Meggie wird er wohl auch fürs Erste nicht aufgehängt, also schau nicht so traurig drein. Deine Tochter und Fenoglio haben sich etwas recht Kluges einfallen lassen, um ihn zu retten. Ihn und dich und all die anderen.« Schritte näherten sich. Staubfinger ließ Resas Hand los und trat zurück, doch die Schritte entfernten sich wieder.

»Bist du noch da?« Ihre Augen suchten die Dunkelheit ab.

»Ja.« Er umschloss ihre Finger erneut mit seiner Hand. »Wir scheinen uns neuerdings nur noch in Kerkern zu treffen! Wie lange braucht dein Mann, um ein Buch zu binden?«

»Ein Buch?«

Wieder hörte er Schritte, aber diesmal verklangen sie rascher.

»Ja. Es ist eine verrückte Geschichte, aber da Fenoglio sie geschrieben und deine Tochter sie gelesen hat, wird sie wohl wahr werden.«

Sie streckte die Hand durchs Gitter, bis sie mit den Fingern auf sein Gesicht stieß. »Du bist wirklich unsichtbar! Wie machst du das?« Neugierig wie ein kleines Mädchen klang sie. Sie war auf alles neugierig, was sie nicht kannte. Er hatte das immer an ihr geliebt.

»Nur ein alter Feentrick!« Ihre Finger strichen ihm über die narbige Wange. Warum kannst du ihr nicht helfen, Staubfinger? Sie wird noch verrückt werden hier unten! Was, wenn er einen der Wächter niederschlug? Aber da war noch die Treppe, die endlose Treppe, und danach die Burg, der weite Hof und die kahle Hügelkuppe - kein Ort, sich zu verstecken, kein Baum, sie zu verbergen. Nur Steine und Soldaten.

»Was ist mit deiner Frau?« Ihre Stimme klang wirklich schön. »Hast du sie wiedergefunden?«

»Ja.«

»Was hast du ihr erzählt?«

»Worüber?«

»Über die Zeit, die du fort warst.«

»Nichts.«

»Ich habe Mo alles erzählt.«

Ja, vermutlich hatte sie das. »Nun, Zauberzunge weiß, wovon du redest, aber Roxane hätte mir wohl kaum geglaubt, oder?«

»Nein, vermutlich nicht.« Für einen Moment senkte sie den Kopf, als erinnerte sie sich, erinnerte sich an die Zeit, von der er nicht erzählen konnte. »Der Prinz hat mir gesagt, dass du auch eine Tochter hast«, flüsterte sie. »Warum hast du mir nie von ihr erzählt?«

Der Zweifinger und die Frau mit dem verweinten Gesicht starrten weiter zu ihnen herüber. Hoffentlich glaubten sie inzwischen, dass sie sich die Feuerbuchstaben eingebildet hatten. An der Wand war nur noch eine feine Rußspur zu sehen, und dass Menschen anfangen, mit der Luft zu reden, kam in Kerkern schließlich häufig vor.

»Ich hatte zwei Töchter.« Staubfinger fuhr zusammen, als irgendwo jemand aufschrie. »Die ältere ist so alt wie Meggie, aber sie ist nicht gut auf mich zu sprechen. Sie will hören, wo ich die zehn Jahre war. Vielleicht weißt du eine schöne Geschichte, die ich ihr erzählen kann?«

»Was ist mit der zweiten?«

»Sie ist tot.«

Resa schwieg und drückte seine Hand. »Das tut mir Leid.«

»Ja. Mir auch.« Er drehte sich um. Einer der Aufseher stand vor dem Eingang des Ganges, rief einem anderen etwas zu und schlurfte dann mit mürrischem Gesicht weiter.

»Drei, vielleicht vier Wochen!«, flüsterte Resa. »So lang würde Mo brauchen, je nachdem, wie dick das Buch ist.«

»Gut, das ist doch gar nicht so schlimm.« Er schob die Hand durch das Gitter und strich ihr übers Haar. »Ein paar Wochen sind nichts gegen all die Jahre in Capricorns Haus, Resa! Denk daran, jedes Mal, wenn du glaubst, deinen Kopf gegen das Gitter schlagen zu müssen. Versprich’s mir.«

Sie nickte. »Sag Meggie, es geht mir gut!«, flüsterte sie. »Und sag es Mo, ja? Du wirst doch auch mit ihm sprechen, oder?«

»Sicher!«, log Staubfinger. Was schadete es schon, es ihr zu versprechen? Was konnte er sonst tun, um ihr zu helfen? Die andere Frau begann wieder zu schluchzen. Ihr Weinen hallte von den schimmligen Wänden wider, lauter und lauter.

»Verdammt noch mal. Still da!«

Staubfinger drückte sich eng an die Wand, als der Aufseher auf die Tür zukam. Er war ein fetter Kerl, ein Klotz von einem Mann, und Staubfinger hielt den Atem an, als er direkt neben ihm stehen blieb. Für einen abscheulichen Augenblick starrte der Zweifinger so genau in seine Richtung, als könnte er ihn sehen, doch dann schweiften seine Augen weiter, suchten die Dunkelheit ab, vielleicht nach einem feurigen Buchstaben an der Wand.

»Hör auf zu heulen!« Resa versuchte die Frau zu beruhigen, als der Aufseher mit dem Stock gegen das Gitter schlug. Staubfinger fand kaum noch einen Winkel, um sich hineinzupressen. Die weinende Frau presste das Gesicht in Resas Rock, und der Aufseher drehte sich mit einem Grunzen um und stapfte wieder davon. Staubfinger wartete, bis seine Schritte verklangen, bevor er erneut an das Gitter trat. Resa kniete neben der Frau, die immer noch das Gesicht in ihr Kleid presste, und sprach leise auf sie ein.

»Resa!«, flüsterte er. »Ich muss fort. Haben sie heute Nacht einen alten Mann hier heruntergebracht? Einen Bader, Schleierkauz nennt er sich.«

Noch einmal trat sie an das Gitter. »Nein«, flüsterte sie, »aber die Aufseher haben über einen verhafteten Bader geredet, der jeden Kranken auf der Burg behandeln muss, bevor sie ihn zu uns sperren.«

»Das wird er sein. Grüß ihn von mir.« Es fiel ihm schwer, sie so allein zu lassen in der Dunkelheit. Er hätte sie gern aus ihrem Käfig befreit, so wie er es mit den Feen auf den Märkten tat, aber Resa würde nicht davonfliegen können.

Am Fuß der Treppe spotteten zwei Aufseher über den Henker, dem der Brandfuchs zu gern seine Arbeit abnahm. Staubfinger schlüpfte geschwind wie eine Eidechse an ihnen vorbei, aber trotzdem drehte der eine sich mit verwirrtem Gesicht zu ihm um. Vielleicht war ihm der Geruch von Feuer in die Nase gezogen, den Staubfinger trug wie einen zweiten Mantel.



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