Kobolde gruben in der Erde,
Eiben sangen Lieder in den Bäumen:
Das waren die ganz offensichtlichen Wunder des Lesens, doch hinter ihnen lag das eigentliche Wunder, dass in Geschichten die Wörter den Dingen befehlen konnten, zu sein.
Francis Spufford, The Child That Books Built
Mit Farid hatte Meggie im Weglosen Wald oft Angst gehabt, doch mit Staubfinger war das anders. Es war, als rauschten die Bäume lauter, wenn er vorbeiging, als streckten die Büsche die Zweige nach ihm aus. Feen ließen sich auf seinem Rucksack nieder wie Falter auf einer Blüte, zupften ihn am Haar, bis er sie fortscheuchte, sprachen mit ihm. Auch andere Wesen erschienen und verschwanden, Wesen, deren Namen Meggie weder aus Resas Geschichten noch sonst woher kannte, manche nicht mehr als ein Paar Augen zwischen den Bäumen.
Staubfinger führte sie so zielstrebig, als sähe er den Weg wie ein rotes Band vor sich. Er machte nicht einmal Rast, führte sie immer nur weiter, bergauf, bergab, Stunde um Stunde tiefer in den Wald hinein. Fort von den Menschen. Als er endlich stehen blieb, zitterten Meggie die Beine vor Müdigkeit. Es musste spät am Nachmittag sein. Staubfinger strich einem Busch über die abgeknickten Zweige, bückte sich, betrachtete den feuchten Boden und hob eine Hand voll zertretener Beeren auf.
»Was ist?«, fragte Farid besorgt.
»Zu viele Füße. Und vor allem zu viele Stiefel.«
Staubfinger fluchte leise und begann schneller zu gehen. Zu viele Stiefel. Meggie begriff, was er meinte, als das Geheime Lager zwischen den Bäumen auftauchte. Sie sah niedergerissene Zelte, eine zertrampelte Feuerstelle.
»Ihr bleibt hier!«, befahl Staubfinger, und diesmal gehorchten sie. Voll Angst beobachteten sie, wie er aus dem Schutz der Bäume trat, sich umsah, Zeltbahnen hochhob, in die kalte Asche griff - und zwei Körper umdrehte, die reglos neben der Feuerstelle lagen. Meggie wollte ihm nach, als sie die Toten sah, aber Farid hielt sie fest. Als Staubfinger in einer Höhle verschwand und mit blassem Gesicht wieder herauskam, riss Meggie sich los und lief auf ihn zu.
»Wo sind meine Eltern? Sind sie dadrin?« Sie fuhr zurück, als ihr Fuß gegen einen weiteren Toten stieß.
»Nein, es ist niemand mehr da. Aber das hier habe ich gefunden.« Staubfinger hielt ihr einen Streifen Stoff hin.
Resa hatte ein Kleid mit demselben Muster. Der Stoff war blutverschmiert.
»Du erkennst es?«
Meggie nickte.
»Dann waren deine Eltern also wirklich hier. Das Blut stammt vermutlich von deinem Vater.« Staubfinger fuhr sich übers Gesicht. »Vielleicht ist jemand entkommen. Jemand, der uns erzählen kann, was hier passiert ist. Ich werd mich mal umsehen. Farid!«
Farid sprang an seine Seite. Meggie wollte sich an den beiden vorbeidrängen, aber Staubfinger hielt sie zurück. »Meggie, hör zu!«, sagte er und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Es ist gut, dass deine Eltern nicht hier sind. Vermutlich heißt das, dass sie noch leben. In der Höhle ist ein Lager, dort hat deine Mutter vermutlich deinen Vater gepflegt. Außerdem habe ich Bärenspuren entdeckt, was heißt, dass der Schwarze Prinz hier war. Vielleicht galt das alles hier ihm, obwohl ich nicht weiß, warum sie dann all die andern mitgenommen haben. ich versteh es nicht.«
Er wies Meggie an, in der Höhle zu warten, bevor er mit Farid aufbrach, um nach Überlebenden zu suchen. Der Eingang war so hoch und breit, dass ein Mann aufrecht darin stehen konnte. Die Höhle, die sich dahinter verbarg, reichte tief in den Berg hinein. Der Boden war mit Laub bestreut, Decken und Lager aus Stroh reihten sich aneinander, manche gerade groß genug für ein Kind. Es war nicht schwer zu erkennen, wo Mo gelegen hatte. Das Stroh war dort blutig, ebenso wie die Decke, die daneben lag. Eine Schüssel mit Wasser, ein Becher aus Holz, umgestoßen, und ein Strauß getrockneter Blumen. Meggie hob sie auf und strich mit den Fingern über die Blüten. Sie kniete sich hin und starrte das blutige Stroh an. Fenoglios Pergament drückte gegen ihre Brust, aber Mo war fort. Wie sollten Fenoglios Worte ihm da helfen?
Versuch es!, flüsterte es in ihr. Du weißt nicht, wie mächtig seine Worte in dieser Welt sind. Schließlich ist sie aus ihnen gemacht!
Sie hörte Schritte hinter sich. Farid und Staubfinger waren zurück. Staubfinger hielt ein Kind auf dem Arm, ein kleines Mädchen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte es Meggie an - als hätte es einen schlimmen Traum, aus dem es einfach nicht erwachen konnte.
»Mit mir wollte sie nicht sprechen, aber Farid sieht zum Glück etwas vertrauenerweckender aus«, sagte Staubfinger, während er das Kind behutsam auf die eigenen Füße stellte. »Sie hat erzählt, dass sie Lianna heißt und fünf Jahre alt ist. Und dass es viele Männer waren, Silbermänner mit Schwertern und Schlangen auf der Brust. Keine große Überraschung, würde ich sagen. Offenbar haben sie die Wachen erschlagen und ein paar, die sich wehrten, und dann den Rest mitgenommen, selbst die Frauen und Kinder. Die Verwundeten«, er warf Meggie einen kurzen Blick zu, »haben sie offenbar auf einen Karren geladen. Pferde hatten sie keine dabei. Das Mädchen ist nur noch hier, weil seine Mutter gesagt hat, es soll sich zwischen den Bäumen verstecken.«
Gwin kam in die Höhle gehuscht, gefolgt von Schleicher.
Das Mädchen zuckte zusammen, als die Marder an Staubfinger emporsprangen. Gebannt beobachtete es, wie Farid Gwin von Staubfingers Schulter hob und ihn sich selbst auf den Schoß setzte.
»Frag sie, ob noch mehr Kinder da waren«, sagte Staubfinger leise.
Farid hielt fünf Finger hoch und hielt sie der Kleinen hin. »Wie viele Kinder, Lianna?«
Das Mädchen sah ihn an, tippte erst gegen den ersten, dann gegen Farids zweiten und dritten Finger. »Meise. Fabio. Tin-ka«, flüsterte es.
»Drei also«, sagte Staubfinger. »Vermutlich nicht größer als sie.«
Lianna streckte zaghaft die Hand nach Gwins buschigem Schwanz aus, aber Staubfinger hielt ihre Finger fest. »Das lässt du besser!«, sagte er sanft. »Der beißt. Versuch es mit dem anderen.«
»Meggie?« Farid trat an ihre Seite. Aber Meggie antwortete ihm nicht. Sie schlang die Arme ganz fest um ihre Knie und presste das Gesicht in ihr Kleid. Sie wollte die Höhle nicht mehr sehen. Sie wollte gar nichts mehr sehen von Fenoglios Welt, nicht einmal Farid und Staubfinger oder das Mädchen, das ebenso wenig wusste, wo seine Eltern waren, wie sie. In Elinors Bibliothek wollte sie sitzen, in dem großen Sessel, in dem Elinor so gern las, und sehen, wie Mo seinen Kopf durch die Tür steckte und sie fragte, was das für ein Buch auf ihrem Schoß war. Aber Mo war nicht da, vielleicht war er fort für immer und Fenoglios Geschichte hielt sie alle mit schwarzen Tintenarmen fest und flüsterte ihr furchtbare Dinge zu - von bewaffneten Männern, die Kinder fortschleppten, Alte und Kranke. Mütter und Väter.
»Die Nessel wird bald mit Wolkentänzer hier sein«, hörte sie Staubfinger sagen. »Sie wird sich um das Kind kümmern.«
»Und wir?«, fragte Farid.
»Ich werde ihnen folgen«, sagte Staubfinger, »um herauszufinden, wie viele noch am Leben sind und wohin sie alle gebracht werden. Obwohl ich mir das denken kann.«
Meggie hob den Kopf. »Auf die Nachtburg.«
»Gut geraten!«
Das Mädchen streckte die Hand nach Schleicher aus. Es war noch klein genug, um seinen Kummer zu vergessen, wenn es den Pelz eines Tieres streichelte. Meggie beneidete es darum.
»Was heißt das, du folgst ihnen?« Farid scheuchte Gwin von seinem Schoß und stand auf.
»Genau das.« Staubfingers Gesicht wurde abweisend wie eine geschlossene Tür. »Ich folge ihnen, während ihr hier auf Wolkentänzer und die Nessel wartet. Erzählt ihnen, dass ich versuche, den Spuren zu folgen, und dass Wolkentänzer euch nach Ombra zurückbringen soll. Er ist mit seinem steifen Bein ohnehin nicht schnell genug, um mir nachzukommen. Dann erzählt ihr Roxane, was passiert ist, damit sie nicht denkt, ich hätte mich schon wieder davongemacht, und Meggie wird bei Fenoglio bleiben.« Sein Gesicht war beherrscht wie immer, als er sie ansah, doch in seinen Augen sah Meggie all das, was auch sie empfand: Angst, Sorge, Wut. hilflose Wut.
»Aber wir müssen ihnen helfen!« Farids Stimme bebte.
»Wie? Vielleicht hätte der Prinz sie retten können, doch den haben sie nun ja offenbar gefangen, und ich wüsste niemanden sonst, der seinen Kopf für ein paar Spielleute riskiert.«
»Was ist mit dem Räuber, von dem alle reden, dem Eichelhäher?«
»Den gibt es nicht.« Meggies Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Fenoglio hat ihn erfunden.«
»Tatsächlich?« Staubfinger sah sie nachdenklich an. »Da hört man anderes, aber na gut. Sobald ihr in Ombra seid, soll Wolkentänzer zu den Spielleuten gehen und ihnen sagen, was geschehen ist. Ich weiß, dass der Schwarze Prinz seine Männer hat, Männer, die ihm treu ergeben sind und wohl auch gut bewaffnet, aber ich habe keine Ahnung, wo sie stecken. Vielleicht weiß einer der Spielleute es. Oder Wolkentänzer selbst.
Er soll ihnen irgendwie Bescheid geben lassen. Auf der anderen Seite des Waldes gibt es eine Mühle, die Mäuse-Mühle nennt man sie, keiner weiß, warum, aber sie war schon immer einer der wenigen Orte südlich des Waldes, an dem man sich treffen oder Nachrichten austauschen konnte, ohne dass der Natternkopf gleich davon erfuhr. Der Müller ist so reich, dass er nicht einmal die Gepanzerten fürchtet. Wer mich also treffen will oder irgendeine Idee hat, wie wir den Gefangenen helfen können, soll Nachricht dorthin schicken. Ich werd ab und zu nachfragen. Verstanden?«
Meggie nickte. »Die Mäuse-Mühle!«, wiederholte sie leise - und konnte nur das blutige Stroh anstarren.
»Gut, Meggie kann das alles erledigen, aber ich geh mit dir.« Farids Stimme klang so trotzig, dass das Mädchen, das immer noch stumm neben Meggie kniete, beunruhigt nach ihrer Hand griff.
»Ich warne dich: Fang jetzt nicht wieder damit an, dass du auf mich aufpassen musst!« Staubfingers Stimme klang so scharf, dass Farid den Blick senkte. »Ich geh allein, und dabei bleibt es. Du passt auf Meggie und das Kind auf, bis die Nessel kommt. Und dann lasst ihr euch von Wolkentänzer nach Ombra bringen.«
»Nein!«
Meggie sah die Tränen in Farids Augen, aber Staubfinger ging nur wortlos auf den Höhleneingang zu. Gwin huschte ihm voran.
»Wenn es dunkel wird, bevor sie kommen«, sagte er noch über die Schulter zu Farid, »dann mach Feuer. Nicht wegen der Soldaten. Aber Wölfe und Nachtalben sind immer hungrig, die einen auf euer Fleisch, die anderen auf eure Angst.«
Dann war er fort, und Farid stand da mit tränenverschleiertem Blick. »Verdammter Mistkerl!«, flüsterte er. »Dreimal verfluchter Hurensohn, aber er wird schon sehen. Ich schleich ihm nach. Ich pass auf ihn auf! Ich hab’s geschworen.« Abrupt kniete er sich vor Meggie hin und griff nach ihrer Hand. »Du gehst nach Ombra, ja? Bitte. Ich muss ihm nach, das verstehst du doch!«
Meggie sagte nichts. Was sollte sie auch sagen? Dass sie ebenso wenig zurückgehen würde wie er? Er hätte nur versucht, es ihr auszureden. Schleicher strich um Farids Beine, dann huschte er nach draußen. Das Mädchen lief dem Marder nach, aber im Höhleneingang blieb es stehen, eine kleine verlorene Gestalt, ganz allein. Wie ich, dachte Meggie.
Ohne Farid anzusehen, zog sie Fenoglios Pergament aus dem Gürtel. Die Buchstaben waren kaum zu erkennen in dem Dämmerlicht, das in der Höhle herrschte.
»Was ist das?« Farid richtete sich auf.
»Worte. Nichts als Worte, aber besser als nichts.«
»Warte! Ich mach dir Licht.« Farid rieb seine Fingerspitzen aneinander und flüsterte etwas, bis eine winzige Flamme auf seinem Daumennagel erschien. Sacht blies er in das Flämm-chen, bis es sich streckte wie eine Kerzenflamme, und hielt seinen Daumen über das Pergament. Das flackernde Licht ließ die Buchstaben leuchten, als hätte Rosenquarz sie mit frischer Tinte nachgezogen.
Nutzlos!, flüsterte es in Meggie. Sie werden nutzlos sein! Mo ist fort, weit fort, vermutlich lebt er nicht mal mehr. Sei still!, fuhr Meggie die Stimme in ihrem Inneren an. Ich will nichts hören. Es gibt nichts, was ich sonst tun kann, gar nichts! Sie griff nach der blutverschmierten Decke, legte das Pergament darauf - und fuhr sich mit den Fingern über die Lippen. Vor der Höhle stand immer noch das Mädchen, darauf wartend, dass seine Mutter zurückkam.
»Lies, Meggie!« Farid nickte ihr aufmunternd zu.
Und sie las, die Finger in die Decke mit Mos getrocknetem Blut gekrallt. »Mortimer fühlte den Schmerz...« Sie glaubte ihn selbst zu spüren, in jedem Buchstaben auf ihrer Zunge, in jedem Wort, das ihr über die Lippen kam. »Die Wunde brannte. Sie brannte wie der Hass in Mortolas Augen, als sie auf ihn geschossen hatte. Vielleicht war ihr Hass es, der das Leben aus ihm heraussaugte, der ihn schwächer und schwächer werden ließ. Er spürte sein eigenes Blut feucht und warm auf der Haut. Er spürte, wie der Tod nach ihm griff. Doch mit einem Mal war da noch etwas anderes:
Worte. Worte, die den Schmerz linderten, ihm die Stirn kühlten und von Liebe sprachen, von nichts als Liebe. Sie machten das Atmen wieder leichter und ließen heilen, was den Tod hereingelassen hatte. Er spürte ihren Klang auf der Haut und tief im Herzen. Immer lauter und deutlicher drangen sie durch die Dunkelheit, die ihn zu verschlingen drohte, und plötzlich erkannte er die Stimme, die die Worte sprach: Es war die Stimme seiner Tochter- und die Weißen Frauen zogen die bleichen Hände zurück, als hätten sie sich verbrannt an ihrer Liebe.«
Meggie presste die Finger vors Gesicht. Das Pergament rollte sich auf ihrem Schoß zusammen, als hätte es seine Schuldigkeit getan. Stroh stach ihr durchs Kleid, wie damals, in dem Verschlag, in den Capricorn sie und Mo hatte sperren lassen. Sie spürte, wie ihr jemand übers Haar strich, und für einen Augenblick, einen verrückten Augenblick dachte sie, Fenoglios Worte hätten Mo zurückgebracht, zurück in die Höhle, gesund und unverletzt, und alles wäre wieder gut. Doch als sie den Kopf hob, war es nur Farid, der neben ihr stand.
»Das war wunderschön«, sagte er. »Bestimmt hat es geholfen. Du wirst sehen.«
Doch Meggie schüttelte den Kopf. »Nein!«, flüsterte sie. »Nein. Das waren nur wunderschöne Worte, aber mein Vater ist nicht aus Fenoglios Wörtern gemacht, sondern aus Fleisch und Blut.«
»Und? Was heißt das schon?« Farid zog ihr die Hände vom verweinten Gesicht. »Vielleicht ist ja alles aus Worten. Sieh mich doch an. Kneif mich. Bin ich etwa aus Papier?«
Nein, das war er nicht. Und Meggie musste lächeln, als er sie küsste, obwohl sie immer noch weinte.
Staubfinger war noch nicht lange fort, als sie Schritte zwischen den Bäumen hörten. Farid hatte Feuer gemacht, wie Staubfinger es ihm geraten hatte, und Meggie saß dicht an seiner Seite, den Kopf des kleinen Mädchens auf ihrem Schoß.
Die Nessel sagte kein Wort, als sie aus der Dunkelheit auftauchte und das zerstörte Lager sah. Schweigend ging sie von einem Toten zum anderen, suchte nach Leben, wo keins mehr war, während der Wolkentänzer mit starrem Gesicht dem lauschte, was Staubfinger ihm ausrichten ließ. Farid begriff wohl erst, dass Meggie ebenso wenig wie er vorhatte, nach Ombra zurückzukehren, als sie Wolkentänzer bat, nicht nur Roxane und den Spielleuten, sondern auch Fenoglio eine Nachricht zu überbringen. Seinem ausdruckslosen Gesicht war nicht anzusehen, ob er sich über ihren Entschluss ärgerte oder freute.
»Die Nachricht für Fenoglio hab ich aufgeschrieben!« Meggie hatte dafür schweren Herzens eine Seite aus dem Notizbuch getrennt, das Mo ihr geschenkt hatte. Andererseits, wozu sollte sie es besser verwenden als dazu, ihn zu retten. Wenn sie ihn noch retten konnte. »Du findest Fenoglio in der Schustergasse, in Minervas Haus. Und es ist sehr wichtig, dass nur er die Nachricht liest.«
»Ich kenne den Tintenweber!« Wolkentänzer beobachtete, wie die Nessel einem weiteren Toten den zerlumpten Mantel übers Gesicht zog. Dann starrte er mit gerunzelter Stirn auf das beschriebene Blatt Papier. »Es gab schon Boten, die für die Buchstaben, die sie herumtrugen, aufgehängt wurden. Ich hoffe, die hier sind nicht von der Sorte? Sag es mir nicht!«, wehrte er ab, als Meggie antworten wollte. »Eigentlich lass ich mir die Worte immer sagen, die ich überbringe, doch bei denen hier hab ich das Gefühl, dass ich sie besser nicht kenne.«
»Was soll sie schon geschrieben haben?«, sagte die Nessel bitter. »Vermutlich hat sie sich bei dem Alten dafür bedankt, dass seine Lieder ihren Vater an den Galgen bringen werden! Oder soll er sein Totenlied schreiben, das letzte Lied des Eichelhähers? Ich habe das Unglück gerochen in dem Moment, in dem ich die Narbe an seinem Arm sah. Hab immer gedacht, der Eichelhäher wäre ein Hirngespinst wie all die edlen Prinzen und Prinzessinnen, von denen die Lieder sonst so handeln. Na, da hast du dich wohl geirrt, Nessel!, sagte ich mir, und du bist sicher nicht die Erste, die die Narbe bemerkt. Aber der Tintenweber musste sie ja ganz genau beschreiben. Verflucht sei der alte Dummkopf mitsamt seinen einfältigen Liedern! Es sind schon einige aufgehängt worden, weil sie für den Eichelhäher gehalten wurden, aber nun hat der Natternkopf wohl den Richtigen gefangen, und das Heldenspiel hat ein Ende. Die Schwachen beschützen, die Starken berauben. ja, prächtig hört sich das an, aber Helden sind nur in Liedern unsterblich, und auch dein Vater wird nur zu bald begreifen, dass eine Maske nicht vor dem Tod schützt.«
Meggie saß nur da und starrte die alte Frau an. Wovon redete sie?
»Was guckst du mich so entgeistert an?«, fuhr die Nessel sie an. »Glaubst du, der Natternkopf hat seine Männer ein paar alter Spielmänner und schwangerer Frauen wegen hergeschickt oder wegen des Schwarzen Prinzen? Unsinn. Der hat sich noch nie vor der Natter versteckt. Nein. Jemand hat sich auf die Nachtburg geschlichen und dem Natternkopf ins Ohr gezwitschert, dass der Eichelhäher verwundet im Geheimen Lager der Spielleute liegt und man ihn nur einsammeln muss, mitsamt den armen Gauklern, die ihn versteckt haben. Das hat jemand getan, der das Lager kennt und bestimmt mit gutem Silber für seinen Verrat bezahlt worden ist. Der Natternkopf wird ein großes Spektakel aus der Hinrichtung machen, der Tintenweber wird ein rührendes Lied darüber schreiben, und vielleicht wird sich schon bald ein anderer die Federmaske aufsetzen, denn die Lieder werden sie weitersingen, auch wenn dein Vater längst tot und hinter der Nachtburg verscharrt ist.«
Meggie hörte, wie ihr das eigene Blut durch den Kopf rauschte. »Von was für einer Narbe redest du?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Na, von der Narbe an seinem linken Arm, du wirst sie wohl kennen! In den Liedern heißt es, die Hunde des Natternkopfes hätten den Eichelhäher dort gebissen, als er seine weißen Hirsche jagte.«
Fenoglio. Was hatte er getan?
Meggie presste sich die Hand auf den Mund. Sie hörte Fenoglios Stimme, auf der Wendeltreppe zu Balbulus’ Werkstatt. Du musst wissen, ich nehme mir gern echte Menschen als Vorbild für meine Figuren. Nicht jeder Schriftsteller tut das, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sie einfach lebendiger macht. Gesichtsausdrücke, Gesten, eine Körperhaltung, die Stimme, vielleicht ein Muttermal oder eine Narbe -ich stehle hier, ich stehle dort, und schon beginnen sie zu atmen, bis jeder, der von ihnen hört oder liest, glaubt, sie anfassen zu können! Für den Eichelhäher kamen nicht viele in Frage.
Mo. Fenoglio hatte ihren Vater zum Vorbild genommen. Meggie starrte auf das schlafende Mädchen. So hatte sie auch oft geschlafen, den Kopf in Mos Schoß.
»Meggies Vater der Eichelhäher?« Neben ihr stieß Farid ein ungläubiges Lachen aus. »So ein Unsinn. Zauberzunge bringt es nicht mal übers Herz, ein Kaninchen zu töten. Verlass dich drauf, Meggie, das wird auch der Natternkopf bald merken und dann wird er ihn laufen lassen. Komm jetzt!« Er kam auf die Füße und streckte ihr die Hand hin. »Wir müssen los, sonst holen wir Staubfinger niemals ein!«
»Ihr wollt ihm jetzt nach?« Die Nessel schüttelte den Kopf über so viel Unvernunft, während Meggie den Kopf des Mädchens ins Gras bettete.
»Haltet euch nach Süden, falls ihr seine Spur in der Dunkelheit nicht findet«, sagte Wolkentänzer. »Immer nach Süden, dann müsst ihr irgendwann auf die Straße stoßen. Aber hütet euch vor den Wölfen, es gibt viele in dieser Gegend.«
Farid nickte nur. »Ich hab das Feuer dabei!«, sagte er und ließ einen Funken auf seiner Handfläche tanzen.
Wolkentänzer grinste. »Alle Achtung! Vielleicht bist du ja wirklich Staubfingers Sohn, wie Roxane vermutet?«
»Wer weiß?«, antwortete Farid nur - und zog Meggie mit sich.
Wie betäubt folgte sie ihm unter die dunklen Bäume. Einen Räuber! Sie konnte nichts anderes mehr denken. Er hat aus Mo einen Räuber gemacht, einen Teil seiner Geschichte! In diesem Moment hasste sie Fenoglio ebenso sehr, wie Staubfinger es tat.