»Danke«, sagte Lucy, öffnete die Schachtel und nahm ein Streichholz heraus. »Alle aufpassen!«, rief sie. Laut schallte ihre Stimme. »AUFGEPASST! AUF NIMMERWIEDERSEHEN, SCHLECHTE ERINNERUNGEN!«
Philip Ridley, Dakota Pink
Zwei ganze Tage brauchte Staubfinger, um den Weglosen Wald hinter sich zu lassen. Er stieß nur auf wenige Menschen, ein paar Köhler, schwarz von Ruß, einen zerlumpten Wilderer, zwei Kaninchen über der Schulter und den Hunger aufs Gesicht geschrieben, und eine Schar fürstlicher Jagdaufseher, bis an die Zähne bewaffnet, die vermutlich nach irgendeinem armen Teufel suchten, der für seine Kinder ein Reh geschossen hatte. Keiner von ihnen bekam Staubfinger zu Gesicht. Er wusste, wie man sich unsichtbar machte, und erst in der zweiten Nacht, als er in den nahen Hügeln ein Rudel Wölfe heulen hörte, riskierte er es, das Feuer zu rufen. Das Feuer. So anders in dieser Welt als in der anderen. Wie gut es tun würde, endlich wieder seine knisternde Stimme zu hören. Und ihm antworten zu können. Staubfinger sammelte etwas von dem trockenen Holz, das, überwuchert von Wachsblumen und Thymian, überall zwischen den Bäumen lag, wickelte den Honig, den er den Elfen gestohlen hatte, aus den Blättern, die ihn feucht und geschmeidig hielten, und schob sich ein winziges Klümpchen in den Mund. Welche Angst er gehabt hatte, als er den Honig zum ersten Mal gekostet hatte! Angst, seine kostbare Beute würde ihm die Zunge verbrennen, so dauerhaft, dass er seine Stimme verlieren würde. Aber seine Sorge war umsonst gewesen. Der Honig brannte auf der Zunge wie glühende Kohle, doch der Schmerz verging, und wenn man ihn lang genug ertrug, konnte man danach mit dem Feuer sprechen, auch wenn man nur eine Menschenzunge hatte. Fünf, sechs Monate, manchmal fast ein Jahr, so lange wirkte ein winziges Bröck-chen. Nur ein leises Flüstern in der Sprache der Flammen, ein Schnippen der Finger und die Funken brachen knisternd hervor aus trockenem und feuchtem Holz, ja selbst aus Stein.
Zunächst leckte das Feuer zögernder als früher aus den Ästen - als hätte es den Klang seiner Stimme vergessen, als könnte es nicht recht glauben, dass er zurück war. Doch dann begann es zu flüstern und ihn willkommen zu heißen, immer ausgelassener, bis er die wild hervorzüngelnden Flammen zügeln musste, ihr Knistern nachahmend, bis das Feuer sich duckte wie eine wilde Katze, die sich schnurrend niederkauerte, wenn man ihr nur behutsam genug übers Fell strich.
Während das Feuer das Holz fraß und sein Schein die Wölfe fern hielt, musste Staubfinger erneut an den Jungen denken. Er konnte die Nächte nicht zählen, in denen er Farid hatte beschreiben müssen, wie das Feuer sprach, ihm, der nur stumme und recht mürrische Flammen kannte. »Nun sieh einer an!«, murmelte er, während er sich die Finger an der schläfrigen Glut wärmte. »Du vermisst ihn ja immer noch!« Und war froh, dass wenigstens der Marder noch bei dem Jungen war und ihm beistand gegen die Geister, die er überall sah.
Ja, Staubfinger vermisste Farid. Aber es gab andere, die er zehn Jahre lang vermisst hatte, so sehr, dass sein Herz immer noch wund war von all der Sehnsucht. Ihretwegen wurde sein Schritt immer ungeduldiger, mit jeder Stunde, die er sich dem Rand des Waldes näherte und dem, was dahinter wartete - der Menschenwelt. Ja, nicht nur die Sehnsucht nach Feen, Glasleuten und Nixen hatte ihn in der anderen Welt gequält. Es gab auch einige Menschen, die er vermisst hatte, nicht viele, aber die wenigen umso mehr.
Wie sehr er versucht hatte, sie zu vergessen, seit er halb verhungert vor Zauberzunges Tür gestanden und der ihm erklärt hatte, dass es kein Zurück für ihn geben würde. Ja, damals hatte er begriffen, dass er wählen musste. Vergiss sie, Staubfinger! Wie oft hatte er sich das gesagt. Oder es wird dich verrückt machen, dass du sie alle verloren hast. Aber sein Herz hatte einfach nicht gehorcht. Erinnerungen, so süß und so bitter. sie hatten ihn aufgefressen in all den Jahren und ernährt zugleich. Bis sie irgendwann begonnen hatten zu verblassen, undeutlich wurden, verschwammen, nichts als ein Schmerz, den man rasch fortschob, weil er einem das Herz zerschnitt. Denn was half es, sich an etwas zu erinnern, das verloren war?
Besser, du erinnerst dich auch jetzt nicht!, sagte Staubfinger sich, während die Bäume um ihn her jünger wurden und das Blätterdach über ihm immer lichter. Zehn Jahre sind eine lange Zeit, da kann so mancher verloren gehen. Immer öfter tauchten Köhlerhütten zwischen den Bäumen auf, aber Staubfinger ließ sich nicht sehen bei den Schwarzen Männern. Die Menschen außerhalb des Waldes sprachen abfällig von ihnen, weil die Köhler tiefer im Wald lebten, als die meisten sich je hineintrauten. Handwerker, Bauern, Händler und Fürsten, sie alle brauchten die Holzkohle, aber sie sahen die, die sie für sie brannten, nicht gern in ihren Städten und Dörfern. Staubfinger gefielen die Köhler, sie wussten fast ebenso viel über den Wald wie er, auch wenn sie sich jeden Tag aufs Neue die Bäume zu Feinden machten. Oft genug hatte er mit an ihren Feuern gesessen und ihren Geschichten gelauscht, doch nach all den Jahren wollte er andere Geschichten hören, Geschichten über das, was außerhalb des Waldes passiert war, und solche hörte man nur an einem Ort: in einem der Gasthäuser, die entlang der Straße standen.
Staubfinger hatte ein ganz bestimmtes zum Ziel. Es lag am Nordrand des Waldes, gleich dort, wo die Straße zwischen den Bäumen auftauchte und begann, sich die Hügel hinaufzuwinden, vorbei an ein paar einsam gelegenen Höfen, bis sie das Stadttor von Ombra erreichte, des Ortes, auf dessen Dächer die Burg des Speckfürsten ihren Schatten warf.
Die Gasthäuser, die außerhalb von Orten am Straßenrand lagen, waren immer schon ein Treffpunkt der Spielleute gewesen. Dort ließen sie sich anheuern von reichen Händlern, Kaufleuten und Handwerkern, für Hochzeiten und Begräbnisse, für Feste, die die sichere Rückkehr eines Reisenden oder die Geburt eines Kindes feierten. Gegen ein paar Münzen lieferten die Spielleute Musik, derbe Späße und Kunststücke, Ablenkung von großem und kleinem Kummer, und wenn Staubfinger erfahren wollte, was sich in all den Jahren getan hatte, in denen er fort gewesen war, dann fragte er am besten das Bunte Volk. Die Spielleute waren die Zeitung dieser Welt. Niemand wusste besser, was in ihr vorging, als die, die nirgends heimisch waren.
Wer weiß?, dachte Staubfinger, während er die letzten Bäume hinter sich ließ. Wenn ich Glück habe, treffe ich vielleicht sogar alte Bekannte.
Die Straße war schlammig und bedeckt mit Pfützen. Wagenräder hatten tiefe Spuren hineingegraben, und die Hufabdrücke von Stieren und Pferden waren mit Regenwasser gefüllt. Um diese Jahreszeit regnete es manchmal tagelang, so wie gestern, als er froh gewesen war, unter den Bäumen zu sein, wo die Blätter den Regen auffingen, bevor er ihn bis auf die Haut durchnässte. Die Nacht war kalt gewesen, seine Kleider waren klamm, trotz des Feuers, neben dem er geschlafen hatte, und es war gut, dass der Himmel heute klar war bis auf ein paar Wolkenfetzen, die über den Hügeln trieben.
Zum Glück hatte er in seinen alten Kleidern noch ein paar Münzen gefunden. Für einige Teller Suppe würden sie hoffentlich reichen. Staubfinger hatte nichts mitgebracht aus der anderen Welt. Was hätte er hier anfangen sollen mit dem bedruckten Papier, mit dem man dort bezahlte - hier, wo nur Gold, Silber und klingendes Kupfer zählten, wenn möglich mit dem Kopf des passenden Fürsten darauf? Sobald die Münzen aufgebraucht waren, würde er sich wohl einen Marktplatz suchen müssen, in Ombra oder sonst wo.
Das Gasthaus, das sein Ziel war, hatte sich nicht sonderlich verändert in den letzten Jahren, weder zum Guten noch zum Schlechten. Es war immer noch genauso schäbig mit seinen wenigen Fenstern, die kaum mehr als Löcher in den grauen Steinmauern waren. In der Welt, die ihn bis vor drei Tagen beherbergt hatte, wäre vermutlich kein Gast je über eine so schmutzige Schwelle getreten, aber hier war das Gasthaus der letzte Unterschlupf vor dem Wald, die letzte Chance auf ein warmes Essen und einen Platz zum Schlafen, der nicht feucht war vom Tau oder vom Regen. Und ein paar Läuse und Wanzen bekommt man als neue Weggefährten gratis dazu!, dachte Staubfinger, während er die Tür aufstieß.
In dem Raum dahinter war es so dunkel, dass er seine Augen erst an das Zwielicht gewöhnen musste. Die andere Welt hatte sie ihm verdorben, mit all ihrem Licht und dem Geflimmer, das dort selbst die Nacht zum Tag machte. Sie hatte seine Augen daran gewöhnt, dass alles klar erkennbar, dass Licht etwas Ein- und Ausschaltbares war, beliebig verfügbar. Doch nun mussten sie wieder zurechtkommen in einer Welt des Zwielichts und der Schatten, der langen Nächte, schwarz wie verkohltes Holz, in Häusern, in denen man die Sonne aussperrte, weil sie oft allzu heiß hineinschien.
Das Einzige, was im Inneren des Gasthauses Licht spendete, waren die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Fensterlöcher fielen. Der Staub tanzte darin wie ein Schwarm winziger Feen. Im Kamin brannte ein Feuer unter einem zerbeulten schwarzen Kessel. Der Geruch, der daraus emporstieg, war selbst für Staubfingers leeren Magen nicht sonderlich verlockend, doch das überraschte ihn nicht. In diesem Gasthaus hatte es noch nie einen Wirt gegeben, der sich aufs Kochen verstand. Ein Mädchen, kaum älter als zehn Jahre, stand neben dem Kessel und rührte mit einem Stock um, was immer da kochte. Vielleicht dreißig Gäste hockten auf den grob getischlerten Bänken im Dunkeln, rauchend, murmelnd, trinkend.
Staubfinger schlenderte zu einem leeren Platz und setzte sich. Unauffällig sah er sich um, nach einem Gesicht, das ihm bekannt vorkam, nach einem Paar bunter Hosen, wie sie nur Spielleute trugen. Ein Lautenspieler saß gleich beim Fenster, er verhandelte mit einem Mann, der sehr viel besser gekleidet war als er, vermutlich ein reicher Kaufmann. Natürlich, kein armer Bauer konnte sich leisten, einen Gaukler anzuwerben. Wenn ein Bauer Musik auf seiner Hochzeit wollte, musste er schon selbst zur Fiedel greifen. Selbst die zwei Pfeifer, die am Fenster saßen, hätte er nicht bezahlen können. Am Tisch neben ihnen stritt sich lautstark eine Gruppe Schauspieler, vermutlich um die beste Rolle in einem neuen Stück. Der eine trug noch die Maske, hinter der er sich auf den Marktplätzen verbarg. Fremd wie ein Kobold saß er zwischen den anderen, aber ob mit oder ohne Maske - sie waren alle Fremde, ob sie sangen oder tanzten, derbe Geschichten auf einer hölzernen Bühne spielten oder Feuer spuckten. Dasselbe galt für die, die mit ihnen zogen - reisende Bader, Knochenflicker, Steinschneider, Wunderheiler, denen die Gaukler die Kundschaft herbeilockten.
Alte Gesichter, junge Gesichter, glückliche und unglückliche, es fand sich von allem etwas in dem rauchverhangenen Raum, aber keines kam Staubfinger bekannt vor. Auch er wurde gemustert, er spürte es, aber das war er gewohnt. Sein narbiges Gesicht zog überall Blicke auf sich, und die Kleider, die er trug, taten ein Übriges - die Tracht der Feuerspucker, schwarz wie Ruß, rot wie die Flammen, die andere fürchteten und mit denen er spielte. Für einen Moment fühlte er sich seltsam fremd in all dem einst vertrauten Treiben, als klebte die andere Welt noch deutlich sichtbar an ihm, all die Jahre, die endlos langen Jahre, die vergangen waren, seit Zauberzunge ihn aus seiner Geschichte gepflückt und ihm sein Leben gestohlen hatte, unabsichtlich, so wie man einer Schnecke im Vorübergehen das Haus zertrat.
»Sieh mich mal an!«
Eine Hand legte sich ihm schwer auf die Schulter, und ein Mann beugte sich über ihn und starrte ihm ins Gesicht. Sein Haar war grau, das Gesicht rund und bartlos, und er stand so unsicher auf den Beinen, dass Staubfinger für einen Augenblick dachte, der andere sei betrunken. »Na, wenn ich das Gesicht nicht kenne!«, stieß er nun ungläubig hervor, während er ihn so fest an der Schulter packte, als wollte er prüfen, ob Staubfinger auch wirklich aus Fleisch und Blut war. »Wo kommst du denn her, alter Feuerfresser, geradewegs aus dem Reich der Toten? Was ist passiert, haben die Feen dich wieder zum Leben erweckt? Sie waren ja schon immer ganz vernarrt in dich, die kleinen blauen Teufel.«
Ein paar Männer drehten sich zu ihnen um, aber der Lärm in dem stickigen dunklen Raum war so groß, dass nicht viele beachteten, was um sie her vorging.
»Wolkentänzer!« Staubfinger richtete sich auf und umarmte den anderen. »Wie geht es dir?«
»Ah! Dachte schon, du hast mich vergessen!« Wolkentänzer grinste breit und entblößte große gelbe Zähne.
O nein, Staubfinger hatte ihn nicht vergessen - auch wenn er es versucht hatte, wie mit den anderen, die er vermisst hatte. Wolkentänzer - der beste Seiltänzer, der je zwischen den Dächern herumspaziert war. Staubfinger hatte ihn sofort erkannt, trotz des grau gewordenen Haars und des linken Beins, das er so seltsam steif zur Seite spreizte.
»Komm mit. Das müssen wir feiern. Man trifft nicht jeden Tag einen toten Freund wieder.« Ungeduldig zog er Staubfinger mit sich, zu einer Bank unter einem der Fenster, auf die von draußen etwas Sonnenlicht fiel. Dann winkte er dem Mädchen, das immer noch in dem Kessel rührte, und bestellte zwei Becher Wein bei ihr. Das kleine Ding starrte einen Moment lang fasziniert auf Staubfingers Narben, dann huschte es davon, zum Tresen, hinter dem ein fetter Mann stand und mit trübem Blick seine Gäste beobachtete.
»Du siehst gut aus!«, stellte Wolkentänzer fest. »Gut genährt, kein graues Haar, kaum ein Loch in den Kleidern. Selbst deine Zähne scheinst du alle noch zu haben. Wo bist du gewesen? Vielleicht sollte ich mich auch auf den Weg dorthin machen, es scheint sich dort gut leben zu lassen.«
»Vergiss es. Hier ist es besser.« Staubfinger strich sich das Haar aus der Stirn und sah sich um. »Genug von mir. Wie ist es dir ergangen? Du kannst dir Wein leisten, aber dein Haar ist grau, und dein linkes Bein.«
»Ja, das Bein.«
Das Mädchen brachte den Wein. Während Wolkentänzer in seinem Beutel nach der passenden Münze suchte, starrte es Staubfinger erneut so neugierig an, dass er die Fingerspitzen aneinander rieb und ein paar Feuerworte wisperte. Er streckte den Zeigefinger, lächelte ihr zu und blies sacht über die Fingerkuppe. Eine winzige Flamme, zu schwach, um damit ein Feuer zu zünden, doch gerade leuchtend genug, um sich in den Augen des Mädchens zu spiegeln, züngelte auf seinem Nagel und spuckte Goldfunken auf den schmutzigen Tisch. Das Kind stand da wie verzaubert, bis Staubfinger die Flamme ausblies und seinen Finger in den Becher Wein tunkte, den Wolkentänzer ihm hinschob.
»Aha, du spielst also immer noch gern mit dem Feuer«, sagte Wolkentänzer, während das Mädchen dem fetten Wirt einen besorgten Blick zuwarf und hastig zu dem Kessel zurückkehrte. »Nun, mit meinen Spielen ist es leider schon lange vorbei.«
»Was ist passiert?«
»Bin vom Seil gefallen, bin kein Wolkentänzer mehr. Ein Händler, dem ich wohl die Kundschaft zu sehr ablenkte, hat einen Kohlkopf nach mir geworfen. Kann noch froh sein, dass ich auf dem Stand eines Tuchhändlers landete. So hab ich mir nur das Bein und ein paar Rippen, aber nicht den Hals gebrochen.«
Staubfinger sah ihn nachdenklich an. »Wovon lebst du, seit du nicht mehr auf dein Seil kannst?«
Wolkentänzer zuckte die Schultern. »Du glaubst es vielleicht nicht, aber ich bin immer noch recht gut zu Fuß. Sogar reiten kann ich mit dem Bein - wenn sich gerade ein Pferd findet. Ich verdien mir mein Brot als Bote, auch wenn ich immer noch gern bei den Spielleuten hocke, mir ihre Geschichten anhör und mit ihnen am Feuer sitze. Aber ernähren tun mich nun die Buchstaben, obwohl ich immer noch nicht lesen kann. Drohbriefe, Bettelbriefe, Liebesbriefe, Kaufverträge, Testamente, ich überbring alles, was auf ein Stück Pergament oder Papier passt. Auch gesprochene Worte, vertraulich in mein Ohr geraunt, trag ich zuverlässig von Ort zu Ort. Ich leb nicht schlecht davon, auch wenn ich wahrlich nicht der schnellste Bote bin, den man für Geld bekommen kann. Doch bei mir weiß jeder, dass der Brief, den ich überbringe, auch wirklich nur bei dem landet, für den er bestimmt ist. So was ist schwer zu finden.«
Das glaubte Staubfinger gern. Für ein paar Goldstücke kann man selbst Fürstenpost lesen. So hatte es schon zu seiner Zeit geheißen. Man musste nur jemanden kennen, der sich aufs Fälschen gebrochener Siegel verstand. »Und die anderen?« Staubfinger musterte die Pfeifer beim Fenster. »Was treiben die so?«
Wolkentänzer nahm einen Schluck Wein und verzog das Gesicht. »Pfui Teufel. Ich hätte Honig dazu verlangen sollen. Die anderen, tja - « Er rieb sich das steife Bein. »Einige sind tot, andere einfach verschwunden, so wie du. Dahinten, gleich hinter dem Bauern, der so trübsinnig in seinen Becher starrt«, er wies mit dem Kopf zum Tresen, »lehnt unser alter Freund, der Rußvogel, das Lachen aufs Gesicht tätowiert und der schlechteste Feuerspucker weit und breit, obwohl er immer noch eifrig versucht, dich zu kopieren, und verzweifelt nach dem Grund sucht, warum das Feuer für dich lieber tanzt als für ihn.«
»Er wird es nie herausfinden.« Staubfinger sah unauffällig zu dem anderen Feuerspucker hinüber. Soweit er sich erinnerte, konnte der Rußvogel recht anständig mit brennenden Fackeln jonglieren, aber das Feuer tanzte nicht mit ihm. Er war wie ein hoffnungslos Liebender, den das Mädchen seiner Wahl immer wieder verschmähte. Vor langer Zeit hatte Staubfinger ihm etwas Feuerhonig überlassen, weil er ihm Leid getan hatte in seinem hilflosen Bemühen, doch selbst damit hatte der Rußvogel nicht verstanden, was die Flammen ihm sagten.
»Angeblich arbeitet er inzwischen mit den Pülverchen der Alchemisten«, raunte Wolkentänzer über den Tisch, »ein teurer Spaß, wenn du mich fragst. Das Feuer beißt ihn so oft, dass seine Hände und Arme schon ganz rot sind. Nur an sein Gesicht lässt er es nicht heran. Bevor er auftritt, schmiert er es ein, bis es glänzt wie eine Speckschwarte.«
»Trinkt er immer noch nach jeder Vorstellung?«
»Nach der Vorstellung, vor der Vorstellung, aber er ist trotzdem immer noch ein hübscher Kerl, oder?«
Ja, das war er, mit seinem freundlichen, immer lachenden Gesicht. Der Rußvogel war einer der Gaukler, die von den Blicken anderer lebten, von Gelächter und Beifall und davon, dass man stehen blieb, um sie anzustarren. Auch jetzt unterhielt er alle, die mit ihm am Tresen lehnten. Staubfinger kehrte ihm den Rücken zu, er wollte die alte Bewunderung und den Neid in den Augen des anderen nicht sehen. Der Rußvogel gehörte nicht zu denen, die er vermisst hatte.
»Glaub nicht, die Zeiten seien leichter geworden für das Bunte Volk«, raunte der Wolkentänzer über den Tisch. »Seit Cosimos Tod lässt der Speckfürst unsereins nur noch an Festtagen auf die Märkte und auf die Burg höchstens, wenn sein Enkel lautstark nach Gauklern verlangt. Kein sehr nettes Kerlchen, kommandiert schon jetzt die Diener herum und droht ihnen mit Peitsche und Pranger, aber er liebt das Bunte Volk.«
»Cosimo der Schöne ist tot?« Staubfinger verschluckte sich fast an dem sauren Wein.
»Ja.« Wolkentänzer beugte sich über den Tisch, als sei es nicht anständig, über Tod und Unglück allzu laut zu sprechen. »Er zog vor kaum einem Jahr aus, schön wie ein Engel, um seinen fürstlichen Mut zu beweisen und die Brandstifter auszumerzen, die damals im Wald hausten. Du erinnerst dich vielleicht noch an ihren Anführer, Capricorn?«
Staubfinger musste lächeln. »O ja, an den erinnre ich mich«, sagte er leise.
»Er verschwand etwa zur selben Zeit wie du, aber die Ban-de machte munter weiter. Der Brandfuchs wurde ihr neuer Anführer. Kein Dorf, kein Hof auf dieser Seite des Waldes war vor ihnen sicher. Also zog Cosimo aus, um dem Spuk ein Ende zu machen. Er räucherte die ganze Bande aus, aber er selbst kam auch nicht zurück, und seither nennt man seinen Vater, der so gern aß, dass man drei Dörfer von seinem Frühstück hätte ernähren können, auch den Fürsten der Seufzer. Denn das ist das Einzige, was der Speckfürst noch tut.«
Staubfinger streckte die Finger in den Staub, der über ihm in der Sonne tanzte. »Der Fürst der Seufzer!«, murmelte er. »So, so. Und was treibt der hochwohlgeborene Herr auf der anderen Seite des Waldes?«
»Der Natternkopf?« Wolkentänzer blickte sich unbehaglich um. »Tja, der ist leider nicht tot. Hält sich immer noch für den Herrn der Welt, lässt jeden Bauern blenden, den seine Jagdaufseher mit einem Karnickel im Wald erwischen, macht zu Sklaven, wer seine Steuern nicht bezahlt, und lässt sie in der Erde nach Silber graben, bis sie Blut spucken. Die Galgen vor seiner Burg sind immer belegt, und am liebsten hat er es, wenn dort ein paar bunte Hosen baumeln. Trotzdem spricht kaum einer schlecht über ihn, denn seine Spitzel sind zahlreicher als die Bettwanzen in diesem Gasthaus und er bezahlt sie gut. Den Tod aber«, fügte der Wolkentänzer leise hinzu, »kann man nicht bestechen, und der Natternkopf wird alt. Es heißt, in letzter Zeit habe er große Angst vor den Weißen Frauen und dem Sterben, solche Angst, dass er nachts auf den Knien liegt und heult wie ein geprügelter Hund. Seine Köche kochen ihm angeblich jeden Morgen einen Pudding aus Kälberblut, weil das jung halten soll, und unter seinem Kissen, sagt man, liegt der Fingerknochen eines Gehenkten, zum Schutz gegen die Weißen Frauen. Vier Mal hat er in den letzten sieben Jahren geheiratet. Seine Frauen werden immer jünger, und trotzdem hat ihm keine das geschenkt, was er sich am sehnlichsten wünscht.«
»Der Natternkopf hat noch immer keinen Sohn?« Wolkentänzer schüttelte den Kopf. »Nein, aber sein Enkel wird uns trotzdem irgendwann regieren, denn der alte Fuchs hat eine seiner Töchter mit Cosimo dem Schönen verheiratet - Violante, die alle nur die Hässliche nennen - und die bekam einen Sohn von ihm, bevor er loszog, um zu sterben. Man sagt, ihr Vater hätte sie dem Speckfürsten als Braut für seinen Sohn schmackhaft gemacht, indem er Violante eine kostbare Handschrift zur Mitgift gab - und dazu noch den besten Buchmaler seines Hofes. Ja, für beschriebenes Papier konnte sich der Speckfürst einst ebenso begeistern wie für gutes Essen, aber nun schimmeln seine kostbaren Bücher vor sich hin! Nichts interessiert ihn mehr, am wenigsten seine Untertanen. Manche flüstern, genau so hätte der Natternkopf es geplant. Er selbst hätte dafür gesorgt, dass sein Schwiegersohn niemals von Capricorns Festung zurückkehrt, damit sein Enkel nach dem Tod des Speckfürsten den Thron besteigen kann.«
»Vermutlich flüstert man richtig.« Staubfinger musterte die Männer, die sich in dem stickigen Raum drängten. Herumziehende Händler, Bader, Handwerksgesellen, Spielmänner mit geflickten Ärmeln. Einer hatte einen Kobold dabei, der mit unglücklichem Gesicht neben ihm auf dem Fußboden hockte. Viele sahen so aus, als wüssten sie nicht, wovon sie den Wein bezahlen sollten, den sie tranken. Glückliche Gesichter, frei von Sorge, Krankheit, Missgunst, waren wenige zu entdecken. Hatte er etwas anderes erwartet? Hatte er gehofft, dass das Unglück sich davongeschlichen hatte, während er fort gewesen war? Nein. Zurückzukehren - das war alles, was er erhofft hatte, zehn Jahre lang - nicht ins Paradies, nur nach Hause. Will nicht auch der Fisch nur zurück ins Wasser, selbst wenn dort schon die Barsche auf ihn warten?
Ein Betrunkener taumelte gegen den Tisch und stieß fast den sauren Wein um. Staubfinger griff nach dem Krug. »Was ist mit Capricorns Männern, dem Brandfuchs und all den anderen? Sind die alle tot?«
»Träumst du?« Der Wolkentänzer lachte bitter. »Jeder Brandstifter, der Cosimos Angriff entkam, wurde auf der Nachtburg mit offenen Armen empfangen. Den Brandfuchs hat der Natternkopf zu seinem Herold gemacht, und auch der Pfeifer, Capricorns alter Spielmann, singt jetzt seine finsteren Lieder auf der Burg mit den Silbertürmen. Samt und Seide trägt er und hat die Taschen voll Gold.«
»Den Pfeifer gibt es auch noch?« Staubfinger fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Himmel, hast du denn gar nichts Nettes zu erzählen? Irgendetwas, das mich so richtig froh stimmt, wieder hier zu sein?«
Wolkentänzer lachte, so laut, dass der Rußvogel sich umdrehte und zu ihnen herübersah. »Die beste Neuigkeit ist die, dass du zurück bist!«, sagte er. »Wir haben dich vermisst, Meister des Feuers! Die Feen sollen nachts seufzen, während sie tanzen, seit du uns so treulos verlassen hast, und der Schwarze Prinz erzählt seinem Bären vorm Schlafengehen immer noch von dir.«
»Den Prinzen gibt es auch noch? Gut.« Staubfinger nahm erleichtert einen Schluck Wein, obwohl er wirklich abscheulich schmeckte. Er hatte nicht gewagt, nach dem Prinzen zu fragen, aus Angst, von ihm Ähnliches wie über Cosimo zu erfahren.
»Oh, ja, es geht ihm bestens!« Wolkentänzer sprach lauter, als sich am Tisch neben ihnen zwei Händler zu streiten begannen. »Immer noch derselbe pechschwarze Kerl, schnell mit der Zunge, noch schneller mit dem Messer und nie ohne seinen Bären unterwegs.«
Staubfinger lächelte. Ja, das war wahrlich eine gute Nachricht. Der Schwarze Prinz. Bärenzähmer, Messerwerfer. rieb sich das Herz vermutlich immer noch wund an der Welt. Staubfinger kannte ihn, seit sie beide Kinder gewesen waren, elternlos, heimatlos. Mit elf Jahren hatten sie zusammen am Pranger gestanden, drüben, auf der anderen Seite des Waldes, wo sie beide geboren waren, und hatten danach zwei Tage nach verfaultem Gemüse gestunken.
Der Wolkentänzer musterte sein Gesicht. »Nun?«, fragte er. »Wann stellst du endlich die Frage, die du stellen wolltest, seit ich dir auf die Schulter geklopft habe? Frag! Bevor ich zu betrunken bin, um dir zu antworten.«
Staubfinger konnte es nicht verhindern, er musste lächeln. Wolkentänzer hatte schon immer viel von der Kunst verstanden, anderen ins Herz zu blicken, auch wenn man es seinem runden Gesicht nicht ansah. »Also gut. Was soll’s. Wie geht es ihr?«
»Na, endlich!« Wolkentänzer lächelte so selbstzufrieden, dass er zwei Zahnlücken entblößte. »Zuerst einmal. Sie ist immer noch wunderschön. Lebt jetzt in einem Haus, singt nicht mehr, tanzt nicht mehr, trägt keine bunten Röcke, und ihr Haar steckt sie hoch wie eine Bauersfrau. Sie bestellt ein Stück Land drüben auf dem Hügel hinter der Burg, baut Kräuter an für die Bader. Sogar die Nessel kauft bei ihr. Sie lebt mal gut, mal schlecht davon und zieht ihre Kinder groß.«
Staubfinger versuchte, gleichgültig dreinzublicken, aber an Wolkentänzers Lächeln sah er, dass es ihm nicht gelang. »Was ist mit dem Gewürzhändler, der immer um sie herumstrich?«
»Was soll mit dem sein? Er ist vor Jahren fortgezogen, lebt vermutlich in einem großen Haus am Meer und wird mit jedem Sack Pfeffer, den seine Schiffe heranschaffen, reicher.«
»Dann hat sie ihn nicht geheiratet?«
»Nein. Sie hat einen anderen genommen.«
»Einen anderen.?« Staubfinger versuchte erneut, gleichgültig zu klingen. Wieder vergebens.
Wolkentänzer genoss es eine Weile, ihn zappeln zu lassen, dann sprach er weiter: »Ja, einen anderen. Armer Hund, ist bald gestorben, aber sie hat ein Kind von ihm, einen Jungen.«
Staubfinger schwieg und lauschte seinem eigenen klopfenden Herzen. Dummes Ding. »Was ist mit den Mädchen?«
»Oh, die Mädchen. Ja. wer mag bloß deren Vater gewesen sein?« Wolkentänzer lächelte wieder, wie ein kleiner Junge, dem ein böser Streich geglückt war. »Brianna ist schon genauso schön wie ihre Mutter. Obwohl sie deine Haarfarbe geerbt hat.«
»Und Rosanna, die Jüngere?«
Ihr Haar war schwarz, wie das ihrer Mutter.
Das Lächeln auf Wolkentänzers Gesicht erstarb, als hätte Staubfinger es fortgewischt. »Die Kleine ist schon lange tot«, sagte er leise. »Ein Fieber. Zwei Winter nachdem du fort warst. Es sind viele dran gestorben. Nicht mal die Nessel konnte ihnen helfen.«
Staubfinger malte mit dem Zeigefinger, klebrig vom Wein, schimmernd feuchte Linien auf den Tisch. Verloren. In zehn Jahren konnte einiges verloren gehen. Einen Moment lang versuchte er verzweifelt, sich an Rosannas Gesicht zu erinnern, so ein kleines Gesicht, aber es verschwamm, als hätte er sich zu lange bemüht, es zu vergessen.
Wolkentänzer schwieg eine ganze Weile mit ihm, inmitten von all dem Lärm. Dann erhob er sich schließlich umständlich. Es war nicht leicht, von der niedrigen Bank aufzustehen mit einem steifen Bein. »Ich muss los, mein Freund«, sagte er. »Hab noch drei Briefe abzugeben, zwei davon oben in Ombra. Ich will vor Dunkelheit am Tor sein, sonst machen die Wachen sich wieder einen Spaß daraus, mich nicht hineinzulassen.«
Staubfinger zog immer noch Linien auf den dunklen Tisch.
Zwei Winter nachdem du fort warst - die Worte brannten in seinem Kopf wie Nesseln. »Wo haben die anderen gerade ihre Zelte aufgeschlagen?«
»Gleich vor der Stadtmauer von Ombra. Der liebe Enkel unseres Fürsten feiert bald Geburtstag. Jeder Gaukler und Spielmann ist an diesem Tag auf der Burg willkommen.«
Staubfinger nickte, ohne den Kopf zu heben. »Mal sehen. Vielleicht werd ich mich auch dort sehen lassen.« Abrupt erhob er sich von der harten Bank. Das Mädchen am Kamin blickte zu ihnen herüber. Etwa so alt wie sie wäre seine jüngere Tochter jetzt gewesen, hätte das Fieber sie nicht geholt. Gemeinsam mit Wolkentänzer drängte er sich an den voll besetzten Bänken und Stühlen vorbei zur Tür. Draußen war es immer noch schön, ein sonniger Herbsttag, in buntes Laub gekleidet wie ein Gaukler.
»Komm doch mit nach Ombra!« Wolkentänzer legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mein Pferd trägt auch zwei, und ein Quartier findet sich dort immer.«
Aber Staubfinger schüttelte den Kopf.
»Später«, sagte er und blickte die schlammige Straße hinunter. »Jetzt ist es erst einmal Zeit für mich, einen Besuch zu machen.«