Der Fürst der Seufzer



»Ich mag nicht«, konnte er zum König nicht sagen, denn wie sollte er sich sonst sein Brot verdienen?

Der König im Korbe, Ital. Volksmärchen



Die Fenster des Saales, in dem der Speckfürst Fenoglio empfing, waren verhängt mit schwarzen Tüchern. Wie in einer Gruft roch es, nach vertrockneten Blumen und Kerzenruß. Die Kerzen brannten vor Standbildern, die alle dasselbe Gesicht zeigten, mal schlechter, mal besser getroffen. Cosimo der Schöne!, dachte Meggie. Aus unzähligen Marmoraugen starrte er auf sie herab, während sie an Fenoglios Seite auf seinen Vater zuschritt.

Der Sessel, in dem der Speckfürst thronte, war umrahmt von zwei hochlehnigen Stühlen. Auf dem Stuhl zu seiner Linken lag nur ein Helm auf dem dunkelgrünen Polster, geschmückt mit Pfauenfedern, das Metall so blank poliert, als wartete er auf seinen Besitzer. Auf dem rechten Stuhl saß ein Junge, vielleicht fünf, sechs Jahre alt, er trug ein Wams aus schwarzem Brokat, so über und über mit Perlen bestickt, als sei es mit Tränen bedeckt. Das musste das Geburtstagskind sein. Jacopo, Enkel des Speckfürsten, aber auch Enkel des Natternkopfes.

Der Junge blickte gelangweilt drein. Unruhig schlenkerte er die kurzen Beine, als könnte er sie kaum davon abhalten, nach draußen zu laufen, zu den Gauklern und den süßen Kuchen und dem Sessel, der schon auf ihn wartete, auf der mit Stechwinden und Rosen geschmückten Tribüne. Sein Großvater dagegen sah so aus, als habe er nicht vor, sich jemals wieder zu erheben. Kraftlos wie eine Puppe saß er da, in seinen zu weiten schwarzen Gewändern, wie gelähmt von den Augen seines toten Sohnes. Nicht sonderlich groß, aber fett wie zwei Männer, so hatte Resa ihn beschrieben: selten anzutreffen ohne etwas zu essen in den speckigen Fingern, immer etwas außer Atem von all dem Gewicht, das seine nicht sonderlich kräftigen Beine umhertragen mussten, und doch stets bester Laune.

Der Fürst, den Meggie im Halbdunkel seiner Burg sitzen sah, war nichts von alledem. Sein Gesicht war blass und seine Haut schlug Falten, als hätte sie einstmals einem größeren Mann gehört. Der Kummer hatte ihm den Speck von den Gliedern geschmolzen, und sein Gesicht war so starr, als wäre es eingefroren an dem Tag, an dem man ihm die Nachricht vom Tod seines Sohnes gebracht hatte. Nur in seinen Augen saß immer noch das Entsetzen, die Fassungslosigkeit darüber, was das Leben ihm angetan hatte.

Außer seinem Enkel und den Wachen, die schweigend im Hintergrund standen, waren nur noch zwei Frauen bei ihm. Die eine hielt demütig den Kopf gesenkt, wie eine Dienerin, obwohl sie ein Kleid trug, das auch einer Fürstin angestanden hätte. Ihre Herrin stand zwischen dem Speckfürsten und dem leeren Stuhl, auf dem der federgeschmückte Helm lag. Violante!, dachte Meggie. Tochter des Natternkopfes und Cosimos Witwe. Ja, das musste sie sein, die Hässliche, wie sie alle nannten. Fenoglio hatte Meggie von ihr erzählt - und betont, dass sie zwar seiner Feder entstammte, aber stets bloß als Nebenfigur gedacht gewesen war: das unglückliche Kind einer unglücklichen Mutter und eines sehr schlechten Vaters. »Eine absurde Idee, aus ihr die Frau von Cosimo dem Schönen zu machen!«, hatte Fenoglio gesagt. »Aber ich sage es ja, diese Geschichte spielt verrückt!«

Violante trug Schwarz wie ihr Sohn und ihr Schwiegervater. Auch ihr Kleid war mit Tränen aus Perlen bestickt, doch das kostbare Schimmern kleidete sie nicht sonderlich. Ihr Gesicht sah aus, als hätte es jemand mit zu blassem Stift auf ein fleckiges Stück Papier gezeichnet, und die dunkle Seide machte es nur noch unscheinbarer. An diesem Gesicht fiel nur eines auf: das purpurne Mal, groß wie eine Mohnblüte, das die linke Wange verunzierte.

Als Meggie mit Fenoglio durch den dunklen Saal geschritten kam, beugte Violante sich gerade zu ihrem Schwiegervater hinunter und sprach mit leiser Stimme auf ihn ein. Der Speckfürst verzog keine Miene, aber schließlich nickte er, und der Junge rutschte erleichtert von seinem Stuhl.

Fenoglio gab Meggie ein Zeichen, stehen zu bleiben. Mit respektvoll gesenktem Kopf trat er zur Seite und wies Meggie unauffällig an, es ihm nachzutun. Violante nickte Fenoglio zu, als sie mit hoch erhobenem Kopf an ihnen vorbeischritt, aber Meggie sah sie nicht einmal an. Auch den steinernen Abbildern ihres toten Mannes schenkte sie keine Beachtung. Die Hässliche schien es eilig zu haben, dem finsteren Saal zu entkommen, fast ebenso eilig wie ihr Sohn. Die Dienerin, die ihr folgte, ging so dicht an Meggie vorbei, dass ihr Kleid sie fast streifte. Sie schien nicht viel älter als Meggie. Ihr Haar schimmerte rötlich, als fiele der Schein eines Feuers darauf, und sie trug es offen, wie es in dieser Welt eigentlich nur die Spielfrauen taten. Meggie hatte noch nie schöneres Haar gesehen.

»Du kommst spät, Fenoglio!«, sagte der Speckfürst, sobald die Türen sich hinter den Frauen und seinem Enkel geschlossen hatten. Seine Stimme klang immer noch gepresst wie die eines sehr dicken Mannes. »Waren dir die Worte ausgegangen?«

»Die werden mir erst ausgehen, wenn mir der Atem stockt, mein Fürst«, antwortete Fenoglio mit einer Verbeugung. Meggie wusste nicht, ob sie es ihm nachtun sollte. Schließlich entschied sie sich für einen unbeholfenen Knicks.

Von nahem sah der Speckfürst noch gebrechlicher aus. Seine Haut glich verwelkten Blättern und das Weiß seiner Augen vergilbtem Papier. »Wer ist das Mädchen?«, fragte er und musterte sie mit müdem Blick. »Deine Dienerin? Als Geliebte ist sie zu jung, oder?«

Meggie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. »Euer Gnaden, auf was für Gedanken Ihr kommt!«, wehrte Fenoglio ab und legte ihr den Arm um die Schultern. »Das ist meine Enkelin, sie ist bei mir zu Besuch. Mein Sohn hofft, dass ich ihr einen Mann finde, und wo kann sie sich besser umsehen als auf dem wunderbaren Fest, das Ihr heute gebt?«

Die Schamröte auf Meggies Gesicht wurde noch tiefer, aber sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Ach. Du hast einen Sohn?« Aus der Stimme des traurigen Fürsten klang so viel Neid, als gönnte er nicht einem seiner Untertanen das Glück eines lebenden Sohnes. »Es ist nicht klug, seine Kinder allzu weit fortzulassen«, murmelte er, ohne Meggie aus den Augen zu lassen. »Sie kommen allzu leicht nie wieder zurück!«

Meggie wusste nicht, wo sie hinblicken sollte. »Ich werde bald zurückgehen«, sagte sie. »Mein Vater weiß das.« Hoffentlich, setzte sie in Gedanken hinzu.

»Ja. Ja, natürlich. Sie geht zurück. Zu gegebener Zeit.« Fenoglios Stimme klang ungeduldig. »Aber kommen wir nun zum Anlass meines Besuches.« Er zog die Pergamentrolle, die Rosenquarz so sorgsam versiegelt hatte, aus dem Gürtel und stieg mit respektvoll gesenktem Kopf die Stufen zum fürstlichen Sessel hinauf. Der Speckfürst schien Schmerzen zu haben. Er presste die Lippen aufeinander, als er sich vorbeugte, um das Pergament entgegenzunehmen, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn, obwohl es kühl war in der Halle. Meggie erinnerte sich an Minervas Worte: Dieser Fürst wird sich noch zu Tode seufzen und klagen. Fenoglio schien dasselbe zu denken.

»Geht es Euch nicht gut, mein Fürst?«, fragte er besorgt.

»Allerdings nicht!«, stieß der Speckfürst gereizt hervor. »Und leider hat der Natternkopf das heute auch bemerkt.« Mit einem Seufzer lehnte er sich zurück und klopfte gegen die Seite seines Sessels. »Tullio!«

Ein Diener, ebenso schwarz gekleidet wie der Fürst, schoss hinter dem Sessel hervor. Wie ein zu kurz geratener Mensch sah er aus, wäre da nicht der feine Pelz auf Gesicht und Händen gewesen. Tullio erinnerte Meggie an die Kobolde in Eli-nors Garten, die sich in Asche verwandelt hatten, auch wenn er deutlich mehr von einem Menschen an sich hatte.

»Los, hol mir einen Spielmann, aber einen, der lesen kann!«, befahl der Fürst. »Er soll mir Fenoglios Gedicht vortragen.« Und Tullio schoss davon, eifrig wie ein junger Hund.

»Habt Ihr die Nessel gerufen, wie ich es Euch geraten habe?« Fenoglios Stimme klang eindringlich, aber der Fürst winkte nur ärgerlich ab.

»Die Nessel? Wozu? Sie würde nicht kommen, und wenn, dann vermutlich nur, um mich zu vergiften, weil ich für den Sarg meines Sohnes ein paar Eichen habe fällen lassen. Kann ich etwas dafür, dass sie sich lieber mit Bäumen als mit Menschen unterhält? Sie können mir alle nicht helfen, weder die Nessel noch all die Bader, Steinschneider und Knochenflicker, deren übel riechende Tränke ich schon geschluckt habe. Es ist kein Kraut gegen Kummer gewachsen.« Seine Finger zitterten, als er Fenoglios Siegel brach, und in dem abgedunkelten Saal wurde es so still, während er las, dass Meggie hörte, wie die Kerzenflammen knisternd an den Dochten fraßen.

Fast lautlos bewegte der Fürst die Lippen. Während seine trüben Augen Fenoglios Worten folgten, hörte Meggie ihn flüstern: »Er wird, ach, nimmer, nimmermehr erwachen.« Unauffällig blickte sie Fenoglio an. Er errötete schuldbewusst, als er ihren Blick bemerkte. Ja, er hatte die Worte gestohlen. Und sicher keinem Dichter dieser Welt.

Der Speckfürst hob den Kopf und wischte sich eine Träne aus den trüben Augen. »Schöne Worte, Fenoglio«, sagte er mit bitterer Stimme, »ja, darauf verstehst du dich wahrlich. Doch wann endlich findet einer von euch Dichtern die Worte, die die Tür öffnen, durch die der Tod uns zerrt?«

Fenoglio blickte sich zu den Standbildern um. Er musterte sie so versonnen, als sähe er sie zum ersten Mal. »Ich bedaure, aber die Worte gibt es nicht, mein Fürst«, sagte er. »Der Tod ist das große Schweigen. An der Tür, die er hinter uns schließt, gehen selbst den Dichtern die Worte aus. Wenn Ihr mich jetzt also untertänigst entschuldigen würdet - die Kinder meiner Wirtin warten draußen, und wenn ich sie nicht bald wieder einfange, laufen sie vermutlich mit den Gauklern fort, denn wie alle Kinder träumen sie davon, Bären zu bändigen und auf einem Seil zwischen Himmel und Hölle zu tanzen.«

»Ja, geh. Geh schon!«, sagte der Speckfürst und winkte müde mit seiner beringten Hand. »Ich lasse dir Bescheid geben, wenn mir wieder nach Worten ist. Wohlschmeckendes Gift sind sie, aber nur durch sie schmeckt selbst der Schmerz für ein paar Augenblicke bittersüß.«

Er wird, ach, nimmer, nimmermehr erwachen!... Elinor hätte sicherlich gewusst, von wem die Verse stammen, dachte Meggie, während sie mit Fenoglio durch den finsteren Saal zurückschritt. Unter ihren Stiefeln raschelten die Kräuter, mit denen der Boden des Saales bestreut war. Ihr Duft hing in der kühlen Luft, als wollte er den traurigen Fürsten an die Welt erinnern, die draußen auf ihn wartete. Doch vielleicht erinnerte er ihn auch nur an die Blumen, die Cosimos Gruft schmückten.

An der Tür kam ihnen Tullio mit dem Spielmann entgegen. Er hüpfte und sprang vor ihm her wie ein struppiges, abgerichtetes Tier. Der Spielmann trug Schellen am Gürtel und eine Laute auf dem Rücken. Er war ein langer, hagerer Kerl mit missmutigem Mund und so bunt gekleidet, dass der Schwanz eines Pfaus dagegen verblasst wäre.

»Der Kerl soll lesen können?«, raunte Fenoglio Meggie zu, während er sie durch die Tür schob. »Das halte ich für ein Gerücht! Außerdem ist sein Gesang so wohlklingend wie das Gekrächz einer Krähe. Lass uns bloß verschwinden, bevor er meine armen Verse zwischen seine Pferdezähne nimmt!«

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