Noch ein Bote



Die blasseste Tinte ist besser als das stärkste Gedächtnis.

Chinesisches Sprichwort


Der Natternkopf war verschwunden, als Fenoglio aus dem Tor der Inneren Burg trat, mitsamt seinen Gepanzerten. Gut!, dachte Fenoglio. Schäumen wird er vor Wut, den ganzen langen Weg nach Hause. Die Vorstellung ließ ihn lächeln. Auf dem Äußeren Hof wartete eine Ansammlung Männer. Die geschwärzten Hände ließen ihr Handwerk unschwer erkennen, auch wenn sie sie vermutlich gründlich geschrubbt hatten für ihren Fürsten. Die ganze Schmiedegasse Ombras schien sich auf der Burg eingefunden zu haben. Ihr schmiedet die Worte, ich lasse Schwerter schmieden, viele, viele Schwerter. Hatte Cosimo etwa schon mit den Vorbereitungen für seinen Krieg begonnen? Nun, dann wird es Zeit, dass ich mich an die Worte mache, dachte Fenoglio.

Als er in die Schustergasse einbog, glaubte er für einen Moment Schritte hinter sich zu hören, doch als er sich umdrehte, hinkte nur ein einbeiniger Bettler mühsam an ihm vorbei. Bei jedem zweiten Schritt rutschte ihm die Krücke aus in dem Dreck, der zwischen den Häusern lag - Schweinemist, Gemüseabfälle, stinkende Pfützen von dem, was die Leute aus den Fenstern kippten. Nun, Krüppel wird es bald reichlich geben, dachte Fenoglio, während er auf Minervas Haus zuschritt. So ein Krieg ist geradezu eine Krüppelfabrik. Was war das für ein Gedanke? Regten sich da etwa Zweifel an Cosimos Plänen in seiner hochgestimmten Seele? Ach was.

Bei allen Buchstaben des Alphabets! Diese Kletterei werde ich gewiss nicht vermissen, wenn ich erst mal auf der Burg lebe!, dachte er, als er sich die Treppe zu seiner Kammer hinaufquälte. Ich muss Cosimo nur bitten, mich auf keinen Fall in einem der Türme einzuquartieren. Zu Balbulus’ Werkstatt hinauf war es schließlich auch eine elende Stufensteigerei! Ach, die paar Stufen sind dir zu steil, aber in den Krieg zu ziehen, das traust du dir zu auf deine alten Tage!, spottete die leise Stimme in seinem Inneren, die sich immer zu den unpassendsten Zeiten äußerte, doch Fenoglio war geübt darin, sie zu überhören.

Rosenquarz war nicht da. Vermutlich war er wieder mal aus dem Fenster geklettert, um den Glasmann des Schreibers zu besuchen, der drüben bei den Bäckern wohnte. Auch die Feen schienen alle ausgeflogen. Es war still in Fenoglios Kammer, ungewohnt still. Mit einem Seufzer setzte er sich auf sein Bett. Er wusste selbst nicht warum, aber er musste an seine Enkel denken, an den Lärm und das Gelächter, mit dem sie sein Haus erfüllt hatten. Na und?, dachte er, verärgert über sich selbst. Minervas Kinder machen den gleichen Lärm, und wie oft hast du sie schon in den Hof hinuntergejagt, weil es dir zu viel wurde!

Schritte kamen die Treppe herauf. Na bitte. Wenn man vom Teufel sprach! Er hatte keine Lust, Geschichten zu erzählen. Er musste seine Sachen packen - und Minerva schonend beibringen, dass sie sich nach einem neuen Untermieter umsehen musste.

»Fort mit euch!«, rief er zur Tür. »Ärgert die Schweine im Hof oder die Hühner, aber der Tintenweber hat keine Zeit, denn er zieht auf die Burg!«

Die Tür schwang trotzdem auf, doch es waren nicht zwei Kindergesichter, die sich zeigten. Ein Mann stand davor - mit fleckigem Gesicht und leicht hervortretenden Augen, Fenoglio hatte ihn noch nie gesehen, und doch kam er ihm seltsam bekannt vor. Seine ledernen Hosen waren geflickt und schmutzig, aber die Farbe seines Umhangs ließ Fenoglios Herz schneller schlagen. Es war das silbrige Grau des Natternkopfes.

»Was soll das?«, fragte er barsch und erhob sich, doch der Fremde war schon durch die Tür. Breitbeinig stand er da, das Grinsen ebenso hässlich wie sein Gesicht, aber erst der Anblick seines Begleiters ließ Fenoglios alte Knie weich werden. Basta lächelte ihm zu wie einem lang vermissten Freund. Auch er trug das Silber der Natter.

»Pech, Pech, schon wieder Pech!«, sagte er, während er sich in der Kammer umsah. »Das Mädchen ist nicht hier. Da schleichen wir dir extra leise wie die Katzen von der Burg nach, weil wir denken, wir fangen gleich zwei Vögel, und nun ist es doch nur der hässliche alte Rabe, der uns in die Falle geht. Na ja, einer ist besser als keiner. Man darf nicht zu viel vom Glück erwarten, schließlich hat es dich gerade zur passenden Zeit auf die Burg geschickt, nicht wahr? Ich hab dein hässliches Schildkrötengesicht sofort erkannt, aber du hast mich nicht mal bemerkt, stimmt’s?«

Nein, das hatte Fenoglio nicht. Hätte er jeden Mann mustern sollen, der hinter dem Natternkopf gestanden hatte? Wenn du klug gewesen wärst, Fenoglio, sagte er sich, hättest du genau das getan! Wie konntest du vergessen, dass Basta zurück ist? War es nicht Warnung genug, was Mortimer passiert ist?

»Na, was für eine Überraschung! Basta! Wie bist du dem Schatten entkommen?«, sagte er laut - und trat unauffällig zurück, bis er hinter sich das Bett spürte. Nachdem im Nachbarhaus einem Mann im Schlaf die Kehle durchgeschnitten worden war, hatte er sich ein Messer unters Kissen gelegt, aber er war nicht sicher, ob es immer noch dort lag.

»Tut mir Leid, aber er hat mich wohl übersehen in dem Käfig, in dem ich steckte«, schnurrte Basta mit seiner Katzenstimme. »Capricorn hatte weniger Glück, aber Mortola ist noch da, und sie hat unserem alten Freund, dem Natternkopf, von den drei Vögeln erzählt, die wir suchen, gefährlichen Hexern, die mit Hilfe von Buchstaben töten.« Basta kam langsam auf Fenoglio zu. »Kannst du dir denken, wer diese Vögel sind?«

Der andere Mann schloss mit einem Stiefeltritt die Tür.

»Mortola?« Fenoglio versuchte seine Stimme spöttisch und überlegen klingen zu lassen, aber es klang doch eher wie das Krächzen eines sterbenden Raben. »War Mortola es nicht, die dich in den Käfig hat stecken lassen, um dich an den Schatten zu verfüttern?«

Basta zuckte nur die Achseln und schlug den silbergrauen Umhang zurück. Natürlich, da steckte es, sein Messer. Ein nagelneues Exemplar, wie es aussah, prächtiger als alle, die er je in der anderen Welt besessen hatte, und sicherlich ebenso scharf.

»Ja, das war nicht nett«, sagte er, während seine Finger liebkosend über den Messergriff strichen. »Aber es tut ihr wirklich Leid. Nun, was ist, weißt du, nach welchen Vögeln wir suchen? Ich helf dir etwas. Einem haben wir schon den Hals umgedreht, dem, der am lautesten gesungen hat.«

Fenoglio ließ sich auf das Bett sinken, mit, wie er hoffte, ausdruckslosem Gesicht. »Ich nehme an, du sprichst von Mor-timer«, sagte er, während er eine Hand langsam unter das Kissen schob.

»Richtig!« Basta lächelte. »Du hättest dabei sein sollen, als Mortola ihn erschossen hat. Ein Schuss in die Brust, so wie sie es immer mit den Krähen gemacht hat, die ihr die Saat von den Feldern pickten.« Die Erinnerung machte sein Lächeln noch etwas böser. Oh, wie gut Fenoglio wusste, was in seinem schwarzen Herzen vorging! Schließlich hatte er ihn ebenso erfunden wie Cosimo mit seinem Engelslächeln. Basta hatte es schon immer geliebt, seine eigenen Schandtaten und auch die anderer in aller Ausführlichkeit zu schildern.

Bastas Begleiter schien nicht so gesprächig. Gelangweilt sah er sich in Fenoglios Kammer um. Gut, dass der Glasmann nicht da war. Es war so leicht, ihn umzubringen.

»Dich werden wir wohl nicht erschießen.« Basta trat noch etwas näher auf Fenoglio zu, das Gesicht lauernd wie das einer Katze auf der Jagd. »Dich werden wir vermutlich aufhängen,

bis dir die Zunge aus dem alten Hals hängt.«

»Wie einfallsreich!«, sagte Fenoglio, während er die Finger immer tiefer unter das Kissen schob. »Aber du weißt, was dann passiert. Du wirst ebenfalls sterben.«

Bastas Lächeln verschwand so abrupt wie eine Maus in ihrem Loch. »Ach ja!«, zischte er böse, während seine Hand unwillkürlich nach dem Amulett an seinem Hals griff. »Das hatte ich fast vergessen. Du glaubst ja, dass du mich erfunden hast. Was ist mit ihm?« Er wies auf den anderen Mann. »Das ist der Schlitzer. Hast du den auch erfunden? Schließlich hat er auch mal für Capricorn gearbeitet. Viele Feuerfinger tragen jetzt das Silber der Natter, auch wenn einige von uns finden, dass man unter Capricorn mehr Spaß hatte. All das feine Pack auf der Nachtburg.« Er spuckte verächtlich auf Fenoglios Boden. »Es ist wohl kein Zufall, dass der Natternkopf eine Schlange in seinem Wappen führt. Auf dem Bauch soll man vor ihm kriechen, so hat er es gern, der edle Herr. Aber was soll’s? Zahlen tut er gut. He, Schlitzer?«, fragte er seinen immer noch schweigsamen Begleiter. »Was denkst du, sieht der Alte so aus, als hätte er dich erfunden?«

Der Schlitzer verzog sein hässliches Gesicht. »Wenn ja, dann hat er es, verdammt noch mal, nicht gut gemacht, oder?«

»Stimmt!« Basta lachte. »Eigentlich hätte er es allein für das Gesicht, das er dir verpasst hat, verdient, unsere Messer zu schmecken, nicht wahr?«

Der Schlitzer. Ja, stimmt, den hatte er auch erfunden. In Fenoglios Magen machte sich Übelkeit breit, als er daran dachte, warum er ihn so getauft hatte.

»Nun sag schon, Alter!« Basta beugte sich so tief über ihn, dass sein Pfefferminzatem ihm übers Gesicht strich. »Wo ist das Mädchen? Wenn du es uns verrätst, lassen wir dich vielleicht noch eine Weile am Leben und schicken erst mal die Kleine ihrem Vater nach. Bestimmt hat sie schon Sehnsucht nach ihm. Die beiden waren doch so vernarrt ineinander. Na los, wo steckt sie, spuck es schon aus!« Langsam zog er das Messer aus dem Gürtel. Die Klinge war lang und leicht gebogen. Fenoglio schluckte, als könnte er seine Angst hinunterwürgen. Er schob die Hand noch etwas tiefer unter das Kissen, aber seine Fingerspitzen stießen nur gegen ein Stück Brot, das Rosenquarz dort vermutlich versteckt hatte. Umso besser, dachte er. Was hätte mir ein Messer schon genützt? Basta hätte mich aufgespießt, bevor ich es noch richtig in der Hand gehabt hätte, von dem Schlitzer ganz zu schweigen. Er spürte, wie ihm Schweiß in die Augen lief.

»He, Basta! Ich weiß, du hörst dich gern reden, aber lass ihn uns endlich mitnehmen.« Die Stimme des Schlitzers klang breit wie die der Kröten, die nachts in den Hügeln quakten. Natürlich, so hatte Fenoglio sie beschrieben. Der Schlitzer mit der Krötenstimme. »Ausfragen können wir ihn später, jetzt müssen wir den anderen nach!«, drängte er. »Wer weiß, was dieser tote Fürst als Nächstes tut! Was, wenn er uns nicht mehr hinauslässt aus seinem verfluchten Tor? Was, wenn er uns seine Soldaten nachjagt? Die anderen sind uns bestimmt schon Meilen voraus!«

Basta schob mit einem Seufzer des Bedauerns das Messer zurück in den Gürtel. »Ja, ja, schon gut, du hast Recht«, sagte er mürrisch. »Mit so was soll man sich Zeit lassen. Ausfragen ist eine Kunst, eine echte Kunst.« Grob packte er Fenoglios Arm, zerrte ihn hoch und stieß ihn auf die Tür zu. »Wie in alten Zeiten, nicht wahr?«, raunte er ihm ins Ohr. »Ich hab dich schon einmal aus deinem Haus gezerrt, erinnerst du dich? Benimm dich genauso gut wie damals, und du wirst noch eine Weile atmen. Und wenn wir an der Frau vorbeikommen, die im Hof die Schweine füttert, dann sag ihr, wir holen dich ab, um dich zu einer alten Freundin zu bringen, verstanden?«

Fenoglio nickte nur. Minerva würde ihm kein Wort glauben, aber vielleicht holte sie ja Hilfe?

Bastas Hand lag schon auf der Klinke, als erneut Schritte die Treppe heraufkamen. Das alte Holz knarrte und ächzte. Die Kinder. Um Himmels willen. Aber es war nicht die Stimme eines Kindes, die durch die Tür drang.

»Tintenweber?«

Basta warf dem Schlitzer einen besorgten Blick zu, doch Fenoglio hatte die Stimme erkannt: Wolkentänzer, der alte Seiltänzer, der ihm so manches Mal schon eine Nachricht vom Schwarzen Prinzen gebracht hatte. Eine große Hilfe würde der gewiss nicht sein mit seinem steifen Bein! Aber welche Nachricht führte ihn her? Hatte der Schwarze Prinz etwas von Meggie gehört?

Basta winkte den Schlitzer auf die linke Seite und stellte sich selbst rechts neben die Tür. Dann gab er Fenoglio ein Zeichen - und zog erneut das Messer aus dem Gürtel.

Fenoglio öffnete die Tür. Sie war so niedrig, dass er jedes Mal den Kopf einzog, wenn er hindurchtrat. Wolkentänzer stand vor ihm und rieb sich das Knie. »Verfluchte Treppe!«, schimpfte er. »Steil und morsch. Bin nur froh, dass du da bist und ich nicht noch mal hinaufsteigen muss. Hier.« Er sah sich um, als hätte das alte Haus Ohren, und griff in die Ledertasche, in der schon so viele Briefe von Ort zu Ort gewandert waren. »Das Mädchen, das bei dir wohnt, schickt dir das hier.« Er hielt ihm ein Stück Papier hin, mehrmals gefaltet, es sah aus wie eine Seite aus Meggies Notizbuch. Meggie hasste es, Seiten aus einem Buch zu reißen, und aus diesem sicher ganz besonders, ihr Vater hatte es gebunden. Also musste die Nachricht sehr wichtig sein - und gleich würde Basta sie ihm abnehmen.

»Na, nun nimm schon!« Wolkentänzer hielt ihm das Blatt ungeduldig unter die Nase. »Weißt du, wie ich mich beeilt habe, dir das zu bringen?«

Widerstrebend griff Fenoglio zu - und wusste nur eins. Basta durfte Meggies Nachricht nicht bekommen. Niemals. Seine Finger schlossen sich so fest um das Papier, dass kein Zipfel davon mehr zu sehen war.

»Hör zu!«, fuhr Wolkentänzer mit leiser Stimme fort. »Der Natternkopf hat das Geheime Lager überfallen lassen. Staubfinger...«

Fenoglio schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Schön. Vielen Dank, es ist nur so, ich habe gerade Besuch«, sagte er und versuchte verzweifelt, Wolkentänzer mit seinen Augen zu erzählen, was sein Mund nicht aussprechen konnte. Er rollte sie nach links und rechts, als könnten sie wie Finger dorthin weisen, wo Basta und der Schlitzer hinter der Tür warteten.

Wolkentänzer wich einen Schritt zurück.

»Renn!«, stieß Fenoglio hervor und machte einen Satz aus der Tür. Wolkentänzer stürzte fast die Treppe hinunter, als er sich an ihm vorbeidrängte, aber dann stolperte er ihm nach. Fenoglio rutschte die Stufen mehr hinab, als dass er ging. Er drehte sich nicht um, bevor er unten stand, hörte Basta hinter sich fluchen und die Krötenstimme des Schlitzers. Er hörte die Kinder im Hof erschrocken aufschreien und von irgendwoher Minervas Stimme, aber da rannte er schon zwischen die Schuppen und die Leinen, auf denen ihre frisch gewaschene Wäsche hing. Ein Schwein lief ihm zwischen die Beine, ließ ihn stolpern und in den Dreck fallen, und als er sich aufrichtete, sah er, dass der Wolkentänzer nicht so schnell gewesen war wie er. Wie auch, mit seinem steifen Bein? Basta hatte ihn am Kragen gepackt, während der Schlitzer Minerva zur Seite stieß, die ihm mit einem Rechen in den Weg getreten war. Fenoglio duckte sich, erst hinter ein leeres Fass, dann hinter den Schweinetrog, er kroch auf allen vieren zu einem der Schuppen.

Despina.

Mit entgeisterten Augen starrte sie ihn an. Er legte den Finger auf die Lippen, kroch weiter, zwängte sich zwischen ein paar Brettern durch, dorthin, wo Minervas Kinder ihr Versteck hatten. Er passte nur gerade hinein, das Versteck war nicht gedacht für alte Männer, die langsam dick um die Hüften wurden. Die beiden Kinder kamen hierher, wenn sie nicht schlafen oder sich vor der Arbeit drücken wollten. Nur Fenoglio hatten sie ihr Versteck gezeigt, als Beweis ihrer Freundschaft - und im Austausch gegen eine gute Geistergeschichte.

Er hörte, wie Wolkentänzer aufschrie, wie Basta etwas brüllte und Minerva weinte. Fast wäre er zurückgekrochen, aber die Angst lähmte ihn. Außerdem, was konnte er schon ausrichten gegen Bastas Messer und das Schwert, das dem Schlitzer am Gürtel hing? Er lehnte sich gegen die Bretter, hörte das Schwein grunzen und die Nase in die Erde stoßen. Meggies Nachricht verschwamm vor seinen Augen, die Seite war schmutzig vom Schlamm, durch den er gekrochen war, aber noch war zu entziffern, was sie geschrieben hatte.

»Ich weiß es nicht!«, hörte er Wolkentänzer schreien. »Ich weiß nicht, was sie geschrieben hat! Ich kann doch nicht lesen!« Tapferer Wolkentänzer. Vermutlich wusste er es doch. Gewöhnlich ließ er sich alles, was er überbrachte, auch sagen.

»Aber du kannst mir sagen, wo sie ist, nicht wahr?« Das war Bastas Stimme. »Raus damit. Ist sie mit Staubfinger zusammen? Du hast doch dem Alten seinen Namen zugeraunt!«

»Ich weiß es nicht!« Wieder schrie er auf, und Minerva weinte noch lauter und schrie um Hilfe, dass es von den engen Häusern widerhallte.

Die Männer vom Natternkopf haben sie alle mitgenommen, meine Eltern und die Spielleute, las Fenoglio. Staubfinger folgt... Mäuse-Mühle... Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Wieder hörte er das Schreien von draußen. Er biss sich auf die Knöchel, so fest, dass sie zu bluten begannen. Schreib etwas, Fenoglio. Rette sie! Schreib - Es war ihm, als hörte er Meggies Stimme. Da, wieder ein Schrei. Nein. Nein, er konnte nicht so hier sitzen bleiben. Er kroch nach draußen, weiter und weiter, bis er sich aufrichten konnte.

Basta hielt den Wolkentänzer immer noch gepackt, er presste ihn gegen die Mauer des Hauses. Der Kittel des alten Seiltänzers war blutig und zerschnitten, und der Schlitzer stand vor ihm, ein Messer in der Hand. Wo war Minerva? Sie war nirgends zu entdecken, aber Despina und Ivo standen versteckt zwischen den Schuppen und sahen, was ein Mann einem anderen antun kann. Mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Basta!« Fenoglio machte einen Schritt vor. Er legte all seine Wut und all seine Angst in die Stimme - und hielt das dicht beschriebene Papier hoch.

Basta drehte sich um, mit gespielter Überraschung. »Ah, da steckst du!«, rief er. »Bei den Schweinen. Wusste ich’s doch. Bring uns den Brief besser her, bevor der Schlitzer deinen Freund hier in Streifen geschnitten hat.«

»Ihr müsst ihn euch schon holen!«

»Wozu?« Der Schlitzer lachte. »Du kannst ihn uns doch vorlesen!«

Ja. Das konnte er. Fenoglio stand da und wusste nicht weiter. Wo waren all die Lügen hin, all die praktischen Lügen, die ihm sonst so leicht über die Zunge kamen? Wolkentänzer starrte ihn an, das Gesicht verzerrt vor Schmerz und Angst -und plötzlich, als hielte er die Angst keinen Augenblick länger aus, riss er sich von Basta los und rannte auf Fenoglio zu. Er rannte schnell, trotz des steifen Knies, aber Bastas Messer war schneller, so viel schneller. Es durchstieß Wolkentänzer den Rücken, wie der Pfeil des Natternkopfes es mit der Brust des Goldspötters getan hatte. Der Spielmann fiel in den Schlamm, und Fenoglio stand da und begann zu zittern. Er zitterte so sehr, dass Meggies Nachricht ihm aus der Hand glitt und zu Boden flatterte. Wolkentänzer aber lag da und rührte sich nicht mehr, das Gesicht im Schmutz. Despina trat aus ihrem Versteck, sosehr Ivo auch versuchte, sie zurückzuzerren, und starrte mit großen Augen auf die reglose Gestalt zu Fenoglios Füßen. Es war still, so still auf dem Hof.

»Lies vor, Schreiberling!«

Fenoglio hob den Kopf. Basta stand vor ihm, das Messer in der Hand, das eben noch in Wolkentänzers Rücken gesteckt hatte. Fenoglio starrte auf das Blut an der blanken Klinge -und auf Meggies Worte. In Bastas Hand. Ohne nachzudenken, ballte er die Fäuste. Er stieß sie Basta vor die Brust, als gäbe es das Messer nicht, als gäbe es den Schlitzer nicht. Basta stolperte zurück, Ärger und Erstaunen auf dem Gesicht. Er fiel über einen Eimer, gefüllt mit dem Unkraut, das Minerva von ihren Beeten gerupft hatte. Fluchend kam er wieder auf die Füße. »Mach das nicht noch mal, alter Mann!«, zischte er. »Ich sag es dir jetzt zum letzten Mal. Lies vor!«

Aber Fenoglio hatte Minervas Mistgabel aus dem schmutzigen Stroh gezogen, das sich vor dem Schweinestall häufte. »Mörder!«, flüsterte er und hielt Basta die grob geschmiedeten Eisenzinken entgegen. Wo war nur seine Stimme hin? »Mörder, Mörder!«, wiederholte er, immer lauter, und stieß mit der Gabel nach Bastas Brust, dorthin, wo sein schwarzes Herz pochte.

Basta wich zurück, mit wutverzerrtem Gesicht.

»Schlitzer!«, brüllte er. »Schlitzer, komm her, und nimm ihm die verdammte Forke ab!«

Aber der Schlitzer war zwischen die Häuser getreten, das Schwert in der Hand, und lauschte. Hufe klapperten draußen auf der Gasse. »Wir müssen weg, Basta!«, stieß er hervor. »Cosimos Wachen kommen!«

Basta starrte Fenoglio an, die schmalen Augen hasserfüllt. »Wir sehen uns wieder, alter Mann!«, flüsterte er. »Aber dann liegst du so vor mir im Dreck wie er.« Achtlos stieg er über den reglosen Wolkentänzer hinweg. »Und das hier«, sagte er, während er Meggies Nachricht unter seinen Gürtel schob, »das liest Mortola mir vor. Wer hätte gedacht, dass das dritte Vögelchen uns eigenhändig schreibt, wo wir es finden? Und den Feuerfresser werden wir kostenlos dazubekommen!«

»Basta, komm endlich!« Der Schlitzer winkte ungeduldig.

»Ja, ja, was regst du dich auf? Glaubst du, sie knüpfen uns auf, weil es jetzt einen Spielmann weniger gibt?«, erwiderte Basta mit gelassener Stimme, aber er ließ Fenoglio stehen. Er winkte ihm ein letztes Mal zu, bevor er zwischen den Häusern verschwand.

Fenoglio glaubte, Stimmen zu hören, Waffengeklirr, aber vielleicht war es auch etwas anderes. Er kniete sich neben Wolkentänzer, drehte ihn sacht auf den Rücken und legte ihm das Ohr an die Brust - als hätte er den Tod nicht längst auf seinem Gesicht gesehen. Er spürte, wie die beiden Kinder neben ihn traten. Despina legte ihm die Hand auf die Schulter, schmal und leicht wie ein Blatt.

»Ist er tot?«, flüsterte sie.

»Das siehst du doch«, sagte ihr Bruder.

»Holen die Weißen Frauen ihn jetzt?«

Fenoglio schüttelte den Kopf. »Nein, er geht ganz von allein zu ihnen«, antwortete er leise. »Du siehst es doch. Er ist schon fort.

Aber sie werden ihn empfangen auf ihrem Weißen Schloss. Es ist aus Knochen gebaut, doch es sieht wunderschön aus. Dort gibt es einen Hof, einen Hof voll duftender Blumen, und ein Seil aus Mondlicht ist darüber gespannt, nur für Wolkentänzer.« Die Worte kamen wie selbstverständlich, schöne, tröstliche Worte, aber war es wirklich so? Fenoglio wusste es nicht. Es hatte ihn noch nie interessiert, was nach dem Tod kam, weder in dieser noch in der anderen Welt. Vermutlich nichts als Stille, Stille ohne ein einziges tröstendes Wort.

Minerva stolperte zwischen den Häusern hervor, eine blutige Schramme auf der Stirn. Der Bader, der an der Ecke wohnte, war bei ihr und zwei weitere Frauen, die Gesichter blass vor Angst. Despina rannte auf ihre Mutter zu, aber Ivo blieb neben Fenoglio stehen.

»Keiner wollte kommen.« Minerva schluchzte, während sie sich neben dem Toten auf die Knie fallen ließ. »Angst hatten sie. Alle!«

»Wolkentänzer«, murmelte der Bader. Knochenflicker nannten die Leute ihn, Steinschneider, Harnprophet und manchmal, wenn ihm ein Kunde gestorben war, Würg-Engel. »Vor einer Woche noch hat er mich gefragt, ob ich was gegen die Schmerzen in seinem Knie weiß.«

Fenoglio erinnerte sich, dass er den Bader beim Schwarzen Prinzen gesehen hatte. Sollte er ihm erzählen, was Wolkentänzer über das Geheime Lager gesagt hatte? Konnte er ihm trauen? Nein, es war besser, niemandem zu trauen. Nichts und niemandem. Der Natternkopf hatte viele Spione.

Fenoglio richtete sich auf. Nie zuvor hatte er sich so alt gefühlt, so alt, dass es ihm vorkam, als könnte er nicht einen einzigen weiteren Tag überstehen. Die Mühle, von der Meggie geschrieben hatte, wo zum Teufel lag die? Der Name hatte vertraut geklungen. Natürlich, weil er sie beschrieben hatte, in einem der letzten Kapitel von Tintenherz. Der Müller war kein Freund des Natternkopfes, obwohl seine Mühle ganz in der Nähe der Nachtburg lag, in einem dunklen Tal südlich des Weglosen Waldes.

»Minerva«, fragte er, »wie lange braucht ein Reiter von hier zur Nachtburg?«

»Zwei Tage bestimmt, wenn er sein Pferd nicht zuschanden reiten will«, antwortete Minerva leise.

Zwei Tage oder etwas weniger, bis Basta erfuhr, was in Meggies Brief stand. Wenn er damit zur Nachtburg ritt. Bestimmt wird er das!, dachte Fenoglio. Basta kann nicht lesen, also wird er den Brief Mortola bringen und die Elster hockt sicherlich auf der Nachtburg. Also blieben vermutlich noch zwei Tage, bis Mortola Meggies Nachricht lesen und Basta zur Mäuse-Mühle schicken würde. Wo Meggie vielleicht schon wartete. Fenoglio seufzte. Zwei Tage. Vielleicht würde das reichen, um sie zu warnen, aber wohl kaum für die Worte, die sie von ihm erhoffte - Worte, die ihre Eltern retten konnten.

Schreib etwas, Fenoglio. Schreib...

Als ob das so einfach wäre! Meggie, Cosimo, sie alle wollten Worte von ihm, aber sie hatten leicht reden. Es brauchte Zeit, die richtigen zu finden, und genau davon hatte er nicht genug!

»Minerva, sag Rosenquarz, dass ich auf die Burg muss«, sagte Fenoglio. Er war plötzlich furchtbar müde. »Sag ihm, ich hole ihn später nach.«

Minerva strich Despina übers Haar, die in ihren Rock schluchzte, und nickte. »Ja, geh auf die Burg!«, sagte sie mit belegter Stimme. »Geh hin und sag Cosimo, er soll Soldaten hinter den Mördern herschicken. Bei Gott, ich werd in der ersten Reihe stehen, wenn sie sie aufhängen!«

»Aufhängen? Was redest du denn da?« Der Bader fuhr sich durch das schüttere Haar und blickte düster auf den Toten hinab. »Wolkentänzer war ein Spielmann. Niemand wird aufgehängt, weil er einen Spielmann erstochen hat. Es wird strenger bestraft, wenn du einen Hasen im Wald erlegst.«

Ivo sah Fenoglio ungläubig an. »Sie bestrafen sie nicht?« Was sollte er ihm antworten? Nein. Keiner würde Basta und den Schlitzer bestrafen. Vielleicht würde der Schwarze Prinz es irgendwann tun oder der Mann, der sich die Maske des Eichelhähers aufgesetzt hatte, aber Cosimo würde den beiden nicht einen einzigen Soldaten nachschicken. Vogelfrei, das war das Bunte Volk, auf dieser ebenso wie auf der anderen Seite des Waldes. Niemandem Untertan und von niemandem beschützt. Aber einen Reiter wird Cosimo mir geben, wenn ich ihn darum bitte, dachte Fenoglio, einen schnellen Reiter, der Meggie vor Basta warnen kann - und ihr ausrichten, dass ich an den richtigen Worten arbeite. Schreib etwas, Fenoglio. Rette sie! Schreib etwas, das sie alle befreit und den Natternkopf tötet... Ja, weiß Gott, das würde er. Feuerlieder für Cosimo würde er schreiben und mächtige Worte für Meggie. Und dann würde ihre Stimme dieser Geschichte endlich zu einem guten Ende verhelfen.

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