Unbeschriebenes Papier



Wir machen die Sachen, die nimmer vergehen, Aus Tüchern die Bücher, die immer bestehen, Wir schicken zu drükken den Drukkern von Hier, Die geben das Leben dem toten Papier.

Michael Kongehl, Gedicht über die Weiße Kunst


Als Mortola sich Mos Zelle aufschließen ließ, erzählte Meggie ihm gerade vom Fest des Speckfürsten, vom Schwarzen Prinzen und Farids Fackelspielen. Mo legte schützend den Arm um sie, als draußen die Riegel zurückgeschoben wurden und Mortola in die Zelle trat, flankiert von Basta und dem Pfeifer. Das Licht der hereinfallenden Sonne ließ Bastas Gesicht aussehen wie gekochtes Hummerfleisch.

»Sieh an, welch eine Idylle! Tochter und Vater wiedervereint«, höhnte Mortola. »Wahrhaft rührend!«

»Beeilt Euch!«, raunte ihr der Wächter durch die Tür zu. »Wenn der Natternkopf erfährt, dass ich Euch zu ihm gelassen habe, stehe ich drei Tage am Pranger!«

»Nun, wenn das passiert, so habe ich gut dafür bezahlt, oder?«, erwiderte Mortola nur, während Basta mit bösem Lächeln auf Mo zutrat.

»Na, Zauberzunge«, schnurrte er, »hab ich dir nicht gesagt, dass ihr uns alle noch in die Falle geht?«

»Du siehst eher so aus, als wärst du Staubfinger in die Falle gegangen«, erwiderte Mo und schob Meggie rasch hinter sich, als Basta zur Antwort sein Messer aufschnappen ließ.

»Basta! Lass das!«, fuhr Mortola ihn an. »Wir haben keine Zeit für deine Spiele.«

Meggie trat hinter Mos Rücken hervor, als Mortola auf sie zukam. Sie wollte ihr zeigen, dass sie keine Angst vor ihr hatte (auch wenn das natürlich nur eine tapfere Lüge war).

»Das waren interessante Worte, die du da unter deinen Kleidern versteckt hattest«, raunte Mortola ihr zu. »Den Natternkopf interessierte speziell der Teil, in dem von drei ganz besonderen Wörtern die Rede ist. Oh, seht nur, wie blass sie um ihre hübsche Nase wird! Ja, der Natternkopf weiß von deinen Plänen, Täubchen, und dass Mortola doch nicht so dumm ist, wie er dachte. Das Buch, das du ihm versprochen hast, will er leider trotzdem immer noch haben. Der Narr glaubt tatsächlich, dass ihr zwei seinen Tod in ein Buch sperren könnt.« Die Elster rümpfte die Nase über so viel fürstliche Dummheit und trat noch dichter an Meggie heran. »Ja, er ist ein leichtgläubiger Dummkopf, wie alle Fürsten!«, flüsterte sie Meggie zu. »Wir beide wissen das, nicht wahr? Denn die Worte, die du bei dir trugst, erzählen auch, dass Cosimo der Schöne diese Burg erobern und den Natternkopf töten wird - mit Hilfe des Buches, das dein Vater für ihn binden soll. Wie aber soll das gehen? Cosimo ist tot, und diesmal endgültig. Ja, da siehst du mich erschrocken an, du Hexe, nicht wahr?« Grob kniffen ihre knochigen Finger in Meggies Wangen.

Mo wollte ihre Hand zurückstoßen, aber Basta hielt ihm das Messer entgegen.

»Deine Zunge hat ihre Zauberkraft verloren, Schätzchen!«, raunte die Elster. »Die Worte sind nichts als Worte geblieben. Das Buch, das dein Vater dem Natternkopf binden soll, wird nur ein leeres Buch sein - und wenn der Silberfürst das endlich begriffen hat, wird euch zwei nichts mehr vor dem Henker retten. Und Mortola hat endlich ihre Rache.«

»Lass sie in Ruhe, Mortola!« Mo griff nach Meggies Hand, trotz Bastas Messer. Meggie schloss ihre Finger ganz fest um die seinen, während in ihrem Kopf die Gedanken übereinander stolperten. Cosimo war tot? Zum zweiten Mal? Was bedeutete das? Gar nichts, dachte sie. Gar nichts, Meggie. Weil du die Worte, die ihn schützen sollten, nie vorgelesen hast!

Mortola schien ihre Erleichterung zu bemerken, die Augen der Elster wurden schmal wie ihre Lippen. »Ach, sieh an, das beunruhigt dich nicht? Denkst du, ich lüge dich an? Oder glaubst du etwa selbst an dieses Unsterblichkeits-Buch? Weißt du was?« Die Elster bohrte Meggie die mageren Finger in die Schulter. »Es ist ein Buch und du und dein Vater, ihr erinnert euch doch sicherlich daran, was mein Sohn mit Büchern zu tun pflegte! Capricorn wäre nie so dumm gewesen, sein Leben einem Buch anzuvertrauen, auch wenn du ihm dafür die Unsterblichkeit versprochen hättest! Außerdem, die drei Wörter, die man angeblich nicht hineinschreiben darf. die kenne ich ja nun auch.«

»Was heißt das, Mortola?«, fragte Mo leise. »Träumst du etwa davon, Basta auf den Thron des Natternkopfes zu setzen? Oder gar dich selbst?«

Die Elster warf einen raschen Blick auf den Wächter vor der Zellentür, doch er kehrte ihnen den Rücken zu und sie wandte sich mit ausdruckslosem Gesicht erneut Mo zu. »Was auch immer ich vorhabe, Zauberzunge«, zischte sie ihm zu, »du wirst es nicht mehr erleben. Für dich ist diese Geschichte zu Ende. Warum ist er nicht in Ketten?«, fuhr sie den Pfeifer an. »Noch ist er ein Gefangener, oder? Fessle ihm wenigstens die Hände für den Weg.«

Meggie wollte protestieren, aber Mo warf ihr einen warnenden Blick zu.

»Glaub mir, Zauberzunge!«, raunte Mortola, während der Pfeifer ihm unsanft die Hände auf den Rücken band. »Selbst wenn der Natternkopf dich freilässt, nachdem du ihm sein Buch gemacht hast - du wirst nicht weit kommen. Und auf Mortolas Worte ist mehr Verlass als auf die Worte eines Dichters. Bringt die beiden in die Alte Kammer!«, befahl sie, während sie wieder auf die Tür zuging. »Aber bewacht sie gut, während sie das Buch binden.«

Die Alte Kammer lag im abgelegensten Teil der Nachtburg, weit entfernt von den Sälen, in denen der Natternkopf Hof hielt. Verstaubt und verlassen waren die Korridore, durch die Basta und der Pfeifer sie führten. Kein Silber zierte Säulen oder Türen, kein Glas verschloss die zugigen Fensterhöhlen.

Die Kammer, deren Tür der Pfeifer schließlich mit einer spöttischen Verbeugung vor Mo öffnete, schien schon seit langem nicht mehr bewohnt. Den blassroten Stoff, mit dem das Bett verhängt war, hatten die Motten zerfressen. Die Blumensträuße, die in Krügen in den Fensternischen standen, waren längst vertrocknet. Staub hing in den verblassten Blüten und bedeckte schmutzig weiß die Truhen, die unter den Fenstern standen. Mitten im Raum war ein Tisch aufgebaut, eine lange Holzplatte, auf Böcke gelegt. Dahinter stand ein Mann, blass wie Papier, mit weißem Haar und Tintenflecken an den Fingern. Meggie streifte er nur mit einem Blick, doch Mo musterte er so eingehend, als hätte ihn jemand gebeten, ein Gutachten über ihn auszustellen.

»Das ist er?«, fragte er den Pfeifer. »Der Mann sieht aus, als hätte er nie in seinem Leben ein Buch in der Hand gehabt, ganz zu schweigen davon, dass er auch nur die Spur einer Ahnung hat, wie man sie bindet.«

Meggie sah, wie sich ein Lächeln auf Mos Gesicht stahl. Ohne ein Wort trat er auf den Tisch zu und musterte die Werkzeuge, die darauf lagen.

»Mein Name ist Taddeo. Ich bin der Bibliothekar hier«, fuhr der Fremde mit gereizter Stimme fort. »Ich nehme an, dass dir nicht einer dieser Gegenstände etwas sagt, aber ich kann dir versichern, dass allein das Papier, das du dort siehst, mehr wert ist als dein armseliges Räuberleben. Allerfeinste Schöpfarbeit von der besten Papiermühle in tausend Meilen Umkreis, genug, um mehr als zwei Bücher mit fünfhundert Blättern zu binden. Wobei natürlich ein echter Buchbinder Pergament jedem noch so guten Papier vorziehen würde.«

Mo hielt dem Pfeifer die gefesselten Hände hin. »Darüber lässt sich streiten«, sagte er, während die Silbernase ihm mit mürrischer Miene die Fesseln löste. »Freu dich, dass ich Papier verlange. Das Pergament für dieses Buch würde ein Vermögen kosten. Ganz abgesehen von den Hunderten von Ziegen, die dafür ihr Leben lassen müssten. Und was die Qualität dieser Blätter betrifft, so ist sie keineswegs so gut, wie du behauptest. Es ist recht grob geschöpft, aber wenn es kein besseres gibt, muss es eben damit gehen. Ich hoffe, es ist wenigstens gut geleimt. Was den Rest betrifft«, Mo strich mit fachkundigen Fingern über die Werkzeuge, die bereitlagen, »so sieht alles recht brauchbar aus.«

Messer und Falzbeine, Hanf, Zwirn und Nadeln zum Heften der Blätter, Leim und ein Topf, in dem man ihn erhitzen konnte, Buchenholz für die Buchdeckel, Leder für den Bezug. Mo nahm alles in die Hand, so wie er es auch in seiner Werkstatt tat, bevor er sich an die Arbeit machte. Dann sah er sich suchend um. »Was ist mit der Presse und der Heflade? Und womit soll ich den Leim erhitzen?«

»Du. bekommst alles, was du brauchst, noch vor dem Abend«, antwortete Taddeo verwirrt.

»Die Schließen sind in Ordnung, aber ich brauche noch eine Feile und außerdem Leder und Pergament für die Bänder.«

»Sicher, sicher. Alles, was du sagst.« Der Bibliothekar nickte dienstfertig, während ein ungläubiges Lächeln auf seinem blassen Gesicht erschien.

»Gut.« Mo stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. »Entschuldige, aber ich bin noch etwas schwach auf den Beinen. Das Leder ist hoffentlich geschmeidiger als das Papier, und was den Leim betrifft«, er griff nach dem Tiegel und schnupperte daran, »nun ja, es wird sich zeigen, ob er gut genug ist. Bring mir auch Kleister. Den Leim werde ich nur für den Einband benutzen. Er schmeckt den Bücherwürmern allzu gut.«

Meggie weidete sich an den überraschten Gesichtern. Selbst der Pfeifer starrte Mo ungläubig an. Nur Bastas Miene blieb ungerührt. Er wusste, dass er dem Bibliothekar einen Buchbinder und keinen Räuber gebracht hatte.

»Mein Vater braucht einen Stuhl«, sagte Meggie mit einem auffordernden Blick zu dem Bibliothekar. »Seht Ihr nicht, dass er verwundet ist? Soll er etwa im Stehen arbeiten?«

»Im Stehen? Nein. nein, natürlich nicht! Keineswegs. Ich werde sofort einen Lehnstuhl bringen lassen«, antwortete der Bibliothekar mit abwesender Stimme, während er Mo immer noch musterte. »Ihr. ähm. wisst erstaunlich viel über die Kunst des Bücherbindens für einen Wegelagerer.«

Mo schenkte ihm ein Lächeln. »Ja, nicht wahr?«, sagte er. »Vielleicht war der Wegelagerer irgendwann mal ein Buchbinder? Sagt man nicht, dass sich unter den Gesetzlosen die verschiedensten Berufe finden? Bauern, Schuster, Bader, Spielmänner.«

»Egal, was er mal war«, fuhr der Pfeifer dazwischen, »ein Mörder ist er allemal, also fall nicht auf seine sanfte Stimme herein, Bücherwurm. Er tötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Frag Basta, wenn du mir nicht glaubst.«

»Ja, allerdings!« Basta rieb sich die verbrannte Haut. »Er ist gefährlicher als ein Nest von Vipern. Und seine Tochter ist keinen Deut besser. Ich hoffe, die Messer da bringen dich nicht auf dumme Ideen«, sagte er zu Mo. »Die Wachen werden sie regelmäßig zählen, und für jedes, das verschwindet, werden sie deiner Tochter einen Finger abschneiden. Für jede Dummheit, die du versuchst, werden sie das Gleiche tun. Hast du verstanden?«

Mo antwortete ihm nicht, aber er blickte zu den Messern, als wollte er sie vorsichtshalber zählen. »Schafft jetzt endlich einen Stuhl her!«, sagte Meggie ungeduldig zu dem Bibliothekar, als er sich erneut auf den Tisch stützte.

»Ja, natürlich! Sofort!« Taddeo schoss eilfertig davon. Der Pfeifer aber stieß ein hässliches Lachen aus.

»Hört euch die kleine Hexe an! Kommandiert hier herum wie ein Fürstenbalg! Nun ja, wen wundert’s, schließlich behauptet sie, die Tochter eines Mannes zu sein, der den Tod zwischen zwei Holzdeckel sperren kann! Was ist mit dir, Basta? Glaubst du ihr die Geschichte?«

Basta griff nach dem Amulett, das ihm um den Hals hing. Es war keine Kaninchenpfote, wie er sie in Capricorns Diensten getragen hatte, sondern ein Knochen, der verdächtig einem menschlichen Finger glich. »Wer weiß!«, murmelte er.

»Ja, wer weiß?«, wiederholte Mo, ohne sich zu den beiden umzudrehen. »Auf jeden Fall kann ich den Tod rufen, nicht wahr, Basta? Und Meggie kann es auch.«

Der Pfeifer warf Basta einen schnellen Blick zu.

Dessen verbrannte Haut hatte blasse Flecken bekommen. »Ich weiß nur eins«, knurrte er, die Hand immer noch an seinem Amulett. »Dass du längst tot und begraben sein solltest, Zauberzunge. Und dass der Natternkopf besser daran täte, auf Mortola statt auf deine Hexentochter zu hören. Aus der Hand gefressen hat er ihr, der Silberfürst. Ist hereingefallen auf ihre Lügen.«

Der Pfeifer richtete sich auf, angriffslustig wie die Viper auf dem Wappen seines Herrn. »Hereingefallen?«, fragte er mit seiner seltsam gepressten Stimme. Er war einen ganzen Kopf größer als Basta. »Der Natternkopf fällt auf niemanden herein. Er ist ein großer Fürst, größer als alle anderen. Der Brandfuchs vergisst das bisweilen, ebenso wie Mortola. Mach du nicht denselben Fehler. Und jetzt verschwinde. Der Natternkopf hat angeordnet, dass niemand, der früher für Capri-corn gearbeitet hat, diesen Raum bewacht. Kann das vielleicht bedeuten, dass er euch nicht traut?«

Bastas Stimme gerann zu einem Zischen. »Du selbst hast einmal für Capricorn gearbeitet, Pfeifer!«, stieß er zwischen den Lippen hervor. »Du wärst nichts ohne ihn.«

»Ach ja? Siehst du diese Nase?« Der Pfeifer strich über seine Silbernase. »Einst hatte ich eine wie du, ein plumpes, gewöhnliches Ding. Es tat weh, sie zu verlieren, aber der Natternkopf hat mir eine bessere machen lassen, und seither singe ich nicht mehr für betrunkene Brandstifter, sondern nur noch für ihn - einen echten Fürsten, dessen Familie älter ist als die Türme dieser Burg. Wenn du ihm nicht dienen willst, dann geh zurück zu Capricorns Festung. Vielleicht streicht sein Geist noch zwischen den verbrannten Mauern herum, aber du fürchtest dich ja vor Geistern, nicht wahr, Basta?«

Die beiden Männer standen sich so nah gegenüber, dass Bastas Messerklinge kaum Platz zwischen ihnen gehabt hätte.

»Ja, ich fürchte mich vor ihnen«, zischte er. »Aber ich liege wenigstens nicht jede Nacht auf den Knien und winsele, weil ich Angst habe, die Weißen Frauen könnten mich holen, so wie dein feiner neuer Herr es tut.«

Der Pfeifer schlug ihm so heftig ins Gesicht, dass Bastas Kopf gegen den Türrahmen stieß. Blut lief ihm rot die verbrannte Wange hinunter. Er wischte es mit dem Handrücken ab. »Hüte dich vor dunklen Korridoren, Pfeifer!«, flüsterte er. »Deine Nase hast du nicht mehr, aber irgendwas zum Abschneiden findet sich immer.«

Als der Bibliothekar mit dem Lehnstuhl zurückkam, war Basta fort, und auch der Pfeifer verschwand, nachdem er zwei Wachen vor der Tür postiert hatte. »Keiner kommt herein und keiner heraus, bis auf den Bibliothekar!«, hörte Meggie ihn barsch befehlen, bevor er ging. »Und kontrolliert regelmäßig, ob der Eichelhäher arbeitet.«

Taddeo lächelte Mo verlegen zu, während die Schritte des Pfeifers draußen verklangen, als müsste er sich für die Soldaten vor der Tür entschuldigen. »Verzeiht!«, sagte er leise und schob ihm den Stuhl an den Tisch. »Aber ich habe da ein paar Bücher, die seltsame Schäden aufweisen. Könntet Ihr Euch die vielleicht einmal ansehen?«

Meggie musste ein Lächeln unterdrücken, aber Mo tat, als hätte der Bibliothekar ihm die selbstverständlichste Frage der Welt gestellt. »Sicher«, sagte er.

Taddeo nickte und warf einen Blick zur Tür, vor der eine der Wachen mit mürrischer Miene auf und ab ging. »Mortola darf nichts davon erfahren, deshalb werde ich wiederkommen, wenn es dunkel ist«, raunte er Mo zu. »Zum Glück geht sie früh schlafen. Es gibt wunderbare Bücher auf dieser Burg, aber leider niemanden, der sie zu schätzen weiß. Früher war das anders, aber früher ist vergessen und vergangen. Ich habe gehört, dass es auf der Burg des Speckfürsten inzwischen auch nicht viel besser steht, aber dort ist wenigstens Balbulus. Wir waren damals alle sehr erbost, als der Natternkopf seiner Tochter als Mitgift ausgerechnet den besten unserer Buchmaler mitgab! Seither ist es mir nicht erlaubt, mehr als zwei Schreiber zu beschäftigen und einen mehr als mäßigen Illuminator. Die einzigen Abschriften, die ich in Auftrag geben darf, sind Manuskripte, die sich mit den Ahnen des Natternkopfes beschäftigen, dem Abbau und der Verarbeitung von Silber oder der Kunst der Kriegsführung. Im letzten Jahr, als das Holz wieder einmal knapp war, hat der Brandfuchs sogar mit einigen meiner schönsten Bücher den kleinen Festsaal geheizt.« In Taddeos trübe Augen traten Tränen.

»Bringt mir die Bücher, wann Ihr wollt«, sagte Mo.

Der alte Bibliothekar fuhr sich mit dem Saum seines dunkelblauen Kittels über die Augen. »Ja!«, stammelte er. »Ja, das werde ich. Ich danke Euch.«

Dann war er fort. Und Mo setzte sich mit einem Seufzer in den Lehnstuhl, den er ihm gebracht hatte. »Gut«, seufzte er. »Dann machen wir uns mal an die Arbeit. Ein Buch, das den Tod fern hält, was für eine Idee. Nur schade, dass es für diesen Schlächter sein soll. Du wirst mir helfen müssen, Meggie, beim Falzen und Heften, beim Pressen.«

Sie nickte nur. Natürlich würde sie ihm helfen. Es gab nicht viele Dinge, die sie lieber tat.

Es fühlte sich so vertraut an, Mo wieder bei der Arbeit zu sehen - wie er das Papier zurechtlegte, es falzte, zuschnitt und heftete. Er arbeitete langsamer als sonst, und immer wieder wanderte seine Hand an die Brust, dorthin, wo Mortola ihn verwundet hatte. Aber Meggie spürte, dass es ihm gut tat, die gewohnten Handgriffe zu tun, auch wenn einiges Werkzeug anders beschaffen war, als er es gewohnt war. Die Handbewegungen waren dieselben, seit Hunderten von Jahren, in dieser wie in der anderen Welt.

Schon nach wenigen Stunden bekam die Alte Kammer etwas seltsam Vertrautes, wie eine Zuflucht und nicht nur ein weiteres Gefängnis. Als es draußen dämmerte, brachte der Bibliothekar ihnen mit einem Diener ein paar Öllampen. Das warme Licht gab dem staubigen Raum fast den Anschein, als sei er schon seit langem wieder mit Leben erfüllt.

»Es ist lange her, dass in dieser Kammer Lampen entzündet wurden!«, sagte Taddeo, während er Mo eine zweite auf den Tisch stellte.

»Wer hat in dieser Kammer zuletzt gewohnt?«, fragte Mo.

»Unsere erste Fürstin«, antwortete Taddeo. »Ihre Tochter hat den Sohn des Speckfürsten geheiratet. Ich frage mich, ob Violante schon weiß, dass Cosimo zum zweiten Mal gestorben ist.« Mit traurigem Gesicht blickte er zum Fenster. Ein feuchter Wind strich herein, und Mo beschwerte das Papier mit einem Stück Holz. »Violante kam mit einem Geburtsmal zur Welt, das ihr Gesicht entstellte«, fuhr der Bibliothekar fort, mit so abwesender Stimme, als erzählte er nicht ihnen, sondern einem fernen Zuhörer die Geschichte. »Alle sagten, es sei eine Strafe, ein Fluch der Feen, weil ihre Mutter sich in einen Spielmann verliebt hätte. Der Natternkopf ließ sie gleich nach der Geburt in diesen Teil der Burg verbannen, und sie lebte hier zusammen mit dem Kind, bis sie starb. sehr plötzlich starb.«

»Das ist eine traurige Geschichte«, sagte Mo.

»Glaubt mir, würde man all die traurigen Geschichten, die diese Mauern gesehen haben, in Bücher schreiben«, erwiderte Taddeo bitter, »dann könnte man jeden Raum dieser Burg mit ihnen füllen.«

Meggie blickte sich um, als könnte sie die Bücher sehen, all die traurigen Bücher. »Wie alt war Violante, als sie mit Cosimo verlobt und nach Ombra geschickt wurde?«, fragte sie.

»Sieben. Die Töchter unserer derzeitigen Fürstin waren sogar erst sechs, als man sie verlobte und fortschickte. Wir hoffen alle, dass sie diesmal einen Sohn bekommt!« Taddeo ließ den Blick über das Papier schweifen, das Mo zugeschnitten hatte, das Werkzeug. »Es ist schön, wieder Leben in dieser Kammer zu sehen!«, sagte er leise. »Ich komme mit den Büchern zurück, sobald ich sicher sein kann, dass Mortola schläft.«

»Sechs Jahre alt, sieben Jahre, mein Gott, Meggie«, sagte Mo, als er fort war. »Du bist schon dreizehn, und ich habe dich immer noch nicht weggeschickt, geschweige denn verlobt.«

Es tat gut, zu lachen. Auch wenn es seltsam widerhallte in dem hohen Raum.

Taddeo kam erst nach Stunden zurück. Mo arbeitete immer noch, obwohl er sich immer häufiger an die Brust griff und Meggie ihn schon ein paar Mal hatte überreden wollen, sich endlich schlafen zu legen. »Schlafen?«, sagte er nur. »Ich hab noch nicht eine Nacht richtig geschlafen in dieser Burg. Außerdem will ich deine Mutter wiedersehen, und das werde ich erst, wenn ich dieses Buch fertig habe.«

Der Bibliothekar brachte ihm zwei Bücher. »Seht Euch das an!«, flüsterte er, als er Mo das erste hinschob. »Diese Fraßstellen am Einband! Und immer sieht es fast so aus, als roste die Tinte. Das Pergament wird löchrig. Manche Worte kann man kaum noch lesen! Was kann das sein? Würmer? Käfer? Ich habe mich nie um so etwas gekümmert. Ich hatte einen Helfer, der sich mit all diesen Bücherkrankheiten auskannte, doch eines Morgens war er verschwunden, man sagt, er sei zu den Räubern in den Wald gegangen.«

Mo nahm das erste Buch in die Hand, schlug es auf und strich über die Seiten. »Himmel!«, sagte er. »Wer hat das gemalt? Ich habe noch nie so schöne Illuminationen gesehen.«

»Balbulus«, antwortete Taddeo. »Der Illuminator, der mit Violante fortgeschickt wurde. Er war noch sehr jung, als er dies gemalt hat. Seht her, seine Schrift ist noch etwas unfertig, aber inzwischen ist seine Meisterschaft ohne Makel.«

»Woher wisst Ihr das?«, fragte Meggie.

Der Bibliothekar senkte die Stimme. »Violante lässt mir ab und zu ein Buch schicken. Sie weiß, wie sehr ich Balbulus’ Kunst bewundere und dass es auf der Nachtburg außer mir niemanden mehr gibt, der Bücher liebt. Nicht, seit ihre Mutter tot ist. Seht Ihr die Truhen dort?« Er wies auf die schweren staubigen Holzkisten neben der Tür und unter den Fenstern. »Darin verbarg Violantes Mutter ihre Bücher. Sie versteckte sie zwischen ihren Kleidern. Nur abends holte sie sie hervor und zeigte sie der Kleinen, obwohl die damals vermutlich kaum ein Wort von dem verstand, was ihre Mutter ihr vorlas. Doch dann, kurz nachdem Capricorn verschwunden war, kam Mortola her, weil der Natternkopf sie gebeten hatte, die Mägde in der Küche auszubilden, worin, darüber sprach keiner. Violantes Mutter bat mich daraufhin, ihre Bücher in der Bibliothek zu verstecken, denn Mortola ließ mindestens einmal am Tag ihre Kammer durchsuchen, wonach, erfuhr sie nie. Dieses - «, er zeigte auf das Buch, in dem Mo immer noch blätterte, »- war eins ihrer Lieblingsbücher. Die Kleine zeigte auf ein Bild, und ihre Mutter erzählte ihr eine Geschichte dazu. Ich wollte es Violante mitgeben, als sie sie fortschickten, aber sie ließ es in dieser Kammer zurück. Vielleicht weil sie keine Erinnerung an diesen traurigen Ort mit in ihr neues Leben nehmen wollte. Ich würde es trotzdem gern retten, als Andenken an ihre Mutter. Wisst Ihr, ich glaube, dass ein Buch immer etwas von seinen Besitzern zwischen seinen Seiten bewahrt.«

»O ja, das glaube ich auch«, sagte Mo. »Ganz sicher ist das so.«

»Und?« Der alte Mann sah ihn hoffnungsvoll an. »Wisst Ihr, wie ich es vor weiterem Schaden bewahren kann?«

Mo klappte das Buch behutsam wieder zu. »Ja, aber es ist nicht leicht. Holzwürmer, Tintenfraß, wer weiß, was noch. Sieht das zweite genauso aus?«

»Oh, das - «, der Bibliothekar warf erneut einen nervösen Blick zur Tür, »um das steht es noch nicht so schlimm. Aber ich dachte mir, Ihr würdet es vielleicht gern einmal sehen. Balbulus hat es erst vor kurzem vollendet, im Auftrag von Violante. Es - «, er sah Mo unsicher an, »- enthält alle Lieder, die die Spielleute über den Eichelhäher singen. Soweit ich weiß, gibt es nur zwei Exemplare. Eines besitzt Violante, das andere liegt vor Euch und ist eine Abschrift, die sie eigens für mich anfertigen ließ. Der Verfasser der Lieder soll angeblich nicht wollen, dass sie niedergeschrieben werden, aber für ein paar Münzen kann man sie von jedem Spielmann hören. Auf die Art hat Violante sie gesammelt und von Balbulus aufzeichnen lassen. Ja, die Spielleute. sie sind wandelnde Bücher in dieser bücherarmen Welt! Wisst Ihr«, raunte er Mo zu, während er das Buch aufschlug, »manchmal glaube ich, dass diese Welt längst ihr Gedächtnis verloren hätte, gäbe es das Bunte Volk nicht. Leider lässt der Natternkopf sie allzu gern aufhängen! Ich habe schon oft vorgeschlagen, dass man ihnen vor der Hinrichtung einen Schreiber schickt, der all die schönen Lieder auf Papier bannt, bevor die Worte mit ihnen sterben, aber auf einen alten Bibliothekar hört niemand auf dieser Burg.«

»Nein, vermutlich nicht«, murmelte Mo, aber Meggie hörte seiner Stimme an, dass er nichts von dem gehört hatte, was Taddeo gesagt hatte. Mo steckte tief zwischen den Buchstaben, den wunderschönen Buchstaben, die vor ihm über das Pergament flossen wie ein feiner Bachlauf aus Tinte.

»Verzeiht meine Neugier«, Taddeo räusperte sich verlegen. »Ich habe gehört, Ihr leugnet, der Eichelhäher zu sein, aber wenn Ihr erlaubt«, er nahm Mo das Buch aus der Hand und schlug eine Seite auf, die Balbulus reich illuminiert hatte. Zwischen zwei Bäumen, so wunderbar gemalt, dass Meggie glaubte, die Blätter rauschen zu hören, stand ein Mann, eine Vogelmaske über dem Gesicht. »So hat Balbulus den Eichelhäher gemalt«, raunte Taddeo, »wie die Lieder ihn beschreiben: das dunkle Haar, der hohe Wuchs. Sieht er Euch nicht ähnlich?«

»Ich weiß nicht«, sagte Mo. »Er trägt eine Maske, nicht wahr?«

»Ja, ja, sicherlich.« Taddeo blickte ihn immer noch eindringlich an. »Aber wisst Ihr, man sagt noch etwas über den Eichelhäher.

Dass er eine sehr schöne Stimme hat, ganz im Gegensatz zu dem Vogel, dessen Namen er trägt. Es heißt, dass er Bären und Wölfe mit wenigen Worten besänftigen kann. Verzeiht meine Dreistigkeit, aber - «, er senkte verschwörerisch die Stimme, »Ihr habt eine sehr schöne Stimme, Mortola erzählt eigenartige Dinge über sie. Und wenn Ihr nun auch noch die Narbe habt.« Er starrte auf Mos Arm.

»Oh, Ihr meint die hier, nicht wahr?« Mo legte den Finger unter eine Zeile, neben die Balbulus ein Rudel weißer Hunde gemalt hatte: »Trägt die Narbe bis zum Tode, hoch am linken Arm... ja, ich habe so eine Narbe, nur waren es andere Hunde als die, von denen dieses Lied erzählt.« Er griff sich an den Arm, als erinnerte er sich an den Tag, an dem Basta sie bei der Hütte gefunden hatte, der verfallenen Hütte voller Scherben und zerbrochener Schindeln.

Der alte Bibliothekar jedoch machte einen Schritt zurück. »Dann seid Ihr es doch!«, hauchte er. »Die Hoffnung der Armen, der Schrecken der Schlächter, Rächer und Räuber, im Wald zu Hause wie die Bären und Wölfe!«

Mo klappte das Buch zu und klemmte die metallenen Schließen in den lederbezogenen Einband. »Nein«, sagte er. »Nein, ich bin es nicht, aber ich danke Euch dennoch sehr für das Buch. Ich habe lange keins mehr in den Händen gehalten, und es wird gut tun, endlich wieder einmal etwas zum Lesen zu haben. Nicht wahr, Meggie?«

»Ja«, sagte sie nur, während sie ihm das Buch aus der Hand nahm. Die Lieder über den Eichelhäher. Was Fenoglio wohl gesagt hätte, wenn er gewusst hätte, dass Violante sie heimlich hatte niederschreiben lassen - und was sich womöglich an Hilfe darin verbarg! Ihr Herz tat einen Sprung, als sie an die Möglichkeiten dachte, doch Taddeo machte ihre Hoffnungen auf einen Schlag zunichte. »Ich bedaure sehr«, sagte er und zog ihr das Buch sanft, aber entschieden wieder aus den Händen. »Doch ich kann Euch keins der beiden hier lassen. Morto-la war bei mir, sie war bei allen, die mit der Bibliothek zu tun haben. Sie hat jedem von uns gedroht, denjenigen blenden zu lassen, der auch nur ein Buch in diese Kammer bringt. Blenden, stellt Euch das vor! Welch eine Drohung, wo doch nur die Augen uns die Welt der Buchstaben erschließen. Ich habe schon viel zu viel riskiert, indem ich überhaupt herkam, aber ich hänge so sehr an diesen Büchern, dass ich Euch einfach um Rat fragen musste. Bitte! Sagt mir, was ich tun muss, um sie zu retten!«

Meggie war so enttäuscht, dass sie seine Bitte abgeschlagen hätte, aber Mo sah das natürlich anders. Mo dachte nur an die kranken Bücher. »Sicher«, sagte er zu Taddeo. »Am besten schreibe ich es Euch auf. Es braucht seine Zeit, Wochen, Monate, und ich weiß nicht, ob Ihr all die Stoffe, die Ihr braucht, besorgen könnt, aber einen Versuch wird es wert sein. Ich gebe diesen Rat nicht gern, aber ich fürchte, Ihr werdet zumindest das eine Buch auseinander nehmen müssen, denn um es zu retten, müssen die Seiten in der Sonne bleichen. Solltet Ihr nicht wissen, wie Ihr das am pfleglichsten anstellt, so mache ich es gern für Euch. Mortola kann ja zusehen, wenn sie sichergehen will, dass ich nichts Gefährliches anstelle.«

»Oh, ich danke Euch!« Der alte Mann verbeugte sich tief, während er die zwei Bücher fest unter den hageren Arm klemmte. »Ich danke Euch vielmals. Ich hoffe wirklich inständig, dass der Natternkopf Euch am Leben lässt, und falls doch nicht, dass er Euch einen schnellen Tod gewährt.«

Darauf hätte Meggie ihm gern eine passende Antwort gegeben, aber Taddeo hastete zu schnell davon auf seinen Heuschreckbeinen.

»Mo! Hilf ihm nicht!«, sagte sie, als die Wache draußen erneut die Riegel vorgeschoben hatte. »Warum solltest du? Er ist ein elender Feigling!«

»Oh, ich kann ihn gut verstehen. Ich würde auch nur ungern ohne meine Augen auskommen, obwohl es in unserer Welt immerhin etwas so Nützliches wie die Blindenschrift gibt.«

»Trotzdem! Ich würde ihm nicht helfen.« Meggie liebte ihren Vater für sein seltsam weiches Herz, doch das ihre konnte für Taddeo kein Mitgefühl aufbringen. Sie äffte seine Stimme nach: »Ich hoffe, dass er Euch einen schnellen Tod gewährt! Wie kann man nur so etwas sagen?«

Aber Mo hörte ihr gar nicht zu. »Hast du jemals so schöne Bücher gesehen, Meggie?«, fragte er, während er sich auf dem Bett ausstreckte.

»Ja, allerdings!«, antwortete sie trotzig. »Jedes, das ich lesen darf, ist schöner, oder etwa nicht?«

Aber Mo antwortete nicht. Er hatte ihr den Rücken zugedreht und atmete tief und ruhig. Offenbar hatte der Schlaf ihn endlich doch gefunden.


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