8

Coll Ohmsford war schon seit acht Tagen als Gefangener in der Südwache, ehe er herausfand, wer ihn eingesperrt hatte. Seine Zelle war seine ganze Welt, ein Raum von sechs Metern im Quadrat, hoch oben in dem schwarzen Granitturm, eine Stein- und Mörtelgruft mit einer einzigen Metalltür, die sich niemals öffnete, einem Fenster, das mit Metalläden verschlossen war, einer Schlafmatte, einer Holzbank, einem kleinen Tisch und zwei Stühlen. Licht drang bei Tag in schmalen, grauen Streifen durch die Läden und schwand bei Nacht. Er konnte durch die schmalen Schlitze in den Läden schauen und das blaue Wasser des Regenbogensees und das grüne Dach der Bäume sehen. Hin und wieder erhaschte er einen Blick auf einen fliegenden Vogel, Kraniche, Möwen und Seeschwalben, und er konnte ihre einsamen Rufe hören.

Manchmal konnte er auch den Wind aus dem Runnegebirge durch die Schluchten, die den Mermidon zerfurchten, heulen hören. Ein- oder zweimal hatte ein Wolf geheult.

Hin und wieder roch er Küchendüfte, doch sie schienen nie von der Nahrung zu stammen, die man ihm gab. Sein Essen kam durch eine Klappe in der Eisentür als eine geheimnisvolle Lieferung, die keinen erkennbaren Ursprung hatte. Er aß die Nahrung, und die Teller blieben, wo er sie neben der Tür aufstapelte. Aus der Tiefe der Burg drang ein stetiges Brummen, eine Art Vibration, die zunächst an eine gewaltige Maschinerie denken ließ, und ihm später eher wie ein Erdbeben vorkam. Es wurde von den Steinen des Turms getragen, und wenn Coll seine Hände gegen die Wände legte, fühlte er, wie der Stein zitterte. Alles war warm, die Wände, der Boden, die Tür, das Fenster, Stein, Mörtel und Metall. Er wußte nicht, wie das möglich war, da die Nächte manchmal so kalt waren, daß die Luft beißend wurde, aber es war so. Manchmal glaubte er, jenseits der Tür Schritte zu hören – nicht, wenn das Essen geliefert wurde, sondern zu anderen Zeiten, wenn alles still und sonst nur das Summen von Insekten zu hören war. Die Schritte näherten sich nicht, sondern gingen vorbei, ohne sich zu verlangsamen. Auch schienen sie keinen erkennbaren Ursprung zu haben; sie konnten sowohl von unten oder oben oder draußen kommen.

Er konnte fühlen, daß er beobachtet wurde, nicht sehr oft, aber oft genug, um es zu merken. Er konnte fühlen, wie jemand ihn fixierte, ihn studierte, vielleicht auf etwas wartete. Er konnte nicht feststellen, von wo die Augen schauten; es fühlte sich an, als seien sie überall. Manchmal hörte er Atmen, aber wenn er zu lauschen versuchte, konnte er nur seinen eigenen Atem hören.

Er verbrachte die meiste Zeit mit Nachdenken, denn es gab wenig anderes zu tun. Er konnte essen und schlafen, er konnte in seiner Zelle auf und ab gehen, und er konnte durch die Spalten in den Fensterläden schauen. Er konnte lauschen, er konnte die Luft schmecken und riechen. Aber Denken war am besten, fand er, eine Beschäftigung, die seinen Verstand wach und frei erhielt. Seine Gedanken wenigstens waren keine Gefangenen. Die Isolation drohte ihn manchmal zu überwältigen, denn er war von allem und jedem abgeschnitten, ohne daß er einen Grund oder einen Zweck darin erkennen konnte, und zwar von Fängern, die sich sorgfältig versteckt hielten. Er machte sich so große Sorgen um Par, daß er manchmal beinahe weinen mußte. Es war, als habe die Welt ihn vergessen und sei an ihm vorübergegangen. Dinge ereigneten sich ohne ihn, vielleicht war alles, was er gekannt hatte, verändert. Die Zeit verfloß in langsamer Folge von Sekunden, Minuten, Stunden und schließlich Tagen. Er war in Schatten und Zwielicht und fast vollständiger Stille verloren, seine Existenz entbehrte jeglicher Bedeutung.

Das Denken hielt ihn aufrecht.

Er dachte ständig darüber nach, wie er entkommen könnte. Tür und Fenster waren solide im Stein des Festungsturms verankert, und Wände und Boden waren dick und undurchdringlich. Er versuchte auf die zu lauschen, die draußen patrouillierten, doch der Versuch erwies sich als ergebnislos. Er versuchte, einen Blick auf jene zu werfen, die ihm seine Mahlzeiten lieferten, doch sie ließen sich niemals sehen. Ein Entkommen schien ausgeschlossen.

Er dachte auch daran, was er tun könnte, um jemanden draußen wissen zu lassen, daß er sich hier befand. Er konnte einen Fetzen Stoff oder einen Papierschnipsel mit einer daraufgekritzelten Nachricht durch die Schlitze im Fensterladen zwängen, aber wozu? Der Wind würde es voraussichtlich auf den See oder ins Gebirge tragen, und niemand würde es je finden. Oder zumindest nicht rechtzeitig genug, daß es irgendeinen Unterschied machte. Er dachte, er könnte auch schreien, aber er wußte, daß er sich so hoch oben befand, daß man ihn nie hören würde. Er lugte ständig aufs Land hinaus, solange es Tag war, doch er sah nie einen einzigen Menschen. Er hatte das Gefühl, vollständig allein zu sein.

Schließlich lenkte er seine Gedanken darauf, sich vorzustellen, was jenseits seiner Zellentür vor sich ging. Er versuchte, seinen Verstand zu benutzen, und als das nicht klappte, versuchte er es mit seiner Phantasie. Seine Fänger nahmen unterschiedliche Identitäten und Verhaltensmuster an. Verschwörungen und Komplotte wurden lebendig, ausgestaltet mit den Einzelheiten ihrer Verbindung zu ihm. Par und Morgan, Padishar Creel und Damson Rhee, Zwerge, Elfen und Südländer kamen allesamt zum schwarzen Turm, um ihn zu befreien. Tapfere Retter machten sich auf. Doch alle Versuche schlugen fehl. Keiner kam bis zu ihm durch. Irgendwann gaben sie alle auf. Jenseits der Mauern der Südwache nahm das Leben sorglos seinen Lauf.

Nach einer Woche dieser einsamen Existenz fing Coll Ohmsford an zu verzagen.

Und dann, am achten Tag seiner Gefangenschaft, erschien Felsen-Dall.

Es war später Nachmittag, grau und regnerisch, die Gewitterwolken hingen tief und schwer, Blitze zuckten in Spinnwebmustern über den Himmel, der Donner grollte in langgezogenem, dröhnendem Getöse aus der Finsternis. Die Sommerluft war geschwängert mit Gerüchen, die von der Feuchtigkeit verursacht worden waren, und in Colls Zelle war es kalt. Er stand nahe am Fenster, lugte durch die Spalten der Läden und lauschte auf das Tosen des Mermidon, der unten durch die Felsschluchten schäumte.

Als er hörte, wie das Schloß seiner Zellentür geöffnet wurde, drehte er sich nicht gleich um, überzeugt, daß er sich getäuscht haben mußte. Dann sah er, wie die Tür sich zu öffnen begann, erhaschte die Bewegung aus dem Augenwinkel und wirbelte herum.

Eine verhüllte Gestalt erschien, groß und dunkel und abweisend, ohne Gesicht und Gliedmaßen, wie ein Geist der Nacht. Colls erster Gedanke galt den Schattenwesen, und er kauerte sich schutzsuchend hin, tastete in der plötzlich eng gewordenen Zelle verzweifelt nach einer Waffe, mit der er sich verteidigen könnte.

»Fürchte dich nicht, Talbewohner«, sagte der Geist mit einer seltsam vertrauten Flüsterstimme. »Du bist hier nicht in Gefahr.«

Der Geist schloß die Tür hinter sich und trat in das dämmrige Licht der Zelle. Coll sah nacheinander den weißen Wolfsschädel auf dem schwarzen Umhang, die linke Hand mit dem Handschuh bis zum Ellbogen und dann das grobknochige, schmale Gesicht mit dem unverkennbaren roten Bart.

Felsen-Dall.

Augenblicklich dachte Coll an die Umstände seiner Gefangennahme. Er war mit Par, Damson und dem Maulwurf durch die Tunnel unter Tyrsis in den verlassenen Palast der Könige der alten Stadt gegangen, und von dort aus waren die Ohmsfordbrüder auf der Suche nach dem Schwert von Shannara allein in die Grube gestiegen. Er hatte vor dem Gewölbe, in dem sich das Schwert befinden sollte, Wache gestanden, während sein Bruder hineinging. Seither hatte er Par nicht wiedergesehen. Er war von hinten gepackt, bewußtlos gemacht und fortgezaubert worden. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht gewußt, wer dafür verantwortlich war. Es schien einleuchtend, daß es Felsen-Dall war, der Mann, der vor Wochen nach Varfleet gekommen war und sie seither durch alle Vier Länder verfolgt hatte.

Der Erste Sucher trat auf Coll zu und blieb kurz vor ihm stehen. Sein schroffes Gesicht war ruhig und beschwichtigend. »Hast du dich ausgeruht?«

»Was für eine dumme Frage«, antwortete Coll, ohne nachzudenken. »Wo ist mein Bruder?«

Felsen-Dall zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Als ich ihn zum letzten Mal sah, trug er das Schwert von Shannara aus dem Gewölbe.«

Coll starrte ihn an. »Du warst dort – drinnen?«

»Ja.«

»Und du hast Par das Schwert von Shannara mitnehmen lassen? Hast ihn einfach damit fortgehen lassen?«

»Warum nicht? Es gehört ihm.«

»Du willst mir weismachen«, sagte Coll vorsichtig, »daß es dir egal ist, ob er im Besitz des Schwertes ist? Daß dir das unwichtig ist?«

»Nicht so, wie du denkst.«

Coll ließ eine Pause entstehen. »Du hast Par also gehen lassen und hast mich gefangengenommen. Ist das richtig?«

»Ja.«

Coll schüttelte den Kopf. »Warum?«

»Um dich zu schützen.«

Coll lachte. »Wovor? Freiheit der Wahl?«

»Vor deinem Bruder.«

»Vor Par? Du mußt mich für den größten Trottel halten, den es je gegeben hat!«

Der große Mann faltete die Arme vor seiner Brust. »Um ehrlich zu sein, steckt mehr dahinter als nur dein Schutz. Du bist auch noch aus einem anderen Grund mein Gefangener. Früher oder später wird dein Bruder nach dir suchen. Wenn er das tut, werde ich eine weitere Gelegenheit haben, mit ihm zu reden. Wenn ich dich hier festhalte, gibt mir das die Gewißheit, daß mir diese Gelegenheit geboten wird.«

»Was wirklich geschehen ist«, fauchte Coll ärgerlich, »ist, daß du mich erwischt hast, während Par entkommen ist! Er fand das Schwert von Shannara und entschlüpfte dir irgendwie, und jetzt benutzt du mich als Köder, um ihn in die Falle zu locken. Nun, das wird nicht klappen. Par ist zu klug dafür.«

Felsen-Dall schüttelte den Kopf. »Wenn ich dich am Eingang zu dem Gewölbe habe fangen können, wie soll es deinem Bruder dann gelungen sein, zu entkommen? Beantworte mir das.« Er wartete einen Augenblick, dann ging er zu dem Tisch und ließ sich auf einem der Stühle nieder. »Ich werde dir die Wahrheit sagen, Coll Ohmsford, wenn du mir die Gelegenheit dazu gewährst. Willst du?«

Coll studierte wortlos einen Augenblick lang das Gesicht des anderen, dann zuckte er mit den Schultern. Was hatte er zu verlieren? Er blieb, wo er war, stehend und den Abstand zwischen ihnen messend.

Felsen-Dall nickte. »Laß uns mit den Schattenwesen beginnen. Die Schattenwesen sind keine Monster, keine Gespenster, deren einziges Ziel darin besteht, die Rassen zu zerstören, deren bloße Anwesenheit die Vier Länder krank gemacht hat. Sie sind zum größten Teil Opfer. Es sind Männer, Frauen und Kinder, die über ein gewisses Maß an Elfenmagie verfügen. Sie sind das Ergebnis vieler Generationen menschlicher Evolution, in denen die Magie mitgespielt hat. Die Föderation jagt sie wie Tiere. Du hast die armen Geschöpfe gesehen, die dort in der Grube gefangen sind. Weißt du, wer sie sind? Es sind Schattenwesen, die die Föderation gefangengenommen und bis zum Wahnsinn hat aushungern lassen, was sie so verändert hat, daß sie jetzt schlimmer sind als Tiere. Du hast auf deiner Reise nach Culhaven auch die Waldfrau und den Riesen gesehen. Was sie sind, ist nicht ihre Schuld.«

Die behandschuhte Hand hob sich schnell, als Coll zu sprechen ansetzen wollte. »Talbewohner, höre mich zu Ende an. Du fragst dich, woher ich so viel über dich weiß. Ich werde es dir erklären, wenn du geduldig bist.«

Die Hand senkte sich wieder. »Ich wurde Erster Sucher, um die Schattenwesen zu verfolgen – nicht um ihnen ein Leid zuzufügen oder sie gefangen zu setzen, sondern um sie zu warnen und in Sicherheit zu bringen. Deshalb bin ich zu euch nach Varfleet gekommen – um dafür zu sorgen, daß du und dein Bruder beschützt wurden. Ich bekam keine Gelegenheit dazu. Ich habe seither nach dir gesucht, um dir zu erklären, was ich weiß. Ich dachte, du würdest vielleicht nach Vale zurückkehren, und stellte also deine Eltern unter meinen Schutz. Ich glaubte, daß du, wenn ich dich zuerst erreichte, ehe die Föderation dich auf irgendeine andere Weise ausfindig machte, in Sicherheit wärest.«

»Ich glaube dir kein Wort«, warf Coll eisig dazwischen.

Felsen-Dall achtete nicht darauf. »Talbewohner, man hat dich von Anfang an belogen. Dieser alte Mann, der sich Cogline nennt, hat dir gesagt, die Schattenwesen seien deine Feinde. Der Schatten von Allanon warnte dich am Hadeshorn im Tal von Shale und sagte, die Schattenwesen müßten vernichtet werden. Man riet dir, die verlorenen Zauber der Alten Welt wiederzufinden. Das Schwert von Shannara zu finden. Die Elfensteine zu finden. Das verlorene Paranor zu finden und die Druiden zurückzubringen. Doch wurde dir gesagt, was das alles erbringen würde? Natürlich nicht. Denn die Wahrheit ist, daß du es nicht wissen darfst. Denn wenn du es wüßtest, würdest du die Angelegenheit auf der Stelle fallenlassen. Die Druiden scheren sich einen Dreck um dich und deinesgleichen, und haben es immer getan. Ihr einziges Interesse liegt darin, die Macht wiederzuerlangen, die sie verloren, als Allanon starb. Wenn du sie zurückholst und ihre Magie wiederherstellst, werden sie erneut das Schicksal der Rassen kontrollieren. Darum geht es ihnen, Coll Ohmsford. Die Föderation hilft ihnen, ohne es zu ahnen. Die Schattenwesen sind die idealen Opfer, über die beide herfallen können. Dein Onkel erkannte die Wahrheit. Er sah, daß Allanon ihn zu manipulieren versuchte und im Sinn hatte, ihn in eine Aufgabe zu verwickeln, die niemandem dienen würde. Er warnte euch alle. Er weigerte sich, sich an dem Wahnsinn der Druiden zu beteiligen. Er hatte recht. Die Gefahr ist weit größer, als dir klar ist.«

Er beugte sich vor. »Das alles habe ich deinem Bruder erzählt, als er wegen des Schwertes in das Gewölbe kam. Ich wartete dort auf ihn – ich hatte übrigens schon mehrere Tage dort gewartet. Ich wußte, daß er wiederkommen würde, um das Schwert zu holen. Er mußte es tun, er konnte nicht anders. Das ist, was die Magie euch antut. Ich weiß es. Auch ich habe Magie.«

Er stand plötzlich auf, und Coll wich erschreckt zurück. Der schwarzgekleidete Körper begann im Zwielicht zu schimmern, als wäre er durchscheinend. Dann schien er sich aufzulösen, und Coll hörte sich stöhnen. Die dunkle Gestalt eines Schattenwesens mit glühenden, roten Augen hob sich langsam aus Felsen-Dalls Körper, blieb einen Augenblick in der Luft hängen und tauchte dann wieder zurück.

Der Erste Sucher lächelte kalt. »Siehst du, ich bin ein Schattenwesen. Alle Sucher sind Schattenwesen. Was für eine Ironie, nicht wahr? Die Föderation weiß es nicht. Sie halten uns für gewöhnliche Menschen, weiter nichts, Menschen, die ihren perversen Interessen dienen, die so wie sie versuchen, das Land von Magie zu befreien. Sie sind Dummköpfe. Magie ist nicht der Feind der Menschen. Sie sind es. Und die Druiden. Und jeder, der Männer und Frauen daran hindern will, zu sein, was und wer sie sind.«

Wie ein Dolch zeigte ein Finger auf Coll. »Ich habe deinem Bruder das alles erzählt, und ich habe ihm noch etwas gesagt. Ich habe ihm gesagt, daß auch er ein Schattenwesen ist. Ah, du glaubst mir noch immer nicht, nicht wahr? Aber hör mir zu. Par Ohmsford ist in Wahrheit ein Schattenwesen, gleich, ob ihr es zugeben wollt oder nicht. Desgleichen Walker Boh. Und jeder, der über wahre Magie verfügt. Das ist es, was wir alle sind, alle von uns – Schattenwesen. Wir sind gesunde, vernunftbegabte und in den meisten Fällen normale Männer, Frauen und Kinder, bis wir von Idioten wie der Föderation gehetzt und gefangen und zum Wahnsinn getrieben werden. Dann überwältigt uns die Magie, und wir werden zu Tieren wie die Waldfrau und der Riese, wie diese Geschöpfe in der Grube.«

Coll schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist alles gelogen.«

»Wie kommt es dann, daß ich so viel über dich weiß? Was meinst du?« beharrte Felsen-Dall mit sogar jetzt noch nervtötend ruhiger Stimme. »Ich weiß alles über deine Flucht südwärts den Mermidon hinunter, deine Begegnungen mit der Waldfrau und dem alten Mann; wie du dem Hochländer begegnet bist und ihn überredet hast, sich euch anzuschließen; wie du nach Culhaven gereist bist, dann nach Hearthstone und schließlich zum Hadeshorn. Ich weiß von den Zwergen und von Walker Boh. Ich weiß von deiner Kusine Wren Ohmsford. Ich weiß von den Geächteten und von Padishar Creel und dem Mädchen und all den anderen. Ich wußte, wann du in die Grube hinuntersteigen würdest, und ich habe versucht, dich aufzuhalten. Ich wußte, daß du wiederkommen würdest, und ich habe dort auf dich gewartet. Wie kann ich das wissen, Talbewohner? Sag es mir.«

»Ein Spion im Lager der Geächteten«, antwortete Coll plötzlich verunsichert.

»Wer denn?«

Coll zögerte. »Ich weiß es nicht.«

»Dann werde ich es dir sagen. Der Spion war dein Bruder.«

Coll starrte ihn an.

»Dein Bruder, auch wenn er es nicht gemerkt hat. Par ist ein Schattenwesen, und ich weiß manchmal, was andere Schattenwesen denken. Wenn sie ihre Magie einsetzen, reagiert die meine. Sie offenbart mir ihre Gedanken. Als dein Bruder das Zauberlied benutzt hat, ließ es mich wissen, was er dachte. So habe ich dich gefunden. Aber Pars Magie alarmierte auch andere Feinde. Daher kam es, daß der Gnawl dich im Wolfsktaag verfolgt hat, und die Spinnengnome in Hearthstone. Denk nach, Talbewohner! Alles, was dir widerfahren ist, hast du selbst verursacht. Es war nicht meine Absicht, dir in Tyrsis ein Leid anzutun. Es war Pars Entscheidung, in die Grube hinunterzugehen, die dir Kummer brachte. Ich habe euch das Schwert von Shannara nicht vorenthalten. Ja, ich habe es versteckt – aber nur, um Par zu zwingen, zu mir zu kommen, damit ich ihn warnen konnte.«

Coll streckte sich. »Was willst du damit sagen?«

Felsen-Dalls blasse Augen schauten ihn eindringlich an. »Ich habe dir gesagt, daß ich dich aus dem einfachen Grund hierhergebracht habe, weil ich dich vor deinem Bruder schützen wollte. Das entspricht der Wahrheit. Die Magie eines Schattenwesen ist so zweischneidig wie ein Schwert. Du hast das vermutlich selber oft gemerkt. Sie kann ein Segen sein oder auch ein Fluch. Sie kann helfend wirken oder verletzen. Aber es ist noch viel komplizierter als das. Ein Schattenwesen kann von der Belastung, die der Einsatz der Magie verlangt, angegriffen werden, vor allem, wenn es bedroht oder verfolgt wird. Die Magie kann kampflustig werden und entkommen. Erinnerst du dich an die Kreaturen in der Grube? Erinnerst du dich an jene, denen du auf deinen Reisen begegnet bist? Was meinst du, was ihnen widerfahren ist? Dein Bruder besitzt das Zauberlied als seine Magie. Doch das Zauberlied ist nur eine dünne Schicht, die das, was darunter liegt, verdeckt – Magie, die viel mächtiger ist, als dein Bruder ahnt. Sie fängt an, stärker zu werden, während er fortläuft und sich versteckt und versucht, sich in Sicherheit zu bringen. Wenn ich ihn nicht rechtzeitig erreiche, wenn er weiterhin meine Warnungen in den Wind schlägt, wird diese Magie ihn verschlingen.«

Es folgte eine lange Stille. Coll dachte schweigend nach. Er erinnerte sich daran, daß Par ihm gesagt hatte, er glaube, die Magie des Zauberliedes vermöge weit mehr als nur die Erzeugung von Bildern; daß er fühlen könne, wie sie freigesetzt werden wollte. Er erinnerte sich daran, wie sie reagiert hatte, als sie zum ersten Mal in die Grube gestiegen waren, wie sie Licht in die Dämmerung gestrahlt und die Schriftrolle in dem Gewölbe beleuchtet hatte. Er dachte an die dort gefangenen Kreaturen, die zu Monstern und Dämonen geworden waren.

Er fragte sich nur für einen Augenblick, ob Felsen-Dall ihm vielleicht die Wahrheit sagte.

Der Erste Sucher trat einen Schritt auf ihn zu und blieb stehen. »Denk darüber nach, Coll Ohmsford«, schlug er leise vor. Er stand groß und dunkel im Dämmerlicht und war furchteinflößend anzuschauen. Aber seine Stimme klang beruhigend. »Durchdenke es. Du hast genug Zeit dazu. Ich habe die Absicht, dich hierzubehalten, bis dein Bruder dich suchen kommt oder seine Magie benutzt. So oder so muß ich ihn finden und warnen. Ich muß euch beide und jene, mit denen ihr eventuell in Kontakt kommt, beschützen. Hilf mir. Wir müssen deinen Bruder finden. Wir müssen es versuchen. Ich weiß, daß du mir jetzt nicht glaubst, doch das wird sich ändern.«

Coll schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«

Draußen grollte ein ferner Donner und verlor sich im Prasseln des Regens. »So viele Lügen sind dir von anderen erzählt worden«, sagte Felsen-Dall. »Mit der Zeit wirst du es einsehen.«

Er ging zur Zellentür und blieb noch einmal stehen. »Du bist lange genug in dieses Zimmer gesperrt gewesen. Während des Tages kannst du hinausgehen. Du brauchst nur an die Tür zu klopfen, wenn du hinaus möchtest. Geh hinunter in den Übungshof und trainiere mit den Waffen. Jemand wird dort sein, der dir helfen wird. Du mußt lernen, dich besser zu verteidigen. Aber begehe keinen Fehler. Du darfst nicht fort. Nachts wirst du wieder eingesperrt. Ich wünschte, es könnte anders sein, aber das geht leider nicht. Zu vieles steht auf dem Spiel.«

Er machte eine Pause. »Ich habe einen kurzen Besuch zu machen, eine Reise von ein paar Tagen. Jemand anderes braucht meine Aufmerksamkeit. Wenn ich zurückkomme, werden wir uns wieder unterhalten.«

Er musterte Coll eine Weile, als schätze er ihn irgendwie ab, dann wandte er sich um und ging hinaus. Coll schaute ihm nach, dann trat er wieder an das verschlossene Fenster und lugte in den Regen hinaus.


Er schlief schlecht in jener Nacht, geplagt von Träumen von finsteren Gestalten, die das Gesicht seines Bruders trugen, und wenn er wach wurde, quälte ihn, was man ihm gesagt hatte. Unsinn, war sein erster Gedanke. Lügen. Aber sein Instinkt sagte ihm, daß zumindest ein Teil davon der Wahrheit entsprach – und das wiederum unterstellte die unerfreuliche Möglichkeit, daß es alles stimmen konnte. Par ein Schattenwesen. Die Magie eine Waffe, die ihn zerstören konnte. Beide von finsteren Mächten jenseits ihres Verständnisses bedroht.

Er wußte nicht mehr, was er glauben sollte.

Als er aufwachte, klopfte er an die Tür. Ein Sucher in schwarzem Umhang ließ ihn hinaus und führte ihn hinunter in den Übungshof. Ein anderer, ein grober Kerl mit kahl rasiertem Schädel und Narben und Knoten überall bot ihm an, mit ihm zu kämpfen. Mit gepolsterten Keulen trainierten sie den ganzen Morgen. Coll schwitzte und strengte sich an. Es tat gut, den Körper wieder zu benutzen.

Später, als er wieder allein in der Zelle war, hellte der Nachmittag sich auf. Die Wolken wurden dünner, und die Sonne brach im fernen Süden hindurch. Er überdachte seine neue Lage. Er war noch immer ein Gefangener, aber es war nicht mehr ganz so schlimm. Er war nicht mehr in eine einzige Zelle eingesperrt. Man hatte ihm die Gelegenheit gegeben, stark und fit zu bleiben. Er fühlte sich nicht bedroht.

Ob Felsen-Dall Rätselspielchen mit ihm trieb, blieb natürlich abzuwarten. Wie auch immer, der Erste Sucher hatte einen Fehler begangen. Er hatte Coll Ohmsford die Gelegenheit gegeben, die Südwache zu erkunden.

Und damit die Gelegenheit, einen Fluchtweg zu finden.

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