22

Nacht lag über dem Westland als feuchtes, windstilles Leichentuch, die Tageshitze hielt sich mit eigensinnigem Trotz, lange nachdem der feurige Sonnenball hinter dem Horizont verschwunden war. Die Dunkelheit verweigerte auch nur das winzigste Maß an Erleichterung, keinen kühlenden Windhauch, kein Absinken der Temperatur. Die Schwüle des Tages wurzelte störrisch im Boden und wollte sich nicht vertreiben lassen. Wie ein Drache atmete sie Feuer aus ihrem unterirdischen Versteck. Insekten summten und flatterten in gezackten Bögen umher. Die Bäume ließen ihre Blätter hängen wie von der Hitze erschöpfte Riesen. Der Mond kroch über den südlichen Horizont, eine silbrig schimmernde Sichel im Dunst. Die einzigen Geräusche, die die Stille brachen, waren jene, die aus den Kehlen gejagter Kreaturen drangen, bevor ihre Jäger sie für immer zum Schweigen brachten.

Selbst in den heißesten aller Nächte hörte das Spiel von Leben und Tod nicht auf.

Wren Ohmsford und der große Fahrende Garth ließen ihre Pferde in den ausgetretenen Pfad einbiegen, der in die Stadt Grimpen Ward führte. Sie hatten eine Woche gebraucht, um von Tirfing hierher zu reisen. Sie hatten nur den Fahrenden bekannte Pässe über den Irrybis gewählt, waren den Wegen des Wilderun nach Norden und Westen gefolgt, hatten den trügerischen Shroudslip wohlweislich gemieden und waren endlich über den Whistle Ridge hinunter in den verruchten Sumpf des verrufensten Kaffs des Westlandes gelangt.

Wenn man nirgendwo mehr hinflüchten und untertauchen konnte, so sagte man, dann gab es noch immer Grimpen Ward. Diebe, Halsabschneider und Halunken aller Art fanden in dieser Gesetzlosenstadt Zuflucht. Umgeben von den Mauern des Irrybis- und des Rock-Spur-Gebirges, verschluckt von dem undurchdringlichen Dschungel des Wilderun, bot Grimpen Ward Aussteigern aller Art ein Refugium.

Doch es war gleichzeitig auch eine tödliche Falle, der nur wenige entkamen, eine Schlangengrube, wo jeder jedem als Beute diente, da es niemand anderen gab. Sie verschlangen sich gegenseitig mit skrupelloser Gleichgültigkeit und entartetem Vergnügen, aus einem wilden Bedürfnis heraus und aus Langeweile. Von jenen, die nach Grimpen Ward kamen, um ihr Leben zu retten, wurden die meisten enttäuscht.

Zwischen den Bäumen kam die Stadt in Sicht, und Garth und Wren wurden langsamer. Licht schien durch das Fensterglas schwarz verdreckter Häuser, die Fensterläden hingen schief in den Angeln, Mauern und Dächer waren so arg von Zeit und Vernachlässigung mitgenommen, daß sie aussahen, als wollten sie jeden Moment einstürzen. Türen standen in der fruchtlosen Hoffnung, etwas von der im Inneren gefangenen Hitze zu vertreiben, halb offen. Gelächter brach schneidend in die Stille des Waldes, grob, gezwungen, verzweifelt. Gläser klangen, und manche zersprangen dabei. Hin und wieder ertönte ein Schrei, einsam und körperlos.

Wren schaute Garth an und signalisierte: Wir verstecken die Pferde hier. Garth nickte. Sie lenkten ihre Reittiere zwischen die Bäume und ritten ein Stück von der Straße fort, bis sie eine geeignete Lichtung fanden, und banden die Pferde in einem Birkenhain an.

»Leise«, flüsterte Wren und bewegte dabei ihre Finger.

Sie bahnten sich den Weg zurück zur Straße und gingen weiter hinunter. Staub wirbelte unter ihren Stiefeln auf und legte sich als dunkle Schicht über ihre Gesichter. Sie waren den ganzen Tag geritten, eine langwierige Reise durch die unerträgliche Hitze, bei der sie die Pferde nicht antreiben konnten, ohne ihre Gesundheit zu gefährden. Der Wilderun war ein Morast mitsommerlicher Feuchtigkeit und Fäulnis, das Holz des Waldes verdörrte zu Stroh, der Boden war weich und gab trügerisch nach, die Flüsse und Trinkwasserteiche waren ausgetrocknet oder vergiftet, und die Luft wie in einem Hochofen ließ alles verdorren und vertrocknen. Wie unerträglich die Hitze auch in anderen Teilen der Vier Länder sein mochte, hier war sie immer doppelt so schlimm. Der Wilderun war ein stagnierender, ungastlicher Pfuhl, der seit langem als ein Ort betrachtet wurde, an dem die Ausgestoßenen der Vier Länder willkommen waren.

Banden von Fahrenden kamen häufig zum Feilschen und Tauschen nach Grimpen Ward. Die Fahrenden waren selbst Außenseiter der Gesellschaft und an die Merkwürdigkeiten und die Betrügereien der Menschen gewöhnt, überall sonst gebrandmarkte Geächtete und Unruhestifter, fühlten sie sich hier ganz zu Hause. Und doch reisten sie in engen Familienverbänden und verließen sich auf die Kraft der großen Zahl, der Sicherheit wegen. Selten wagten sie sich allein nach Grimpen Ward, wie Wren und Garth es jetzt taten.

Das zufällige Zusammentreffen mit einer kleinen Münzhändlerfamilie hatte das Mädchen und ihren riesigen Beschützer davon überzeugt, diese Chance wahrzunehmen. Gleich am Tag nach Garths erfolglosem Versuch, ihren Schatten zu verfolgen und in die Falle zu locken, waren sie einem alten Mann mit seinen Söhnen und ihren Frauen begegnet, die nach Norden über die Pässe von einer Reise in die Grube zurückkamen. Sie aßen mit ihnen und erzählten sich gegenseitig Geschichten, und Wren fragte einfach nur aus Gewohnheit, ob einer von ihnen etwas über das Schicksal der Westlandelfen wüßte. Der alte Mann hatte lächelnd seine zerbröckelten Zähne gezeigt und genickt.

»Ich selber nicht, Mädchen«, hatte er heiser gekrächzt und dabei an seiner Pfeife gekaut, die er rauchte, und seine grauen Augen gegen das Licht zugekniffen. »Aber in der Eisernen Feder in Grimpen Ward, da ist eine Alte, die was weiß. Die Aggershag nennt man sie. Hab’ nicht selbst mit ihr gesprochen, weil ich nicht in die Bierhäuser im Ward geh’, aber man sagt, die Alte kennt die Geschichte. Eine Seherin, sagt man. Wunderlich wie die Sünde, vielleicht irre.« Er beugte sich in den Schein des Feuers. »Sie benutzen sie irgendwie. Sind eine Bande heimtückischer Schlangen. Lassen sich von ihr die Geheimnisse verraten, um den anderen das Geld zu klauen.« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben uns da rausgehalten.«

Später, als die Familie schlief und sie allein waren, hatten Wren und Garth es besprochen. Die Gründe, dem Wilderun fernzubleiben, waren nur zu klar, aber es gab auch Gründe hinzugehen. Zum einen war da die Angelegenheit mit ihrem Schatten. Er war noch immer da, irgendwo außer Sicht und nicht zu fassen, sorgfältig versteckt wie die Drohung des einsetzenden Winters. Sie konnten ihn nicht erwischen, und trotz ihrer Bemühungen und Fähigkeiten konnten sie ihn auch nicht abschütteln. Er klebte an ihnen wie Spinnweben, wehte unsichtbar hinter ihnen her. Der Wilderun, überlegten sie, mochte weniger nach seinem Geschmack sein und mochte ihn, mit ein wenig Glück, zu Schaden kommen lassen.

Und zum anderen war da natürlich die unbestreitbare Tatsache, daß Wren, seit sie angefangen hatte, nach den Elfen zu fragen, zum allerersten Mal eine positive Antwort bekommen hatte. Es schien unvernünftig, der Sache nicht auf den Grund zu gehen.

So waren sie in den Wilderun gelangt, nur sie beide, allen Widerwärtigkeiten zum Trotz, entschlossen herauszufinden, welche Erkenntnisse ein Besuch in Grimpen Ward ihnen bringen würde. Jetzt, nach einer Woche des Reisens, würden sie es erfahren.

Sie steuerten auf das Stadtzentrum zu, ihre Augen huschten schnell, aber aufmerksam umher. Sie kamen an vielen Bierhäusern vorbei, doch sie fanden keine Eiserne Feder. Männer torkelten an ihnen vorbei und auch ein paar Frauen; alle wirkten zäh und hart und stanken nach Bier und Schweiß. Geschrei und Gelächter wurden lauter, und sogar Garth schien zu spüren, wie ungestüm und wild sie waren. Sein grobes Gesicht war grimmig und finster. Mehrere der Männer näherten sich Wren, betrunken und stumpf, geil auf Geld oder Lust, blind für die Gefahr, die sich in Garths Augen spiegelte. Der große Fahrende scheuchte sie davon.

An einer Straßenkreuzung entdeckte Wren eine Gruppe von Fahrenden, die am Ende der unbeleuchteten Straße auf dem Rückweg zu ihren Wagen waren. Sie rief sie an und fragte, ob sie die Eiserne Feder kannten. Einer schnitt eine Grimasse und wies in eine Richtung. Die Bande eilte ohne Kommentar davon. Wren und Garth gingen weiter.

Sie fanden die Kneipe im Zentrum von Grimpen Ward, ein ausladendes, baufälliges Gebäude aus zersplitterten Brettern und rostigen Nägeln. Der Verandavorbau war grell rot und blau angestrichen. Breite Doppeltüren standen offen und waren mit Stricken angebunden. Im Inneren drängten sich Männer an der langen Theke und auf Bretterbänken vor langen Tischen, sangen und tranken. Wren und Garth traten ein und spähten durch den heißen, rauchigen Dunst. Ein paar Köpfe drehten sich nach ihnen um; Augen starrten sie einen Moment an und wandten sich wieder ab. Keiner wollte Garths Blick begegnen. Wren drängte sich bis an die Theke und bestellte zwei Bier. Der Wirt, ein schmalgesichtiger Mann mit sicheren Händen, stellte die Krüge vor sie hin und wartete auf das Geld.

»Kennst du eine Frau namens Aggershag?« fragte Wren ihn.

Ausdruckslos schüttelte der Mann den Kopf, nahm sein Geld in Empfang und ging weg. Wren beobachtete, wie er stehenblieb und einem anderen Mann etwas zuflüsterte. Der Mann verschwand. Wren nippte an ihrem Bier, fand es unangenehm warm, ging an der Theke entlang und wiederholte ihre Frage. Niemand kannte Aggershag. Einer grinste geil und machte ein unzweideutiges Angebot. Dann sah er Garth und verkrümelte sich. Wren ging weiter. Ein zweiter Mann faßte nach ihr, und sie stieß seinen Arm beiseite. Als er wieder nach ihr fassen wollte, schlug sie ihm so heftig ins Gesicht, daß er das Bewußtsein verlor. Sie machte einen Bogen um ihn und hatte es eilig, diese Geschichte hinter sich zu bringen. Es wurde gefährlich, selbst mit Garth als Beschützer.

Am Ende der Theke blieb sie stehen. Ganz hinten am Ende des dunklen Saals saß eine Gruppe von Männern an einem Tisch. Einer von ihnen winkte ihr zu, wartete ab, ob sie ihn gesehen hatte, und winkte noch einmal. Sie zögerte und drängte sich dann mit Garth im Gefolge durch die Menge. Sie erreichte den Tisch und blieb außerhalb der direkten Reichweite vor den Männern, die dort saßen, stehen. Sie waren ein rauher Haufen – dreckig, unrasiert, mit teigigen Gesichtern und gefährlichen Frettchenaugen. Schwitzende Bierkrüge standen vor ihnen.

Der Mann, der sie herangewinkt hatte, fragte: »Wen suchst du, Mädchen?«

»Eine Seherin namens Aggershag«, erwiderte sie und wartete. Sie war sicher, daß er längst wußte, wen sie suchte und wo die Frau zu finden war.

»Was willst du von ihr?«

»Ich will sie nach den Elfen fragen.«

»Elfen gibt es nicht«, höhnte der Mann.

Wren wartete.

Der Mann beugte sich vor. Er hatte grobe Züge, und seine Augen waren bar jeglichen Gefühls. »Nimm mal an, ich würde mich entschließen, dir zu helfen. Würdest du dann auch was für mich tun?« Der Mann musterte sie eine Weile und grinste dann anmaßend. »Nicht das. Ich will nur, daß du für mich mit ihr redest, sie was fragst. An deinen Kleidern seh’ ich, was du bist. Du bist eine Fahrende. Und weißt du was? Die Aggershag ist auch eine Fahrende.« Er machte eine Pause. »Wußtest du nicht, was? Nun, sie hat keine Lust, mit uns zu reden, aber bei dir mag das anders sein, einer von ihresgleichen.« Sein Blick War hart und finster auf sie gerichtet. Er hatte die Maske abgelegt, das Spiel war im Gange. »Wenn ich dich zu ihr bringe, mußt du ihr ein oder zwei Fragen für mich stellen. Ist das ein Angebot?«

Wren wußte längst, daß der Mann sie umbringen wollte. Es war nur eine Frage, wie und wann er und seine Freunde es versuchen würden. Aber sie wußte auch, daß er vielleicht wirklich in der Lage war, sie zu Aggershag zu bringen. Sie wog die Risiken und den möglichen Gewinn gegeneinander ab. »Einverstanden«, sagte sie schließlich. »Aber mein Freund kommt mit.«

»Wie du willst«, grinste der Mann. »Natürlich kommen meine Freunde auch mit. Zur Sicherheit. Wir gehen alle.«

Wren schaute den Mann abschätzend an. Stämmig gebaut, muskulös, ein erfahrener Halsabschneider. Schnell signalisierte sie Garth etwas zu, wobei sie ihre Gesten vor den Männern am Tisch abschirmte. Garth nickte. Sie wandte sich wieder zum Tisch. »Ich bin bereit.«

Der Sprecher erhob sich, die anderen, ein gieriger, geil aussehender Haufen, ebenfalls. Es gab keinen Zweifel über ihr Vorhaben. Der Sprecher schlenderte an der Rückwand des Saals zum Ausgang. Wren folgte ihm wachsam und vorsichtig. Garth war einen Schritt hinter ihr, die anderen Männer von dem Tisch folgten. Sie gingen durch die Tür in einen leeren Flur und gelangten an einen Hinterausgang. Die Geräusche des Bierhauses verstummten abrupt, als sich die Tür hinter ihnen schloß.

»Ich will wissen«, sagte der Mann über seine Schulter hinweg, »wie sie die Spielkarten liest, wie sie das macht. Wie sie die Würfel lesen kann. Ich will wissen, wie sie sehen kann, was die Spieler denken.« Er grinste. »Was für dich, Mädchen, und was für mich. Ich muß schließlich auch leben.«

Er blieb unvermittelt vor einer Nebentür stehen, und Wren straffte sich. Aber der Mann achtete nicht auf sie, sondern langte in seine Tasche und holte einen Schlüssel hervor. Er schob ihn ins Schloß und drehte ihn um. Das Schloß öffnete sich mit einem Klick, und die Tür schwang auf. Der Mann tastete im Inneren herum und brachte eine Öllampe zum Vorschein, die er anzündete und Wren überreichte.

»Sie ist im Keller«, erklärte er und deutete durch die Tür. »Da halten wir sie im Moment. Sprich mit ihr. Nimm deinen Freund mit, wenn du willst. Wir warten hier.« Sein Lächeln war hart und unfreundlich. »Aber komm ja nicht wieder rauf, ohne mir was mitzubringen, dafür, daß ich dir geholfen habe. Verstanden?«

Die anderen Männer hatten sich hinter ihnen zusammengedrängt, und ihr Gestank füllte den engen Flur. Wren konnte ihren röchelnden Atem hören.

Sie trat vor den Sprecher und näherte ihr Gesicht auf wenige Zentimeter dem seinen. »Ich denke, daß Garth hier bei euch bleiben wird.« Sie hielt seinem Blick stand. »Für alle Fälle.«

Er zuckte unbehaglich mit den Schultern. Wren nickte Garth zu, wies auf die Tür mit der Treppe und auf die Männergruppe. Dann hielt sie die Lampe vor sich und stieg die Treppe hinunter.

Es war kein schöner Abstieg. Die Treppe verlief an einer mit Brettern verkleideten Lehmwand entlang, der Geruch von Erde lag schwer in der Luft. Es war kühler hier, wenn auch nur ein kleines bißchen. Insekten huschten um ihre Füße. Spinnweben streiften ihr Gesicht. Die Treppe knickte an einer weiteren Wand entlang und endete. Vor ihr lag im Lampenlicht der Keller.

Eine alte Frau kauerte an der gegenüberliegenden Wand, kaum sichtbar in der Finsternis. Ihr Leib war eine vertrocknete Hülle, ihr Gesicht war zu einem Netz aus Linien und Runzeln verschrumpelt. Zerzaustes, weißes Haar fiel ihr über die gebrechlichen Schultern, und ihre knorrigen Hände lagen gefaltet auf ihrem Schoß. Sie trug ein Stoffhemd und alte Stiefel. Wren näherte sich und kniete sich neben sie. Die Alte hob den Kopf, und Wren sah ihre milchigen, starren Augen. Die alte Frau war blind.

Wren stellte die Öllampe auf den Boden neben sie. »Bist du die Seherin, die man Aggershag nennt, altes Mütterchen?« fragte sie leise.

Die toten Augen blinzelten, und eine dünne Stimme krächzte: »Wer will das wissen? Sag mir deinen Namen.«

»Mein Name ist Wren Ohmsford.«

Der weißhaarige Kopf neigte sich in Richtung der Treppe und der Tür darüber. »Gehörst du zu denen?«

Wren schüttelte den Kopf. »Ich bin allein, mit einem Gefährten. Wir sind beide Fahrende.«

Die Alte hob ihre Hände und berührte Wrens Gesicht, erforschte ihre Züge, und die alten Hände strichen über die Haut des Mädchens wie trockene Blätter. Wren bewegte sich nicht. Die Alte zog die Hände wieder zurück.

»Du bist eine Elfe.«

»Ich habe Elfenblut.«

»Eine Elfe!« Die Stimme der alten Frau war rauh und eindringlich, ein Fauchen in der Stille des Bierhauskellers. Das runzlige Gesicht neigte sich zur Seite, als denke sie nach. »Ich bin Aggershag. Ich bin die Seherin der Zukunft und was sie enthält, die Wahrsagerin. Was willst du von mir?«

Wren schaukelte ein wenig auf ihren Stiefelabsätzen hin und her. »Ich suche die Westlandelfen. Ich erfuhr vor einer Woche, daß du wissen könntest, wo sie zu finden sind – falls es sie noch gibt.«

Die Aggershag kicherte leise. »Oh, es gibt sie noch. Allerdings. Aber sie zeigen sich nicht jedem – niemandem seit vielen Jahren. Ist es so wichtig für dich, Elfenmädchen, sie zu sehen? Suchst du sie, weil du ein Bedürfnis nach Deinesgleichen hast?« Die milchigen Augen starrten blind auf Wrens Gesicht. »Nein, nicht du. Trotz deines Blutes bist du in erste Linie eine Fahrende, und eine Fahrende hat Bedürfnis nach niemandem. Du lebst das Leben eines Wanderers, frei, jeden Weg zu wählen, den du willst, und du siehst deine Ehre darin.« Sie grinste, nahezu zahnlos. »Warum also?«

»Weil es ein Auftrag ist, der mir erteilt wurde – ein Auftrag, den anzunehmen ich mich bereiterklärt habe«, antwortete Wren vorsichtig.

»Ein Auftrag also!« Die Falten und Runzeln im Gesicht der Alten vertieften sich. »Beug dich näher, Elfenmädchen.«

Wren zögerte und lehnte sich dann zaghaft vor. Die Aggershag hob wieder ihre Hände und betastete noch einmal Wrens Gesicht, dann strichen sie über ihren Hals und ihren Körper. Als die alte Frau die Bluse auf der Brust des Mädchen berührte, riß sie die Hände zurück, als habe sie sich verbrannt. »Magie!« keuchte sie.

Wren schrak zusammen. Dann packte sie impulsiv die Handgelenke der Alten. »Was für eine Magie? Was meinst du damit?«

Aber die Aggershag schüttelte heftig den Kopf, kniff die Lippen zusammen und ließ den Kopf auf ihre eingefallene Brust sinken. Wren hielt sie noch einen Moment fest und ließ sie dann los.

»Elfenmädchen«, flüsterte dann die alte Frau. »Wer hat dich auf die Suche nach den Westlandelfen geschickt?«

Wren holte tief Luft gegen ihre Furcht. »Allanons Schatten«, erwiderte sie dann.

Der alte Kopf richtete sich mit einem heftigen Ruck wieder auf. »Allanon!« Sie stieß den Namen wie einen Fluch aus. »So! Ein Druidenauftrag also, wie? Nun gut. Hör mir also zu. Geh nach Süden durch den Wilderun, überquere das Irribysgebirge und folge der Küste der Blauen Spalte. Wenn du zu den Rock-Höhlen gelangst, entzünde ein Feuer und halte es drei Tage und drei Nächte am Brennen. Jemand wird kommen und dir helfen. Verstanden?«

»Ja«, antwortete Wren und fragte sich gleichzeitig, ob das wirklich der Fall war. Rock-Höhlen hatte die alte Frau gesagt? Waren das nicht irgendwelche riesigen Küstenvögel?

»Hüte dich, Elfenmädchen«, warnte die Alte und hob ihre magere Hand. »Ich sehe Gefahren, harte Zeiten, Verrat und unvorstellbare Übel auf dich zukommen. Meine Visionen sind in meinem Kopf, Wahrheiten, die mich mit ihrem Wahnsinn heimsuchen. Hör auf mich. Folge deinem eigenen Verstand, Mädchen. Traue niemandem!«

Sie gestikulierte wild und ließ sich dann wieder zusammensinken, ihre blinden Augen starr und hart. Wren schaute an ihrem Körper hinunter und erschrak. Das abgetragene Kleid der Frau war von ihren Stiefeln geglitten und ließ eine eiserne Kette sehen, die an ihre Beine geklammert worden waren.

Wren nahm die Hände der Alten in die ihren. »Altes Mütterchen«, sagte sie freundlich. »Ich möchte dich von hier befreien. Mein Freund und ich können dir helfen, wenn du es uns erlaubst. Es gibt keinen Grund, warum du hier als Gefangene bleiben solltest.«

»Gefangen? Ha!« Die Aggershag beugte sich vor und fletschte ihre Zähne wie ein drohendes Tier. »Wie ich aussehe und was ich bin, sind zwei verschiedene Dinge!«

»Aber die Kette …«

»Hält mich nicht eine Sekunde länger als ich will!« Ein boshaftes Lächeln verzerrte das runzlige Gesicht. »Diese Männer, diese Dummköpfe – sie haben mich gewaltsam geholt und in diesen Keller gekettet und erwarten, daß ich ihre Wetten für sie mache!« Sie senkte ihre Stimme. »Es sind kleine, gierige Gemüter, und alles, was sie interessiert, ist der Reichtum anderer. Ich könnte ihnen geben, was sie wollen; ich könnte ihre Wetten für sie machen und fortgehen. Aber es ist ein Spiel, das mir Spaß macht. Ich mag ihre Hänseleien. Ich mag den Klang ihres Gequengels. Ich erlaube ihnen, mich eine Weile festzuhalten, weil es mich amüsiert. Und wenn es mich nicht mehr unterhält, Elfenmädchen, wenn ich ihrer müde werde und beschließe, wieder freizukommen, nun, dann … das hier!«

Ihre knochigen Hände befreiten sich, drehten sich heftig vor Wrens Augen und verwandelten sich in sich windende, zischende Schlangen mit gefletschten Zähnen und hervorschnellenden, gespaltenen Zungen. Wren sprang zurück und hielt sich die Hände schützend vors Gesicht. Als sie wieder hinschaute, waren die Schlangen verschwunden.

Sie schluckte gegen ihre Angst an. »Waren … waren die echt?« fragte sie gequetscht mit gerötetem, erhitztem Gesicht.

Die Aggershag lächelte unheilverkündend. »Geh jetzt«, flüsterte sie. »Nimm, was ich dir gesagt habe, und nutz es, wie du willst. Und paß gut auf dich auf, Elfenmädchen. Hüte dich.«

Wren zögerte, abwägend, ob sie Antworten auf den Ansturm von Fragen erbitten sollte, die ihr durch den Kopf gingen. Sie entschied sich dagegen, nahm die Öllampe und erhob sich. »Auf Wiedersehen, altes Mütterchen«, sagte sie.

Sie ging zurück durch die Finsternis, kniff die Augen gegen das Licht der Öllampe zusammen, um die Treppe zu finden, fühlte, wie der Blick der Aggershag ihr folgte. Flink stieg sie die Treppe hinauf und schlüpfte wieder durch die Tür in den Bierhausflur.

Garth erwartete sie. Er stand der Männergruppe gegenüber, die ihnen aus dem Wirtssaal gefolgt waren. Die Geräusche des Schanksaals drangen durch die geschlossene Tür, gedämpft und heiser. Die Augen der Männer glänzten. Sie konnte ihre Gier fühlen.

»Was hat die Alte gesagt?« schnauzte der Anführer sie an.

Wren hob die Öllampe in die Höhe und schüttelte den Kopf. »Gar nichts. Sie weiß nichts über die Elfen, und falls doch, dann behält sie es für sich. Und was die Spiele angeht, auch darüber sagt sie kein Wort.« Sie machte eine Pause. »Mir scheint sie überhaupt keine Seherin zu sein. Ich glaube, sie spinnt einfach nur.«

Zorn funkelte in den Augen des Mannes. »Was für eine schlechte Lügnerin du bist, Mädchen.«

Wren verzog keine Miene. »Ich geb’ dir einen guten Rat, Halsabschneider. Laßt sie gehen. Es könnte dir das Leben retten.«

Der andere hatte plötzlich ein Messer in der Hand, eine metallene Klinge blitzte aus dem Nichts auf. »Aber nicht deines …«

Er sprach nicht zu Ende, denn Wren hatte schon die Öllampe auf den Boden vor seine Füße geschmettert, das Glas zersplitterte, das Öl spritzte über die Holzbretter, und Flammen explodierten rundum. Das Feuer erfaßte die hölzernen Bohlen und Wände. Der Sprecher fing Feuer, schrie auf und taumelte in die Arme seiner verblüfften Gefährten. Garth und Wren flüchteten in die andere Richtung und erreichten die Hintertür in wenigen Sekunden. Garth rammte mit der Schulter dagegen, und die Holztür flog aus den Angeln, als wäre sie aus Papier. Das Mädchen und der große Fahrensmann stürmten durch die Öffnung in die Nacht hinaus, und wütendes Gebrüll und Angstgeschrei klangen hinter ihnen her. Sie jagten zwischen den Gebäuden der Stadt entlang, schnell und leise, und erreichten kurz darauf wieder die Hauptstraße von Grimpen Ward.

Dann verlangsamten sie ihre Schritte, schauten sich um und lauschten. Nichts. Das Geschrei und Gelächter der nächstgelegenen Bierhäuser übertönte, was dahinter lag. Sie sahen kein Zeichen von Feuer. Und keine Anzeichen einer Verfolgung.

Nebeneinander wanderten Wren und Garth die Straße, auf der sie gekommen waren, zurück, ruhig und ohne Hast schlenderten sie zwischen den Nachtschwärmern durch die Hitze und die Finsternis.

»Wir gehen nach Süden zur Blauen Spalte«, verkündete Wren in der Fingersprache, als sie den Stadtrand erreichten.

Garth nickte ohne Kommentar.

Dann verschwanden sie in der Nacht.


Загрузка...