Fünf Tage lang wanderten sie nordwärts durch das Land jenseits der Charnalberge, ein grünes, sanftes Hügelland mit hohem Gras und Feldern voller Wildblumen, hin und wieder kleinen Wäldern mit Kiefern, Espen und Fichten. Bäche und Flüsse schlängelten sich in Mäandern silberner Bänder von den Bergen herunter, bildeten Seen, die wie Spiegel in der Sonne glänzten und kühlende Brisen aussandten. Es war leichter, hier zu reisen als im Gebirge. Das Gelände war weit weniger steil, der Boden sicher und das Wetter mild. Die Tage waren sonnig, die Nächte lau und voll von süßen Düften. Der Himmel streckte sich weit und tief und blau von einem Horizont zum anderen. Es regnete nur einmal, einen sanften, freundlichen Regen, der die Bäume und das Gras anfeuchtete und fast unbemerkt vorüberging. Die Stimmung der Gruppe war gut: Ihre Schritte waren kraftvoll und schnell. Die Sorgen um das, was ihnen bevorstand, wurden von neuer Zuversicht und einem gewissen Wohlbefinden gedämpft. Die Zweifel steckten halbvergessen in den dunklen Tiefen ihres Bewußtseins. Die Stunden meißelten an den launischen Temperamenten mit gemächlicher, stetiger Präzision, als würden sie von dem Werkzeug eines Steinmetzen geebnet und geformt, bis alle scharfen Kanten verschwanden und nur noch die glatte Oberfläche angenehmer Gesellschaft übrigblieb.
Selbst Walker Boh und Pe Ell hielten einen unausgesprochenen Waffenstillstand. Niemand konnte behaupten, daß sie auch nur die geringste Neigung dazu hätten, miteinander Freundschaft zu schließen, doch sie hielten freundlich Abstand zueinander, und beide zeigten ein wohleinstudiertes Desinteresse aneinander. Für den Rest der Gruppe war Unveränderlichkeit die Verhaltensnorm. Horner Dees blieb mürrisch und barsch, Carisman unterhielt sie mit Geschichten und Liedern, und Morgan und Quickening spielten und fochten mit Blicken und Gesten in einem Liebestanz, der allen außer ihnen ein Mysterium blieb. Bei allen, außer vielleicht Carisman, gab es eine Unterströmung von Vorsicht und Verschwiegenheit. Carisman schien unfähig, mehr als nur ein Gesicht zu zeigen. Doch die übrigen waren in ihren dunklen Momenten vorsichtig und sehr darauf bedacht, ihre Zweifel und Befürchtungen in Schach zu halten, in der Hoffnung, daß sich eine Mischung aus Glück und Entschlossenheit als ausreichend erweisen würde, sie heil bis ans Ende ihrer Reise zu bringen.
Den Anfang von diesem Ende brachte der nächste Tag mit einer schrittweisen Veränderung der Landschaft. Das Grün, das die Wälder und Hügel im Süden geschmückt hatte, verblaßte zu Grau. Blumen wurden immer seltener, das Gras welk und trocken. Bäume, die voll üppigen Laubs sein sollten, waren verkümmert und kahl. Vögel, die nur eine Meile weiter südlich in großer, bunter Schar gesungen hatten und umhergeflogen waren, fehlten ebenso wie das Kleinwild oder größere, huf- oder hörnertragende Tiere. Es war, als habe eine Dürre das Land heimgesucht und alles Leben vernichtet.
Am späten Morgen standen sie auf dem Kamm einer Erhebung und schauten über das trostlose Land, das sich vor ihnen auftat.
»Schattenwesen«, erklärte Morgan finster.
Doch Quickening schüttelte ihre Silbermähne und erwiderte: »Uhl Belk.«
Mittags wurde es schlimmer, und noch schlimmer bei Einbruch der Nacht. Sämtliche Spuren von Gras und Blättern waren verschwunden. Selbst die winzigsten Kräuter weigerten sich, hier zu wachsen. Stämme reckten ihre skelettartigen Glieder in den Himmel, als flehten sie um Hilfe und Schutz. Das Land schien so gründlich verwüstet, daß nichts mehr zu wachsen wagte, eine weite Wildnis, die leer und kahl und freudlos geworden war. Staubwolken wirbelten unter ihren Schritten auf, als sie über den toten Boden stapften, wie der vergiftete Atem der Erde. Nichts regte sich um sie herum, über ihnen, unter ihnen – keine Tiere, keine Vögel, nicht einmal Insekten. Es gab kein Wasser. Der Erde entströmte ein metallischer, schaler Geruch. Wolken sammelten sich wieder, erst nur vereinzelt, dann immer dichter, bis eine undurchdringliche Wolkendecke wie ein Leichentuch über dem Land lag.
In jener Nacht lagerten sie in einem Wald aus toten Bäumen, wo die Luft so still war, daß sie einander atmen hören konnten. Das Holz wollte nicht brennen, und so hatten sie kein Feuer. Licht von einer Mischung von Elementen im Boden spiegelte sich an der dichten Wolkendecke und warf die Schatten der Bäume als Netzwerk über ihre zusammengekauerten Gestalten.
»Morgen bei Einbruch der Nacht sind wir da«, sagte Horner Dees, als sie einander in der Stille gegenübersaßen. »Eldwist.«
Finstere Blicke waren die einzige Antwort.
Von da an war Uhl Belks Anwesenheit nicht mehr zu übersehen. Er lauerte in ihrer Nähe in der einfallenden Dämmerung, schlief bei ihnen in jener Nacht und wanderte mit ihnen, als sie am nächsten Tag aufbrachen. Sie atmeten seinen Atem, seine Stille war die ihre. Sie fühlten, wie er sie heranwinkte, wie er sich nach ihnen ausstreckte, um sie aufzulesen. Niemand sprach es aus, aber Uhl Belk war da.
Gegen Mittag war das Land zu Stein erstarrt. Es war ganz und gar krank, welk und leblos geworden, und jeglicher Farbe außer Grau beraubt. Alles war perfekt konserviert wie eine riesige Skulptur. Bäume und ihre Äste, Gestrüpp und Gräser, Felsen und Erde – alles war, so weit das Auge reichte, zu Stein geworden. Es war eine öde, frostige Landschaft, die trotz ihrer Kälte eine merkwürdig anziehende Schönheit ausstrahlte. Die Gruppe aus Rampling Steep war verzückt. Vielleicht war es die Solidität, die sie anzog, das Gefühl, daß hier etwas Dauerhaftes, Beständiges und irgendwie perfekt Gestaltetes vor ihnen lag. Die Verheerungen der Zeit, der Wechsel der Jahreszeiten, die eingreifendsten Bemühungen des Menschen – es war, als ob nichts von alledem hier etwas ausrichten könnte.
Horner Dees nickte, und sie gingen weiter.
Dunst hing über ihnen, als sie über diesen Teppich erstarrter Zeit wanderten, und nur unter Mühen konnten sie nach mehreren Stunden etwas anderes in der Ferne schimmern sehen. Es war eine weite Wasserfläche, so grau wie das Land, über das sie wanderten, die mit dieser Öde verschmolz, eine Kulisse, die sich so trostlos mit Himmel und Erde verband, als wäre der Übergang ohne Bedeutung.
Sie hatten den Gezeitenstrom erreicht.
Zwei Berggipfel kamen in Sicht, gezackte Felsspiralen, die sich starr vor dem Horizont abzeichneten. Es stand außer Frage, daß die Gipfel ihr Ziel darstellten.
Ab und zu rumpelte die Erde unter ihnen unheilverkündend, und ein Beben erschütterte sie, als wäre das Land ein Teppich, den ein Riese schüttelte. Das Beben hatte keine erkennbare Ursache, aber Horner Dees wußte etwas. Morgan erkannte es an der Art, wie er sein bärtiges Kinn gegen seine Brust preßte und Angst in seinem Blick lag.
Nach einiger Zeit verengte sich das Land zu beiden Seiten, und der Gezeitenstrom rückte näher. Sie folgten einem immer schmaler werdenden Felsenstreifen, der sie direkt zu den Zwillingsbergen führte auf einer Rampe, die möglicherweise im Meer endete. Die Temperatur sank, und die Luftfeuchtigkeit bildete Tröpfchen auf ihrer Haut. Ihre Stiefel waren seltsam geräuschlos auf dem harten Fels, während sie stetig weiter in den Dunst trotteten. Bald waren sie nur noch eine Reihe von Schemen in der einfallenden Dämmerung. Dees marschierte vorneweg, alt, massig und beständig. Morgan folgte mit Quickening. Das Gesicht des großen Hochländers war von Besorgnis gezeichnet, Quickenings dagegen glatt und ruhig. Der hübsche Carisman summte vor sich hin, während sein Blick so schnell herumhuschte wie ein Vogel. Walker Boh glitt blaß und nach innen gekehrt in seinem weiten Umhang hinter ihnen her. Pe Ell bildete den Schluß, seine Jägeraugen sahen alles.
Vor ihnen spaltete sich die Rampe in einem Steilabbruch, aus dem seltsame Felsformationen ins Licht ragten. Es hätten irgendwelche Skulpturen sein können, außer daß sie keinerlei bekannte Form hatten. Wie Säulen, die im Laufe von Jahrtausenden von der zornigen Hand des Wetters zerschlagen worden waren, bauchten und winkelten sie sich zu bizarren Bildern, wahnhaften Visionen eines Verrückten. Die Gruppe ging zwischen ihnen entlang, furchtsam eilten sie in ihrem Schatten voran.
Schließlich erreichten sie die Felsengipfel. Zwischen den beiden war eine Kluft, ein tiefer, enger Spalt, der den Eindruck erweckte, als sei er das Ergebnis einer gewaltigen Naturkatastrophe, die entzweigespalten hatte, was einst ein einziger Berg gewesen war. Die beiden Spitzen türmten sich zu beiden Seiten, Felsspiralen, die in die Wolken hinaufragten, als wollten sie sie festnageln. Der Himmel war trüb und dunstig, und die Wogen des Gezeitenstroms brachen und donnerten gegen die Felsenufer.
Horner Dees ging voraus, und die anderen folgten, bis sie alle von den Schatten umgeben waren. Die Luft war eisig und still in der Kluft, nur die fernen Rufe von Seevögeln hallten schrill durch die Luft. Was für Geschöpfe außer dem Meeresgetier konnten in dieser Umgebung wohl leben, fragte sich Morgan Leah unbehaglich. Er zog sein Schwert. Sein ganzer Körper war gespannt, und er spähte angestrengt um sich, suchte nach einem Zeichen der Gefahr, deren Drohen er spürte. Dees ging gebeugt wie ein Tier auf Jagd, und die drei hinter dem Hochländer waren wie Geister ohne Substanz. Nur Quickening schien unbeeinträchtigt, mit hocherhobenem Kopf wanderten ihre Augen wachsam über den Fels, den Himmel und das Grau, das alles umhüllte.
Morgan schluckte gegen die Trockenheit in seiner Kehle an. Was ist das, was uns hier erwartet? Die Wände der Kluft schienen sich über ihren Köpfen zu berühren, und für einige Zeit befanden sie sich in völliger Finsternis. Nur der schmale Lichtschlitz vor ihnen ließ erkennen, daß sie nicht in einer Gruft eingeschlossen waren. Dann verbreiterte sich der Spalt wieder, und es wurde heller. Die Kluft öffnete sich auf ein Tal, das zwischen den beiden Gipfeln eingebettet lag. Flach, zerfurcht, erstickt unter den Überresten von Bäumen und Gestrüpp, mit Felsbrocken vielfach größer als ein Mann, war es eine häßliche Anhäufung vom Abfall der Natur und dem Müll der Zeit. Überall lagen Skelette in riesigen Haufen, alle Größen und Formen, zerschmettert und zerbrochen, so daß man nicht mehr erkennen konnte, was es für Geschöpfe gewesen sein mochten.
Horner Dees ließ sie anhalten. »Das ist die Knochensenke«, sagte er leise. »Das Tor nach Eldwist. Dort drüben jenseits der Senke zwischen den Gipfeln beginnt Eldwist.«
Die anderen drängten herbei, um besser sehen zu können. Walker Boh erstarrte. »Da unten ist etwas.«
Dees nickte. »Vor zehn Jahren hab’ ich das auf die unsanfte Art herausgefunden«, sagte er. »Es ist ein Koden. Der Wachhund des Steinkönigs. Siehst du ihn?«
Sie spähten, doch sie sahen nichts, nicht einmal Pe Ell. Dees ließ sich schwerfällig auf einem Felsbrocken nieder. »Ihr werdet ihn nicht sehen. Nicht, bevor er euch erwischt hat. Und dann spielt es keine Rolle mehr, nicht wahr? Ihr könntet alle die armen Kreaturen da unten fragen, wenn sie noch Zungen hätten und lebten, um sie zu benutzen.«
Morgan stieß mit seinem Stiefel an einen toten Ast, während er zuhörte. Das Holz war schwer und gab nicht nach. Stein. Morgan schaute es an, als verstehe er es zum ersten Mal. Stein. Alles unter ihren Füßen, alles um sie herum, alles so weit das Auge reichte – alles war aus Stein.
»Koden sind eine Bärenart«, berichtete Dees. »Riesige Kerle, die oben in den kalten Regionen im Norden der Gebirge leben. Sie bleiben ziemlich unter sich. So oder so sehr unberechenbar. Aber dieser hier?« Er nickte geheimnisvoll. »Er ist ein Monster.«
»Riesig?« fragte Morgan.
»Ein Monster«, betonte Dees. »Nicht nur von der Größe her, Hochländer. Dieses Ding ist kein Koden mehr. Man kann noch erkennen, was es eigentlich sein sollte, aber nur so gerade eben. Belk hat irgendwas mit ihm gemacht. Blind gemacht, zum einen. Er kann nichts sehen. Aber seine Ohren sind so scharf, daß er eine Nadel fallen hört.«
»Dann weiß er also, daß wir hier sind«, vermutete Walker und trat an Dees vorbei, um einen besseren Blick in die Senke zu werfen. Seine Augen waren dunkel und nachdenklich.
»Schon seit geraumer Zeit, nehme ich an. Er wartet da unten darauf, daß wir versuchen durchzugehen.«
»Falls er überhaupt noch da ist«, sagte Pe Ell. »Es ist schon lange her, seit du hier warst, Alter. Inzwischen mag er tot und verschwunden sein.«
Dees schaute ihn mitleidig an. »Warum gehst du nicht runter und schaust mal nach?«
Pe Ell schenkte ihm ein schiefes, frostiges Lächeln.
Der alte Fährtensucher wandte sich ab und ließ seinen Blick wieder über sie Senke wandern. »Zehn Jahre sind es her, seit ich ihn gesehen habe, und ich kann ihn noch immer nicht vergessen«, flüsterte er. Er schüttelte sein ergrautes Haupt. »So was furchtbares wie ihn vergißt man nicht.«
»Vielleicht hat Pe Ell recht; vielleicht ist er inzwischen tot«, schlug Morgan hoffnungsvoll vor. Er schaute Quickening an, deren Blick auf Walker fixiert war.
»Nicht dieses Ding.« Dees war sich sicher.
»Nun, warum können wir ihn dann nicht sehen, wenn er so riesig und so scheußlich ist?« fragte Carisman und lugte dabei vorsichtig über Morgans Schulter.
Dees kicherte. Seine Augen verengten sich. »Man kann ihn nicht sehen, weil er genauso aussieht wie alles andere da unten – wie Stein, ganz grau und hart, nur ein weiterer Felsbrocken. Schaut selbst. Einer von diesen Brocken, einer von diesen Findlingen, etwas, das nach nichts aussieht – das ist er. Liegt einfach nur da, absolut reglos. Und wartet.«
»Und wartet«, wiederholte Carisman.
Er begann zu singen:
»Drunten im Tal, im steinigen Karst,
im Gebein seiner Opfer,
liegt der Koden und wacht.
Er lauert in seinem steinernen Horst,
bis sein er dich macht.«
»Sei still, Sänger«, warnte Pe Ell mit drohendem Unterton in der Stimme. Dann wandte er sich stirnrunzelnd an Dees. »Du bist an ihm vorbeigekommen, wenn wir glauben, was du uns erzählst. Wie hast du das gemacht?«
Dees lachte laut auf. »Ich hatte einfach Schwein! Ich hatte zwölf Mann bei mir, und wir gingen hinunter, Dummköpfe alle miteinander. Er konnte uns nicht alle kriegen, nicht, nachdem wir angefangen hatten zu rennen. Nein, er mußte sich mit dreien zufriedengeben. Das war auf dem Hinweg. Auf dem Rückweg kriegte er nur einen. Aber da waren wir nur noch zu zweit. Ich war derjenige, den er verpaßt hat.«
Pe Ell starrte ihn ausdruckslos an. »Wie du gesagt hast, Alter – Schwein gehabt.«
Dees stand auf, so bärenhaft wie irgendein Koden, den Morgan sich vorstellen konnte, mürrisch und abweisend. Er stellte sich vor Pe Ell, als wollte er ihn angreifen. »Es gibt viele Sorten von Glück«, sagte er. »Manches hast du, manches machst du dir selbst. Manches hast du bei dir, manches sammelst du unterwegs auf. Ihr werdet alle Sorten brauchen, um nach Eldwist und wieder hinauszugelangen. Der Koden ist etwas, wovon du in deinen schlimmsten Nächten nicht träumen wolltest. Aber eins kann ich dir sagen. Wenn du gesehen hast, was da unten sonst noch ist, jenseits der Knochensenke, dann brauchst du dir wegen des Kodens keine Sorgen mehr zu machen. Denn die Träume, die dich danach heimsuchen werden, handeln von anderen Sachen!«
Pe Ells Achselzucken war verächtlich und ablehnend. »Träume sind was für alte Männer, Horner Dees.«
Dees funkelte ihn an. »Mutige Worte für den Augenblick.«
»Ich kann ihn sehen«, sagte Walker Boh plötzlich.
Seine Stimme war leise, fast nur ein Flüstern, aber es brachte die anderen sofort zum Schweigen. Sie drehten sich nach ihm um. Der Dunkle Onkel starrte hinaus auf die Trostlosigkeit der Knochensenke. Ihm war offenbar nicht bewußt geworden, daß er etwas gesagt hatte.
»Den Koden?« fragte Dees barsch. Er trat einen Schritt näher.
»Wo?« fragte Pe Ell.
Walkers Geste war undeutlich. Morgan schaute trotzdem in die Richtung, doch er konnte nichts erkennen. Er sah die anderen an. Keiner von ihnen schien etwas sehen zu können. Doch Walker Boh achtete nicht auf sie. Er schien eher auf etwas zu lauschen.
»Wenn du ihn wirklich sehen kannst, dann zeig ihn mir«, sagte Pe Ell schließlich mit sorgsam neutral klingender Stimme.
Walker reagierte nicht. Er fuhr fort, hinunterzustarren. »Es fühlte sich an …«
»Walker?« flüsterte Quickening und berührte seinen Arm.
Sein bleiches Antlitz wandte sich endlich von der Senke ab, und seine dunklen Augen fanden die ihren. »Ich muß ihn finden«, sagte er. Dann schaute er einen nach dem anderen an. »Wartet hier, bis ich euch rufe.«
Morgan wollte protestieren, doch etwas im Blick des Dunklen Onkels ließ ihn innehalten.
Statt dessen beobachtete er zusammen mit den übrigen, wie Walker Boh allein in die Knochensenke stieg.
Es war ein stiller Tag, kein Windhauch regte sich, und nichts bewegte sich in der karstigen Weite der Senke, mit Ausnahme von Walker Boh. Er überquerte leise die zersplitterten Steine wie ein Gespenst, das keinen Laut macht und keine Spur hinterläßt. In den letzten Wochen war es mehrfach vorgekommen, daß er sich als ziemlich genau das gefühlt hatte. Er wäre fast an dem Gift des Asphinx zugrunde gegangen, dann erneut bei dem Angriff der Schattenwesen in Hearthstone. Ein Teil von ihm war sicherlich zusammen mit seinem Arm gestorben, ein weiterer Teil beim Versagen seiner Magie, seine Krankheit zu heilen. Ein Teil von ihm war mit Cogline gestorben. Auf dieser Reise war er leer und verloren gewesen, zum Mitgehen gedrängt von seinem Zorn auf die Schattenwesen, der Furcht, allein zu sein, und dem Wunsch, das Geheimnis von Uhl Belk und dem schwarzen Elfenstein zu lüften. Nicht einmal Quickening, trotz ihrer Bemühungen, ihm physisch wie seelisch zur Hilfe zu kommen, war stark genug gewesen, ihn sich selbst wiederzugeben. Er war ein hohles Gehäuse all dessen, was und wer er sein sollte, beraubt, und zu diesem Unternehmen in der schwachen Hoffnung bereit, daß es ihm helfen könnte, seine Aufgabe in dieser Welt zu erkennen.
Und nun glaubte Walker Boh in diesem weiten, trostlosen Tal, wo Ängste und Zweifel und Schwächen am schneidendsten zu fühlen waren, er habe eine Chance, wieder lebendig zu werden.
Es war die Gegenwart des Kodens, die seine Hoffnung anstachelte. Bis jetzt war die Magie merkwürdig still in ihm gewesen, ein erschöpftes, müdes Ding, das mehrfach versagt hatte und schließlich aufgegeben zu haben schien. Sicherlich, sie war noch dagewesen, als er bedroht wurde, um die Urdas abzuschrecken, die zu nah gekommen waren, und ihre Wurfgeschosse abzulenken. Doch das war eine ärmliche, magere Sache im Vergleich zu dem, was er einst damit hatte ausrichten können. Was war aus dem Einfühlungsvermögen mit anderen Lebewesen geworden, daß sie ihm gestattet hatte? Was aus seinem Gefühl für Emotionen und Gedanken? Und was aus dem Wissen, daß ihm immer zugefallen zu sein schien? Was aus den flüchtigen Einblicken auf das, was kommen würde? All das hatte ihn verlassen, war so gewiß entschwunden wie seine alte Welt, wie sein Leben mit Cogline und Ondit in Hearthstone. Einst hatte er sich gewünscht, es wäre so, hatte gewünscht, die Magie würde ihn freigeben und verschwinden, er würde in Frieden sein und ein Mensch wie jeder andere. Doch im Laufe dieser Reise, als sein Verständnis, wer und was er war, durch den Tod von Cogline und Ondit und durch seine eigene körperliche und seelische Verheerung noch gesteigert worden war, war ihm immer klarer geworden, daß dieser Wunsch töricht gewesen war. Er konnte niemals wie andere Menschen sein, und er hätte ohne die Magie nie den Frieden. Er konnte nicht ändern, wer und was er war. Cogline hatte es gewußt und versucht, ihm klarzumachen. Auf dieser Reise hatte er erkannt, daß es stimmte.
Er brauchte die Magie.
Ihn verlangte danach.
Jetzt würde er prüfen, ob er sie noch immer sein eigen nennen konnte. Er hatte die Nähe des Kodens gefühlt, noch ehe Pe Ell sie wahrgenommen hatte. Er hatte gefühlt, was er war, ehe Horner Dees ihn beschrieben hatte. Zwischen den umherliegenden Felsbrocken, zusammengekauert und still, hatte er ihn angerührt, wie andere Geschöpfe es getan hatten, wenn er in die Nähe gekommen war. Er konnte fühlen, wie der Koden nach ihm rief. Walker Boh war nicht sicher, weshalb er das tat, doch er wußte, daß er darauf eingehen mußte. Es war mehr als nur die Not der Kreatur, auf die er reagierte; es war auch seine eigene.
Er ging geradewegs durch das Gewirr von Felsbrocken und versteinertem Holz zu der Stelle, wo der Koden wartete. Er hatte sich nicht gerührt, nicht einmal einen Zentimeter, seit die Gruppe angekommen war. Aber Walker wußte trotzdem, wo er versteckt lag, denn seine Nähe hatte die Magie wiedererweckt. Es war eine unerwartete, aufregende und seltsam beruhigende Erfahrung, die Kraft in seinem Inneren zum Leben erwachen zu fühlen, zu erkennen, daß sie nicht verloren war, wie er angenommen hatte, sondern nur versteckt.
Oder unterdrückt, wies er sich barsch zurecht. Er hatte sich wirklich mit aller Kraft bemüht, abzuleugnen, daß sie existierte.
Nebel ringelte sich zwischen den Felsen hindurch, weiße Tentakel, die seltsame Formen und Muster vor dem grauen Land bildeten. Weit in der Ferne jenseits der Berggipfel und des Tales, das sie umschlossen, konnte Walker die Ozeanwellen gegen das Ufer donnern hören, ein dumpfes Dröhnen, das durch die Stille hallte. Er verlangsamte seine Schritte. Der Koden war direkt vor ihm, und er konnte seine Furcht, ins Verderben gelockt zu werden, sich mit seiner Magie nicht schützen zu können und ums Leben zu kommen, nicht ganz unterdrücken. Würde es etwas ausmachen, wenn er umkäme, fragte er sich plötzlich. Er schob den Gedanken beiseite. In seinem Inneren konnte er die Magie fühlen, heiß wie ein frisch geschürtes Feuer.
Zwischen zwei Findlingsblöcken hindurch gelangte er in eine Vertiefung, und der Koden erhob sich katzenschnell vor ihm. Er schien sich aus dem Boden zu materialisieren, als habe sich der Staub plötzlich zusammengefügt, um ihm Gestalt zu geben. Er war riesig und alt und grau, dreimal so groß wie Walker, mit gewaltigen, zottigen Gliedmaßen und gezackten, gelben Krallen, die sich um den Felsen klammerten. Er richtete sich auf den Hinterläufen auf, um sich ihm zu zeigen, und sein verzerrtes Maul öffnete sich und legte eine Reihe gleißender Zähne frei. Seine blinden, weißen Augen schauten auf ihn hinunter. Walker blieb standhaft, sein Leben hing an einem seidenen Faden, den ein kleiner Hieb einer der riesigen Pranken zerreißen konnte. Walker erkannte, daß Kopf und Körper des Koden durch irgendeinen finsteren Zauber verzerrt worden waren, um das Wesen grotesker erscheinen zu lassen, und daß die Symmetrie seiner Gestalt, die einst seiner Kraft Grazie verliehen hatte, zerstört worden war.
Sprich zu mir, dachte Walker Boh.
Der Koden klapperte mit den Augendeckeln und ließ sich dann auf alle viere fallen, so daß sich seine Schnauze nur wenige Zentimeter vor Walkers Gesicht befand. Der Dunkle Onkel zwang sich, dem leeren Blick der Kreatur standzuhalten. Er konnte seinen heißen, fauligen Atem fühlen.
Sag es mir, dachte er.
Einen kurzen Moment lang war er überzeugt, daß er sterben würde, daß die Magie ihn ganz und gar betrogen hatte, daß der Koden die Pranke heben und ihn niederschlagen würde. Er erwartete die Klauen, erwartete sein Ende. Dann hörte er, wie das Wesen ihm antwortete, hörte die gutturalen Töne seiner eigenen Sprache, verzerrt und verformt von der Magie.
Hilf mir, sagte der Koden.
Wärme durchflutete Walker. Leben kehrte in einer Weise in ihn zurück, die er nicht beschreiben konnte, so, als wäre er wiedergeboren und könnte wieder an sich selbst glauben. Ein Anflug von Lächeln huschte über sein Gesicht. Die Magie war noch immer die seine.
Langsam streckte er seinen gesunden Arm aus und berührte die Schnauze des Kodens, fühlte mit seinen Fingerspitzen mehr als nur seine rauhe Haut und sein borstiges Fell, er fand auch den Geist des Geschöpfs, der darin gefangen war. Der Dunkle Onkel las mit dieser Berührung seine Geschichte und fühlte seinen Schmerz. Er trat näher, um seinen massigen, geschundenen Leib zu untersuchen. Er hatte keine Angst mehr vor seiner Größe oder seiner Häßlichkeit oder seiner zerstörerischen Gewalt. Es war ein Gefangener, erkannte er – verschreckt, zornig, verwundert und verzweifelt wie alle Gefangenen –, der nichts anderes wollte als seine Freiheit.
»Ich werde dafür sorgen«, flüsterte Walker Boh.
Er versuchte herauszufinden, wie der Koden gefesselt war, doch er sah nichts. Wo waren die Ketten, die ihn banden? Er ging um das Tier herum, prüfte die Beschaffenheit und das Gewicht von Luft und Boden. Der riesige Kopf drehte sich ihm nach, versuchte, ihm zu folgen, die blinden Augen starrten hinter ihm her. Walker vollendete den Kreis und blieb stirnrunzelnd wieder stehen. Er hatte die unsichtbaren magischen Stricke gefunden, die der Steinkönig gemacht hatte, und er wußte, was nötig war, um die Kreatur zu befreien. Der Koden war ein Gefangener seiner Mutation. Er würde wieder in einen Bären zurückverwandelt werden müssen, in das, was er vorher gewesen war, und er mußte von Uhl Belks Berührung gereinigt werden. Doch Walker verfügte nicht über die Magie, die dazu nötig war. Nur Quickening besaß die Kraft dazu, die Magie, die stark genug war, die Meadegärten aus der Asche der Vergangenheit wiedererstehen zu lassen, wiederherzustellen, was einst war. Doch sie hatte bereits gesagt, daß sie ihre Magie nicht einsetzen durfte, ehe sie den schwarzen Elfenstein zurückgewonnen hatten. Walker stand da, schaute den Koden hilflos an und versuchte zu entscheiden, ob er irgend etwas tun konnte. Das Tier drehte sich zu ihm um. Seine riesige, zerlumpte Gestalt schimmerte staubig vor dem grauen Hintergrund.
Walker streckte noch einmal seine Hand aus und ließ seine Finger auf der Schnauze des Kodens ruhen. Seine Gedanken formten sich zu Worten. Laß uns durch, und wir werden einen Weg finden, dich zu befreien.
Der Koden starrte ihn aus dem Gefängnis seines geschundenen Leibes an, seine toten Augen waren hart und leer. Geht, sagte er.
Walker hob seine Hand nur so lange, wie er brauchte, um seinen Gefährten ein Zeichen zu geben, dann legte er sie wieder zurück. Die anderen näherten sich zögernd. Quickening ging voran, gefolgt von Morgan Leah, Horner Dees, Carisman und Pe Ell. Er beobachtete kommentarlos, wie sie vorbeigingen, hielt seinen Arm ausgestreckt und seine Hand ruhig. Er sah, was in ihren Augen zu lesen stand. Es war eine seltsame Mischung von Gefühlen. Nur in Quickenings Blick lag Verstehen, die anderen zeigten Furcht, Scheu und ungläubiges Staunen. Dann waren sie vorüber. Sie verließen die Knochensenke und betraten die Kluft zwischen den Felsen dahinter, blieben stehen und warteten auf ihn.
Walker zog seine Hand zurück und sah, wie der Koden zu zittern begann. Sein Maul stand weit offen, und er schien tonlos zu schreien. Dann wirbelte er herum und hastete zwischen die Felsblöcke.
»Ich werde es nicht vergessen«, rief Walker ihm nach.
Er fühlte eine Leere, die ihn erschaudern ließ. Er zog sich den Umhang fester und verließ die Senke.
Morgan und die anderen, mit Ausnahme von Quickening, fragten Walker Boh, als er bei ihnen angekommen war, was passiert sei. Wie war es ihm gelungen, den Koden zu bezaubern, so daß sie vorbeigehen konnten? Doch der Dunkle Onkel verweigerte die Antworten auf ihre Fragen. Er sagte nur, daß das Tier ein Gefangener der Magie des Steinkönigs sei und befreit werden müsse. Daß er ihm das versprochen habe. »Da du es bist, der das Versprechen gegeben hat, kannst du dich auch darum kümmern, es zu halten«, verkündete Pe Ell gereizt und hatte es eilig, die Angelegenheit mit dem Koden fallenzulassen, da die Gefahr jetzt vorbei war.
»Wir werden genug Mühe haben, uns selbst vor der Magie des Steinkönigs zu bewahren«, stimmte Horner Dees ihm zu.
Carisman hüpfte schon voraus, und Morgan fand sich plötzlich Walker Boh gegenüber, ohne eine Antwort geben zu können. Quickening war es, die statt dessen sprach. »Wenn du ihm dein Versprechen gegeben hast, Walker Boh, dann muß es gehalten werden.« Sie sagte allerdings nicht, wie.
Sie wandten sich von der Knochensenke ab und betraten die Kluft zwischen den beiden Bergen, die auf den Gezeitenstrom zuführte. Der Durchgang war schattig und im schwindenden Nachmittagslicht dunkel. Ein eisiger, scharfer Wind blies von den Klippen herunter und trieb sie wie die Hand eines Riesen erbarmungslos vor sich her. Die Sonne hatte sich dem westlichen Horizont genähert, gefangen in einem Wolkennetz, das ihr Licht goldrot färbte. Der Geruch von Salzwasser, Fisch und Seetang füllte scharf und beißend die Luft.
Morgan Leah schaute ein- oder zweimal hinter sich zu Walker Boh, noch immer erstaunt, wie es ihm gelungen war, den Koden davon abzuhalten, sie anzugreifen, sondern geradewegs auf ihn zuzugehen, wie er es getan hatte, ohne daß ihm etwas geschah. Er erinnerte sich an die Geschichten über den Dunklen Onkel, über den Mann, der er gewesen war, ehe der Asphinx ihn gebissen hatte und bevor Cogline und Ondit ums Leben gekommen waren. Über den Mann, der Par Ohmsford gelehrt hatte, sich nicht vor der Macht der Elfenmagie zu fürchten. Bis jetzt hatte er geglaubt, Walker Boh sei bei dem Schattenwesenüberfall auf Hearthstone verkrüppelt worden. Nachdenklich schürzte er die Lippen. Vielleicht hatte er sich geirrt. Und wenn er sich in Walker Bohs Fall geirrt hatte, warum dann nicht auch in seinem eigenen? Vielleicht konnte das Schwert von Leah wieder geheilt und seine eigene Magie wiederhergestellt werden? Vielleicht hatten sie alle eine Chance, wie Quickening gesagt hatte.
Der Hohlweg öffnete sich plötzlich vor ihnen, die Schatten, von denen sie umgeben waren, erhellten sich zu einem grauen, diesigen Licht, und sie lugten durch ein schmales Fenster in den Klippen. Unten dehnte sich der Gezeitenstrom ins Endlose, seine schaumgekrönten Wogen rollten gegen das Ufer. Die Gruppe ging weiter, wieder in den Schatten. Der Weg, dem sie folgten, fiel jetzt ab und schlängelte und wand sich durch die Felsen. Der Nebel und das Sprühwasser des Ozeans machten ihn glitschig und trügerisch. Die Wände spalteten sich wieder, diesmal zu zerklüfteten Steinsäulen, zwischen denen hindurch das Meer und der Himmel zu sehen waren. Unter ihren Füßen war der Fels locker, und es fühlte sich an, als sei alles nahe davor einzustürzen.
Dann machte der Weg eine Biegung und fiel so steil ab, daß sie gezwungen waren, sitzend hinunterzurutschen. Dann gelangten sie in einen engen Korridor, der sich bis zu einem Tunnel schlängelte. Sie mußte sich ducken, um hindurchzugehen, denn aus den Tunnelwänden ragten spitze Felszacken. Am anderen Ende gelangten sie auf einen Sims, der himmelwärts führte, entdeckten einen Pfad und kletterten hinauf, bis er vor einer Art Befestigungswall aus Steinquadern endete.
Sie standen am Rand des Walls und schauten nach unten. Morgan drehte sich der Magen um. Von der Stelle, auf der sie standen, fiel das Land steil zu einer schmalen Landenge ab, die ins Meer hinausragte. Mit der Landenge verbunden war eine Halbinsel, breit und ausgezackt an den Rändern, ganz und gar aus Klippen, an denen sich die Wellen des Gezeitenstroms ohne Unterlaß brachen. Oben auf den Klippen thronte eine Stadt aus hohen, steinernen Gebäuden. Die Bauwerke stammten nicht aus dieser Zeit, sondern aus der Alten Welt, aus dem Zeitalter, bevor die Großen Kriege die Ordnung der Dinge zerstörten und die neuen Rassen entstanden. Sie türmten sich hoch in den Himmel hinauf, glatt und symmetrisch, mit Reihen von Fenstern, die schwarz in das graue Licht gähnten. Alles stand eng beieinander, so daß die Stadt aussah wie ein Wald Steinobelisken, der aus dem Fels gewachsen war. Seevögel kreisten um die Gebäude, und ihre klagenden Schreie schallten durch das schwindende Licht.
»Eldwist«, verkündete Horner Dees.
Weit im Westen tauchte die Sonne ins Wasser des Ozeans, verlor ihre Helligkeit und ihre Farben mit dem Einbrechen der Nacht, das rotgoldene Licht verblaßte silbrig. Der Wind heulte hinter ihnen von den Klippen herunter in stetigem Crescendo, und es fühlte sich an, als würde selbst die Zinne, auf der sie standen, geschüttelt. Sie drängten sich gegen seine Wucht zusammen und beobachteten fasziniert, wie Eldwist mit dem Einbruch der Nacht schattenschwarz wurde. Der Wind heulte auch durch die Stadt, durch die Straßenschluchten, über die Klippen. Morgan schauderte bei dem Geräusch. Eldwist war leer und tot. Nur der Stein war da, hart und unnachgiebig, unwandelbar und fest.
Horner Dees rief durch das Brausen des Sturms nach ihnen, als er sich abwandte. Er führte sie zurück zu einer Stelle, wo Stufen in die Steilwand gehauen worden waren, die in die Stadt hinunterführten. Die Stufen liefen die Wand entlang, winkelten sich durch Spalten und Nischen und wanden sich immer tiefer in den Schatten. Die Nacht fiel ein, während sie hinunterstiegen, die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden, und Sterne blinkten am Himmel auf, der klar und wolkenlos war. Der Mond spiegelte sich auf dem Gezeitenstrom, und Morgan konnte die schroffen, hoch aufragenden Spitzen der Stadt sehen, die sich aus den Felsen erhoben. Nebel wehte in langen Schleiern um die Stadt, und Eldwist bekam ein unwirkliches Aussehen – als tauche es aus den Legenden auf. Die Seevögel flogen davon, ihre Schreie verklangen. Bald war nur noch das Dröhnen der Brecher zu hören, die gegen die Felsenküste rollten.
Am Fuß der Treppe fanden sie eine Nische in den Felsen. Horner Dees ließ sie anhalten. »Es hat keinen Sinn, daß wir weiterzugehen versuchen«, erklärte er mit müder Stimme. Der Wind erreichte sie hier nicht, so daß er mit normaler Lautstärke sprechen konnte. »Zu gefährlich während der Nacht. Dort unten ist ein Schleicher …«
»Ein Schleicher!« Morgan, der gerade etwas Gras und Gestrüpp untersucht hatte, das perfekt erhalten und versteinert war, schaute abrupt auf.
»Ja, Hochländer«, fuhr Dees fort. »Ein Ding, das nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen fegt und alles einsammelt, das lebt …«
Ein Rumpeln im Erdinnern unterbrach seine Rede. Die Quelle dieses Rumpelns war Eldwist, und sie schauten sich hastig um. Die Stadt hob sich schwarz vor dem Nachthimmel ab, nur hier und da spiegelte sich Licht auf dem Stein. Sie wirkte größer und unnahbarer von hier unten, dachte Morgan, während er sie betrachtete. Noch unzugänglicher …
Etwas Riesiges tauchte aus den dunklen Winkeln auf, die er gerade betrachtete, etwas von so gewaltiger Größe, daß es für einen Augenblick die Illusion weckte, es sei sogar größer als die Bauwerke. Es erhob sich zwischen den Monolithen, als wäre es mit ihnen verwandt, massig und schwer, doch gleichzeitig lang und sehnig wie eine Schlange, als wären Steinblöcke für einen Moment flüssig geworden, um sich neu zu formen und zu gestalten. Dann klappten die Kiefer auf – Morgan konnte den gezackten Zahnkranz im Mondlicht aufblitzen sehen –, und sie hörten einen grauenerregenden Schrei wie ein ersticktes Husten. Die Erde bebte unter diesem Schrei, und die Mitglieder der Gruppe aus Rampling Steep kauerten sich schutzsuchend nieder – alle außer Quickening, die aufrecht stehen blieb, als sei sie allein stark genug, diesem Alptraum standzuhalten.
Eine Sekunde später war es verschwunden, versank so schnell und geschmeidig, wie es gekommen war, nur das Rumpeln seines Auftauchens hallte noch nach.
»Das war kein Schleicher«, flüsterte Morgan.
»Und vor zehn Jahren gab es das noch nicht«, flüsterte ein erblaßter Horner Dees zurück. »Darauf kann ich wetten.«
»Nein«, sagte Quickening und wandte ihnen nun ihr Gesicht zu. Ihre Gefährten kamen langsam wieder auf die Füße. »Es ist neu geboren«, sagte sie, »nicht einmal fünf Jahre alt. Es ist noch ein Baby.«
»Ein Baby!« rief Morgan ungläubig aus.
Quickening nickte. »Ja, Morgan Leah. Es heißt Malmschlund.« Sie lächelte traurig. »Es ist Uhl Belks Kind.«