10

Quickening fand ihn zwei Tage später. Pe Ell und Morgan waren dabei, angezogen von dem Geheimnis, wer und was sie war, ihrem Versprechen, daß sie gebraucht würden, um den Talisman zu finden, den zu suchen sie geschickt worden war, angezogen durch Neugier, durch Leidenschaft und ein Dutzend anderer Gründe, die sie nicht zu nennen vermochten. Sie hatten die Reise von Culhaven nach Norden in drei Tagen zurückgelegt. Zu Fuß waren sie dem Rabb gefolgt, wo er an den Anar grenzte, weit genug westlich des Wolfsktaags mit den finsteren Geschöpfen, die dort hausten. Geheimnistuerei schien das letzte zu sein, das Quickening am Herzen lag. Sie hatte beschlossen, bei Tag zu reisen, und hatte jenen, die ihr gerne gefolgt wären, gesagt, daß sie zurückbleiben und ihr Werk vollenden müßten, die Gesundheit des Landes wiederherzustellen, und sie waren den ganzen Weg bis zum Waldrand durch die offenen Ebenen gezogen. Morgan Leah war zwar erleichtert, daß er sich nicht mehr in den Wolfsktaag wagen mußte, aber er war sicher, Föderationspatrouillen am Rabb würden versuchen, sie aufzuhalten. Seltsamerweise geschah das nicht. Sie kamen zwar mehr als einmal in Sicht und näherten sich, doch bevor die Patrouillen ganz herangekommen waren, drehten sie plötzlich ab. Es war fast, als hätten sie beschlossen, sie hätten sich geirrt – als hätten sie beschlossen, sie hätten am Ende gar nichts gesehen.

Es fing schon an zu dämmern, als die drei schließlich in Hearthstone anlangten, die Männer mit wunden Füßen, verschwitzt und ein bißchen mürrisch über das Tempo, das das Mädchen angegeben hatte und das sie offenbar ohne jede Mühe einhalten konnte. Sie waren an Storlock vorbei über den Jadepaß den Chard Rush hinunter nach Darklin Reach gekommen. Die Sonne näherte sich schnell den Berggipfeln hinter ihnen, und der Himmel vor ihnen war klar und hell. Eine dicke, schwarze Rauchsäule stieg darin auf wie eine Schlange. Sie sahen den Rauch lange bevor sie seine Ursache ausmachen konnten. Sie sahen ihn in den dunkler werdenden östlichen Himmel steigen und sich langsam auflösen, und Morgan Leah fing an, sich Sorgen zu machen. Quickening sagte nichts, doch dem Hochländer kam es so vor, als sei ihr Gesicht angespannt. Als sie schließlich den Rand des Tales erreichten und keinerlei Zweifel mehr blieben, wirkte das Gesicht des Mädchens erschöpft.

Sie folgten dem Rauch zu den Ruinen der Hütte. Verkohlter Schutt war alles, was noch übrig war. Das Feuer, das dort gewütet hatte, war so heiß gewesen, daß es an manchen Stellen noch immer brannte. Holz und Asche glühten leuchtend rot und sandten den schwarzen Rauch in den Himmel. Die Lichtung rundum war versengt und leblos, und riesige Klumpen Erde waren weggeplatzt. Es sah aus, als hätten sich zwei gewaltige Armeen auf einem Feld von hundert Metern eine Schlacht geliefert. Nichts Erkennbares war übrig. Fetzen und Teile von etwas, das vielleicht einst Menschen gewesen waren, lagen überall verstreut, aber es war unmöglich mit Bestimmtheit festzustellen. Sogar Pe Ell, der sonst so sorgsam darauf achtete, seine Gedanken nicht zu verraten, stand da und starrte.

»Die Schattenwesen waren hier«, sagte Quickening, und das veranlaßte beide Männer, sofort losgehen zu wollen, um den Wald hinter ihnen abzusuchen, doch sie fügte hinzu: »Aber sie sind fort und werden nicht wiederkommen.«

Unter der Anleitung des Mädchens suchten sie die Lichtung nach Walker Boh ab. Morgans Herz sank. Er hatte gehofft, daß Walker nicht hier sei, daß der Angriff der Schattenwesen einen anderen Grund gehabt hätte. Niemand konnte das überlebt haben, dachte er. Er beobachtete, wie Pe Ell lustlos gegen Schutthaufen trat, eindeutig nur halbherzig bei der Sache. Morgan mochte den Mann nicht. Er traute ihm nicht, und er verstand ihn nicht. Trotz der Tatsache, daß Pe Ell ihn aus dem Föderationsgefängnis befreit hatte, konnte Morgan sich nicht dazu bringen, irgendwelche Freundschaftsgefühle für ihn zu hegen. Pe Ell hatte ihn auf Quickenings Bitte gerettet; er hätte keinen Finger krumm gemacht, wenn das Mädchen ihn nicht darum gebeten hätte. Soviel hatte er Morgan schon wissen lassen, es hatte ihm viel daran gelegen, es ihm zu sagen. Wer er war, blieb ein Geheimnis, und der Hochländer war sicher, daß nichts Gutes aus seiner Anwesenheit hier entspringen konnte. Selbst jetzt, als er über die verkohlte Lichtung streifte, sah er aus wie eine Katze auf der Suche nach etwas zum Spielen.

Quickening fand Walker Boh wenige Augenblicke später und rief die beiden anderen eilig hinzu. Wie sie herausfand, wo er sich versteckt hatte, konnte man nur vermuten. Er war bewußtlos und lag tief in die Erde eingegraben. Pe Ell und Morgan gruben ihn aus und stellten dabei fest, daß er offenbar in einem unterirdischen Tunnel, der von der Hütte zum Waldrand führte, steckengeblieben war. Obwohl der Tunnel vermutlich bei dem Schattenwesenangriff eingestürzt war, hatte er genug Luft bekommen, um zu überleben. Sie brachten ihn an das schwächer werdende Tageslicht, und Morgan sah die Überreste seines Arms, der Unterarm war ganz weg, und ein steinerner Stumpf ragte aus der Schulter. Walker atmete nur schwach, seine Haut war bleich und ausgemergelt. Zuerst glaubte der Hochländer, er lebe gar nicht mehr.

Behutsam legten sie ihn auf den Boden und wischten ihm den Schmutz vom Gesicht. Quickening kniete sich neben ihn und nahm seine Hand in ihre Hände. Sie hielt sie einen Moment lang fest, und er schlug die Augen auf. Morgan wich zurück. So hatte er Walkers Blick noch nie gesehen; es war erschreckend, ihn anzuschauen, finsterer Wahnsinn stand darin.

»Laßt mich nicht sterben«, flüsterte der Dunkle Onkel rauh.

Das Mädchen berührte sein Gesicht, und er schlief auf der Stelle ein. Morgan holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Walker Boh bat nicht aus Angst um Hilfe; es war Wut.

In jener Nacht schlugen sie ihr Lager neben den Ruinen der Hütte im Schutze der Bäume auf, als das Tageslicht der Dunkelheit wich. Quickening ließ sie neben der Stelle, wo Walker Boh schlafend lag, ein Feuer entzünden, und sie setzte sich neben ihn und rührte sich nicht. Manchmal nahm sie seine Hand, manchmal streichelte sie ihn. Morgan und Pe Ell waren vergessen. Sie schien sie nicht zu brauchen und auch nicht zu wollen, daß sie sich einmischten, also entfachte der Hochländer ein zweites Feuer ein Stückchen weiter weg und bereitete ein Nachtmahl aus den Vorräten, die sie mitgebracht hatten – Brot, getrocknetes Fleisch, Käse und Obst. Er bot dem Mädchen etwas an, doch sie schüttelte den Kopf und er zog sich zurück. Er aß allein. Pe Ell nahm sein Essen und verschwand in die Dunkelheit.

Nach einer Weile streckte Quickening sich neben Walker Boh aus und schlief eng an ihn geschmiegt ein. Morgan beobachtete es mit steinernem Gesicht, und eine Welle von Eifersucht, daß der Dunkle Onkel ihr so nah sein durfte, überrollte ihn. Er musterte ihr Gesicht im Feuerschein, die Kurve ihres Körpers, ihre Sanftheit. Sie war so schön. Er konnte die Wirkung, die sie auf ihn hatte, nicht erklären; er hielt sich für außerstande, ihr irgend etwas auszuschlagen. Nicht, daß er die Hoffnung hegte, sie empfände für ihn, was er für sie empfand – oder daß sie überhaupt etwas für ihn übrig hätte. Es war die Sehnsucht, die sie in ihm erweckte. Er hätte nicht mit ihr gehen dürfen, nachdem er aus dem Gefängnis entkommen war und sich vergewissert hatte, daß Elise und Jilt in Sicherheit waren. Er hätte den Talbewohnern Par und Coll Ohmsford folgen sollen. Er hatte sich mehr als einmal vorgenommen, während er in der Finsternis und dem Dreck jener Föderationsgefängniszelle lag, daß er das täte, wenn er je freikommen sollte. Und dennoch war er jetzt hier im tiefsten Anar hinter einem Mädchen her, das nach einem Talisman suchte, von dem sie behauptete, daß es ihn gab, den sie jedoch nie genauer benannt hatte, in Gesellschaft dieses rätselhaften Pe Ell und nun auch noch von Walker Boh. Es verblüffte ihn, doch er stellte es nicht in Frage. Er war hier, weil er hier sein wollte. Er war hier, weil er sich in dem Augenblick, als er Quickening zum ersten Mal sah, hoffnungslos in sie verliebt hatte.

Er betrachtete sie, bis es schmerzte. Dann zwang er sich, den Blick abzuwenden. Er war überrascht, als er Pe Ell am Waldrand stehen sah, der sie ebenfalls betrachtete.

Ein Weilchen später war er wieder überrascht, als der Mann herüberkam und sich neben ihn ans Feuer setzte. Pe Ell tat so, als sei es die natürlichste Sache der Welt, als hätten die beiden Männer nie Abstand voneinander gehalten, als wären sie Gefährten und nicht Fremde. Mit schmalem Gesicht, mager wie der Schatten eines Drahtes, war er kaum mehr als einen Anhäufung von Linien und Kanten, die in der Dunkelheit zu verschwinden drohten. Mit gekreuzten Beinen saß er da, die magere Gestalt entspannt, zusammengekauert, und ein kleines Lächeln spielte um seinen Mund, als er Morgan die Stirn runzeln sah. »Du traust mir nicht«, sagte er. »Das solltest du auch nicht.«

»Warum nicht?« fragte Morgan.

»Weil du mich nicht kennst, und man traut niemandem, den man nicht kennt. Und den meisten, die man kennt, traut man besser auch nicht. So ist es einfach. Sag mal, Hochländer, was meinst du, warum ich hier bin?«

»Keine Ahnung.«

»Ich weiß es selber nicht. Und ich wäre bereit zu wetten, daß es dir genauso geht. Wir sind hier, du und ich, weil das Mädchen uns sagt, daß sie uns braucht, aber wir wissen nicht wirklich, was sie meint. Wir bringen es einfach nicht fertig, nein zu sagen.« Pe Ell schien sich gleichzeitig selbst die Situation zu erklären, während er zu Morgan sprach. Er sah kurz in Quickenings Richtung und nickte. »Sie ist hinreißend, nicht wahr? Wie kann man jemandem etwas abschlagen, der so aussieht? Aber da ist noch mehr, denn sie hat auch etwas in sich, etwas Besonderes, sogar in dieser Welt. Sie hat Magie, die stärkste Art von Magie. Sie bringt Totes wieder zum Leben – wie die Gärten, wie den da drüben.«

Er schaute Morgan wieder an. »Wir alle wollen diese Magie berühren, wollen über sie damit in Berührung kommen. Das ist, was ich glaube. Vielleicht gelingt es uns, wenn wir Glück haben. Aber wenn die Schattenwesen in diese Angelegenheit verwickelt sind, wenn die Dinge, mit denen wir uns abzugeben haben, so schlimm sind, na, dann werden wir uns um einander kümmern müssen. Du brauchst mir also nicht zu trauen, und ich nicht dir – vielleicht sollten wir das nicht –, aber wir müssen einander Rückendeckung geben. Meinst du nicht auch?«

Morgan war nicht sicher, ob er das auch meinte, aber er nickte trotzdem. Was er meinte, war, daß Pe Ell nicht von der Sorte zu sein schien, der sich darauf verließ, daß irgendwer ihm Rückendeckung gäbe. Oder gar seinerseits irgend jemandem Rückendeckung geben würde.

»Weißt du, was ich bin?« fragte Pe Ell leise, den Blick ins Feuer gerichtet. »Ich bin ein Handwerker. Ich kann Orte betreten und verlassen, ohne daß man mich bemerkt. Ich kann Sachen wegrücken, die sich nicht bewegen lassen wollen. Ich lasse Leute verschwinden.« Er schaute auf. »Ich verfüge über ein wenig Magie. Du auch, nicht wahr?«

Morgan schüttelte den Kopf, er war auf der Hut. »Da drüben ist der Mann mit der Magie«, bot er mit einer Geste in Walker Bohs Richtung an.

Pe Ell lächelte zweifelnd. »Schien ihm mit den Schattenwesen nicht allzuviel gebracht zu haben.«

»Vielleicht hat es ihm das Leben gerettet.«

»Haarscharf, wie es scheint. Und was soll er uns nützen, mit seinem Arm?« Pe Ell faltete die Hände. »Sag mal. Was kann er mit seiner Magie denn anfangen?«

Morgan gefiel diese Frage nicht. »Er kann eine Menge von dem, was du kannst. Frag ihn selbst, wenn’s ihm besser geht.«

»Falls es ihm je besser geht.« Pe Ell erhob sich geschmeidig und ohne jede Anstrengung, so daß Morgan überrascht war. Schnell, dachte der Hochländer. Viel schneller als ich. Der andere schaute ihn an. »Ich fühle die Magie in dir, Hochländer. Ich möchte, daß du mir mal davon erzählst. Später, wenn wir ein bißchen länger zusammen gereist sind, wenn wir einander ein bißchen besser kennen. Wenn du mir vertraust.«

Er verzog sich in den Schatten am Rande des Feuers, breitete seine Decke auf dem Boden aus und rollte sich hinein. Er schlief fast augenblicklich ein.

Morgan saß da und starrte eine Weile zu ihm hinüber. Es dürfte einige Zeit dauern, bis er dem da vertrauen würde, dachte er. Pe Ell lächelte zwar leicht, aber es sah so aus, als sei nur sein Mund an diesem Akt beteiligt. Morgan überdachte, was der Mann von sich selber gesagt hatte, und versuchte, einen Sinn darin zu finden. Ich kann Orte betreten und verlassen, ohne daß man mich bemerkt? Ich kann Sachen wegrücken, die sich nicht bewegen lassen wollen? Ich lasse Leute verschwinden? Was war das für ein zweideutiges Gerede?

Das Feuer brannte herunter, und alle um ihn herum schliefen. Morgan dachte an die Vergangenheit, an seine Freunde, die tot oder verschollen waren, an den unaufhaltbaren Lauf der Ereignisse, die ihn mitschwemmten. Und vor allem dachte er über das Mädchen nach, das behauptete, die Tochter des Königs vom Silberfluß zu sein. Quickening.

Was würde sie von ihm verlangen?

Was würde er zu geben in der Lage sein?


Walker Boh erwachte bei Sonnenaufgang, tauchte aus dem schwarzen Abgrund der Bewußtlosigkeit. Er schlug die Augen auf und sah das Mädchen, das auf ihn hinunterblickte. Ihre Hände lagen auf seinem Gesicht. Ihre Finger fühlten sich kühl und sanft auf seiner Haut an, und es war, als hebe sie ihn mit ebensowenig Anstrengung hoch, wie es braucht, um eine Feder zu heben.

»Walker Boh.« Freundlich nannte sie ihn beim Namen.

Sie kam ihm seltsam bekannt vor, obwohl er sicher war, daß er sie noch nie gesehen hatte. Er versuchte zu sprechen, doch er konnte nicht. Irgend etwas hinderte ihn daran, ein Staunen über ihre exquisite Schönheit, über die Gefühle, die sie in ihm weckte. Er empfand sie wie die Erde, voll fremdartiger Magie, die gleichzeitig einfach und komplex war, ein Gefäß von Elementen, Erde, Luft und Wasser, Teil von allem, das Leben gibt. Er sah sie anders als Morgan Leah und Pe Ell, doch das konnte er noch nicht wissen. Er fühlte sich nicht als Liebhaber oder als Beschützer zu ihr hingezogen, er hatte nicht den Wunsch, sie zu besitzen. Statt dessen bestand eine Zuneigung zwischen ihnen, die Leidenschaft und Sehnsucht transzendierte. Ein Band unmittelbaren Verstehens einte sie, wie Gefühle es niemals konnten. Walker erkannte das Vorhandensein dieses Bandes, auch ohne es beschreiben zu können. Dieses Mädchen war etwas von dem, was er sein Leben lang zu sein sich abgemüht hatte. Dieses Mädchen war ein Spiegel seiner Träume.

»Schau mich an«, sagte sie.

Er fixierte sie mit den Augen. Sie nahm ihre Finger von seinem Gesicht und bewegte sie zu den zersplitterten Resten seines Armes, zu dem steinernen Stumpf, der leblos aus seiner Schulter ragte. Ihre Finger tasteten sich unter seine Kleidung, strichen über seine Haut und wanderten zu der Stelle, wo die Haut sich zu Stein verhärtete. Er zuckte unter ihrer Berührung zusammen, wollte nicht, daß sie die Krankheit in ihm fühlte oder die Zerstörung seines Fleisches entdeckte. Doch ihre Finger harrten aus, ihre Augen schauten nicht weg.

Und dann stöhnte er auf, als alles in weißglühendem Schmerz unterging. Für einen Moment sah er die Halle der Könige wieder, die Grüften der Toten, die Steinplatte mit den Runen, das schwarze Loch darunter und die schnelle Bewegung des Asphinx, als er zubiß. Danach schwebte er, und nur noch ihre Augen waren da, schwarz und unendlich, die ihn auf einer Welle süßer Erleichterung trugen. Der Schmerz schwand, entfleuchte als roter Dunst aus seinem Körper und löste sich in der Luft auf. Er fühlte, wie ihm ein Gewicht abgenommen wurde, und er fand Frieden.

Er mochte anschließend etwas geschlafen haben, aber er war nicht sicher. Als er die Augen wieder aufschlug, war das Mädchen neben ihm und schaute ihn an, und das Dämmerlicht war fahl und fern hinter den Baumwipfeln. Er schluckte gegen die Trockenheit in Mund und Kehle an, und sie gab ihm Wasser aus einem Balg. Ihm wurde bewußt, daß Morgan Leah ihn mit offenem Mund anstarrte, sein schmales, gebräuntes Gesicht eine Maske des Unglaubens. Neben ihm stand ein anderer Mann, den er nicht kannte, mit hartem, spöttischem Gesicht. Sie waren beide dagewesen, als das Mädchen ihn fand, erinnerte er sich. Was sahen sie jetzt, das sie so sehr erstaunte?

Dann merkte er, daß etwas anders war. Sein Arm fühlte sich leichter an, freier. Er hatte keine Schmerzen. Mit dem bißchen Kraft, das er hatte, hob er den Kopf und schaute an sich hinunter. Seine Kleider waren von seiner Schulter gezogen worden und enthüllten rosige, geheilte Haut, wo der steinerne Stumpf entfernt worden war.

Sein Arm war fort.

Und damit auch das Gift des Asphinx.

Was fühlte er? Seine Emotionen überschlugen sich. Er starrte das Mädchen an und versuchte erfolglos, etwas zu sagen.

Sie sah auf ihn hinunter, ernst und makellos. »Ich bin Quickening«, sagte sie. »Ich bin die Tochter des Königs vom Silberfluß. Schau mir in die Augen, damit du mich kennenlernst.«

Er tat wie geheißen, und sie rührte ihn an. Er sah, was Morgan Leah vor ihm gesehen und was Pe Ell miterlebt hatte – Quickenings Ankunft in Culhaven, die Wiederherstellung der Meade-Gärten aus Schutt und Asche. Er fühlte das Wunder und wußte instinktiv, daß sie war, was sie behauptete. Sie verfügte über Magie jenseits aller Vorstellung, Magie, die die bedauernswertesten Ruinen des Lebens retten konnte. Als die Bilder aufhörten, verblüffte ihn wieder dieses unerklärliche Verwandtschaftsgefühl, das er zu ihr hatte.

»Du bist wieder gesund, Walker Boh«, sagte sie. »Die Krankheit wird dir nicht mehr zu schaffen machen. Schlaf jetzt, denn ich brauche dich dringend.«

Sie berührte ihn, und er versank in Schlaf.


Am Mittag wachte er wieder auf, mit einem Bärenhunger und trockener Kehle vor Durst. Quickening war da und gab ihm zu essen und Wasser und half ihm beim Aufsetzen. Er fühlte sich wieder stärker, eher wieder wie der Mann, der er vor seiner Begegnung mit dem Asphinx gewesen war, seit Wochen zum ersten Mal wieder fähig, klar zu denken. Seine Erleichterung, von dem Gift des Asphinx befreit zu sein, das heißt, überhaupt noch am Leben zu sein, lag im Widerstreit mit seiner Wut über das, was Felsen-Dall und die Schattenwesen mit Cogline und Ondit gemacht hatten. Nichts als ein alter Mann und eine lästige Katze, hatte er sie genannt. Er schaute über die Lichtung, auf die Spuren der Zerstörung. Das Mädchen fragte ihn nicht, was passiert war; sie berührte ihn nur und wußte Bescheid. Sämtliche Bilder der tragischen Ereignisse jener Nacht überschwemmten ihn mit einer Flut von Erinnerungen, daß schwemmten ihn mit einer Flut von Erinnerungen, daß er schauderte und den Tränen nahe war. Sie berührte ihn wieder, um ihn zu trösten und zu beruhigen, aber er weinte nicht. Er erlaubte es sich nicht. Er behielt seinen Kummer für sich, eingemauert hinter seiner Entschlossenheit, die Schuldigen zu finden und zu vernichten.

Quickening sprach zu ihm, fern von Morgan Leah und dem, den sie Pe Ell nannte: »Du darfst deinen Gefühlen nicht nachgeben, Walker Boh. Wenn du die Schattenwesen jetzt verfolgst, werden sie dich vernichten. Dir fehlt die Weisheit und die Kraft, um sie zu überwältigen. Beides kannst du nur durch mich erlangen.«

Und dann, ehe er antworten konnte, rief sie die beiden anderen herüber, ließ sie sich dazusetzen und sagte: »Ich werde euch jetzt sagen, wozu ich euch brauche.« Sie schaute einen nach dem anderen an und dann schien ihr Blick in die Ferne zu wandern. »Vor langer Zeit, in einem Zeitalter vor der Menschheit, vor den Feenkriegen, vor allem, was ihr kennt, gab es viele wie meinen Vater. Sie waren die ersten der Feengeschöpfe, denen das Wort das Leben gegeben hatte und die Herrschaft über das Land. Sie hatten die Aufgabe, zu bewahren und zu schützen, und solange sie konnten, taten sie es. Doch die Welt wandelte sich mit dem Verblassen der Feengeschöpfe und dem Aufstieg der Menschheit. Die Evolution der Welt ließ fast alles verschwinden, das am Anfang bestanden hatte, einschließlich jener von der Art meines Vaters. Einer nach dem anderen verstarb, ging unter im Laufe der Zeit mit den Veränderungen der Welt. Die Großen Kriege zerstörten viele von ihnen. Die Kriege der Rassen vernichteten noch mehr. Schließlich gab es nur noch meinen Vater, inzwischen eine Legende, den Feenlord, den sie den König vom Silberfluß nennen.«

Sie hob das Gesicht. »Nur, daß mein Vater nicht allein war, wie er glaubte. Es gab einen anderen. Selbst mein Vater wußte zunächst nichts von ihm. Er glaubte, daß alle seine Verwandten vor langer Zeit ausgestorben seien und er allein überlebt habe. Mein Vater irrte sich. Ein anderer wie er lebte noch, hatte sich so sehr verändert, daß er inzwischen nicht mehr wiederzuerkennen war. Alle frühen Feengeschöpfe bezogen ihre Magie aus den Elementen des Landes. Die Kraft meines Vaters stammte von den Flüssen und Seen, von den Wassern, die die Erde nähren. Er legte seine Gärten an, um sie zu füttern, ihnen Leben zu geben und daraus Leben zu beziehen. Sein Bruder, jener, von dem er nicht wußte, daß er ebenfalls überlebt hatte, holte seine Magie aus dem Gestein der Erde. Während mein Vater Kraft in Flüssigkeit und Wandel fand, fand sein Bruder Kraft in Beständigkeit und Unwandelbarkeit.«

Sie machte eine Pause. »Sein Name ist Uhl Belk. Er ist der Steinkönig. In alter Zeit hatte er keinen Namen, keiner der Verwandten meines Vaters hatte einen. Namen wurden nicht gebraucht. Mein Vater bekam seinen Namen von den Leuten des Landes; er hatte sie nicht darum gebeten. Uhl Belk nahm seinen Namen aus Angst an. Er nahm ihn an, weil er glaubte, daß er nur mit einem Namen sicher sein konnte zu überleben. Ein Name bedeutete Fortdauer, glaubte er. Um ihn herum wandelte sich die Welt, das Alte starb aus und gab den Platz für Neues frei. Er konnte nicht hinnehmen, daß er sich ändern sollte, denn wie das Gestein, von dem er seine Kraft bezog, war er unnachgiebig. Um zu überleben, bettete er sich tiefer auf die Weise, die ihn so lange erhalten hatte, grub sich in die Erde, von der er abhing. Er versteckte sich, als die Großen Kriege fast alles vernichteten. Er versteckte sich wieder, als die Kriege der Rassen das gleiche zu tun drohten. Er nahm seinen Namen an und hüllte sich in Stein. Wie für meinen Vater war seine Welt zu fast nichts geschrumpft, ein winziges bißchen Existenz war alles, was seine Magie beschützen konnte. Er klammerte sich verzweifelt daran, während die Kriege der Menschheit durch die Jahrhunderte wüteten, und er wartete, daß ein gewisses Maß an Vernunft wiederkehren würde.

Doch im Gegensatz zu meinem Vater vernachlässigte Uhl Belk den Auftrag, den das Wort ihm gegeben hatte. Im Kampf um sein Überleben verlor er den eigentlichen Sinn seines Daseins aus den Augen; er gelangte zu der Überzeugung, daß allein die Existenz, koste es, was es wolle, bedeutsam sei. Sein Auftrag, das Land zu erhalten und zu beschützen, war vergessen, sein Versprechen, sich für das Leben des Landes einzusetzen, hatte keine Bedeutung mehr. Er hegte und pflegte seine Magie mit einem einzigen Gedanken im Kopf – daß er dafür sorgen würde, so stark zu werden, daß seine Existenz niemals wieder von irgend etwas oder irgendwem bedroht würde.«

Quickening senkte den Blick, und als sie wieder aufschaute, waren ihre Augen voller Staunen. »Uhl Belk ist der Herrscher von Eldwist, einem Landstreifen weit im Nordosten jenseits des Charnalgebirges, wo das Ostland am Gezeitenstrom-Ozean endet. Nachdem er sich jahrhundertelang versteckt gehalten hat, kommt er nun hervor und fordert die Welt der Menschen für sich. Er tut dies mit seiner Magie, deren Kraft weiter zunimmt, sobald er sie benutzt. Er setzt sie wahllos gegen das Land ein – den Boden, das Wasser, die Bäume, die Geschöpfe, die ihre Nahrung daraus beziehen. Er verwandelt alles zu Stein und bezieht daraus Magie, die ihn noch stärker macht. Das gesamte Eldwist ist Stein, und das Land rundum fängt ebenfalls an zu versteinern. Der Gezeitenstrom hält ihn zur Zeit in Schach, denn er ist gewaltig, und selbst Uhl Belks Magie reicht noch nicht aus, einen Ozean zu überwältigen. Doch Eldwist ist an seiner Spitze mit dem Ostland verbunden, und nichts verhindert die Ausbreitung des Gifts nach Süden. Außer meinem Vater.«

»Und den Schattenwesen«, fügte Morgan Leah hinzu.

»Nein, Morgan«, sagte sie, und es entging keinem von ihnen, daß sie ihn allein beim Vornamen nannte. »Die Schattenwesen sind nicht Uhl Belks Feinde. Allein mein Vater versucht, die Vier Länder zu erhalten. Die Schattenwesen wie der Steinkönig würden die Länder gern umgestaltet sehen, so daß sie nicht wiederzuerkennen wären – öde und jeglichen Lebens beraubt. Die Schattenwesen und Uhl Belk lassen einander in Ruhe, denn sie haben nichts voneinander zu befürchten. Das kann sich eines Tages ändern, aber dann wird es für keinen von uns mehr eine Rolle spielen.«

Sie sah Walker an. »Denk an deinen Arm, Walker Boh. Das Gift, das ihn dir genommen hat, stammt von Uhl Belk. Der Asphinx gehört zu ihm. Alles Lebendige, das vom Steinkönig oder einem seiner Geschöpfe berührt wird, wird wie dein Arm – hart und leblos. Das ist die Quelle von Uhl Belks Macht, diese Beständigkeit, diese Unwandelbarkeit.«

»Und warum wollte er mich vergiften?« fragte Walker.

Ein Sonnenstrahl traf ihr Silberhaar und ließ es hell aufleuchten. Sie schüttelte die Sonne ab. »Er stahl einen Druidentalisman aus der Halle der Könige, und er wollte sichergehen, daß, wer auch immer den Diebstahl bemerkte, sterben müsse, ehe er etwas unternehmen konnte. Du hattest einfach das Pech, derjenige zu sein. Als die Druiden noch lebten, waren sie stark genug, Uhl Belk die Stirn zu bieten. Er wartete, bis sie alle fort waren, um erst dann wieder hervorzukommen. Sein einziger Feind ist jetzt mein Vater.«

Ihre dunklen Augen schwenkten auf Pe Ell. »Uhl Belk möchte das Land aufzehren, und um das tun zu können, muß er meinen Vater vernichten. Mein Vater hat mich ausgesandt, das zu verhindern. Ich kann es ohne eure Hilfe nicht tun. Ihr müßt mit mir nach Norden nach Eldwist kommen. Sobald wir dort sind, müssen wir den Talisman, den der Steinkönig den Druiden aus der Halle der Könige gestohlen hat, finden und zurückholen. Dieser Talisman wird der schwarze Elfenstein genannt. Solange Uhl Belk im Besitz des Elfensteins ist, ist er unbesiegbar. Wir müssen ihn ihm wegnehmen.«

Pe Ells langes, schmales Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck. »Und wie sollen wir das anfangen?« fragte er.

»Ihr werdet einen Weg finden«, sagte das Mädchen und schaute einen nach dem anderen an. »Mein Vater sagte, das würdet ihr, ihr wäret im Besitz der nötigen Mittel. Aber ihr werdet alle drei gebraucht, um es zu tun. Jeder von euch besitzt die Magie, die erforderlich ist; wir haben nicht darüber gesprochen, doch es ist so. Alle drei Magien sind vonnöten. Ihr müßt alle drei mitkommen.«

»Alle drei.« Pe Ell sah zweifelnd auf Walker und Morgan. »Und was kann der schwarze Elfenstein? Was für eine Art von Magie hat er?«

Walker lehnte sich vor, um ihre Antwort zu hören, und Quickenings Augen richteten sich auf ihn. »Er nimmt die Kraft anderer Magien fort. Er verschlingt sie und macht sie sich zu eigen.«

Verblüfftes Schweigen breitete sich aus. Walker hatte noch nie von einer solchen Magie gehört. Er dachte an die Worte in der Druidengeschichte, die Cogline ihm gebracht hatte, die Worte, die beschrieben, wie Paranor wiederhergestellt werden konnte:

Einmal fortgeschafft, soll Paranor für die Welt der Menschen für alle Zeit verloren sein, versiegelt und uneinnehmbar unter dem Bann. Ein einziger Zauber besitzt die Macht, es zurückzuholen – dieser einzigartige Elfenstein von schwarzer Farbe, der von dem Feenvolk der Alten Welt in der Art und Weise aller Elfensteine erstellt wurde, und der dennoch in einem einzigen Stein allein die nötigen Eigenschaften von Herz, Verstand und Körper in sich vereint. Wer auch immer den Grund und das Recht dazu hat, soll ihn zu seinem wahren, vorbestimmten Zweck verwenden.

Er hatte sich den Wortlaut eingeprägt, bevor er das Buch in einer Nische über dem Kamin der Hütte versteckte und zur Halle der Könige aufbrach. Der Text erläuterte etwas darüber, wie der schwarze Elfenstein verwendet werden konnte, um Paranor wiedererstehen zu lassen. Wenn Druidenmagie es versiegelt hatte, würde der schwarze Elfenstein diese Magie zunichte machen und die Feste wiederherstellen. Walker runzelte die Stirn. Das erschien verdammt einfach. Schlimmer noch, die Kraft einer solchen Magie ließ vermuten, daß nichts sie schlagen konnte, wenn sie einmal zum Einsatz käme. Warum würden die Druiden das Risiko eingehen, daß etwas so Mächtiges in die Hände eines Feindes von der An von Uhl Belk fiele?

Andererseits hatten sie vermutlich alles getan, um ihn zu schützen. So gut wie niemand konnte ihn aus der Halle der Könige entfernen. Oder überhaupt wissen, daß er sich dort befand. Woher wußte es dann also der Steinkönig, fragte er sich.

»Wenn der schwarze Elfenstein andere Magie fortnehmen kann«, unterbrach Pe Ell plötzlich Walkers Gedanken, »wie kann irgend etwas ihn überwinden? Unsere eigene Magie, irgendeine Magie, ist doch dann machtlos dagegen.«

»Vor allem meine, denn ich besitze keine«, ließ Morgan sich plötzlich vernehmen, und alle schauten ihn an. »Jedenfalls keine, die der Rede wert wäre.«

»Kannst du uns irgendwie gegen den Steinkönig helfen?« fragte Walker. »Kannst du deine Magie in irgendeiner Form einsetzen?«

»Nein«, erwiderte das Mädchen, und sie starrten sie schweigend an. »Meine Magie ist nutzlos, bis ihr den schwarzen Elfenstein von Uhl Belk zurückgewonnen habt. Auch darf er nicht herausfinden, wer ich bin. Wenn er das täte, würde er mir ein schnelles Ende bereiten. Ich werde mit euch kommen und euch beraten, wenn ich kann. Ich werde helfen, falls das möglich ist. Aber ich darf meine Magie nicht einsetzen – nicht das mindeste bißchen, nicht für den kürzesten Augenblick.«

»Aber du meinst, wir könnten das?« fragte Pe Ell ungläubig.

»Der Steinkönig wird eure Magie für unbedeutend halten. Er wird sich von euch nicht bedroht fühlen.«

Pe Ell machte ein so finsteres Gesicht, daß Walker für einen Augenblick von seiner Frage, was Quickening ihnen vorenthielt, abgelenkt wurde. Er war jetzt sicher, daß sie ihnen etwas verschwieg. Nicht, daß sie sie anlog, das glaubte er nicht. Aber da war eindeutig etwas, das sie ihnen nicht sagte. Das Problem war, daß er nicht die geringste Ahnung hatte, was das sein könnte.

»Es gibt noch einen Grund, warum ihr mir helfen solltet«, sagte sie. »Alles ist möglich, wenn ihr mitkommt. Walker Boh. Ich habe das Gift aus deinem Körper entfernt und dich gesund gemacht. Ich habe deinen Arm geheilt, aber ich bin nicht in der Lage, dich wieder heil und ganz zu machen. Komm mit mir auf die Suche nach dem schwarzen Elfenstein, dann wirst du einen Weg finden, deine Ganzheit wiederzugewinnen. Morgan Leah. Du kannst die Magie deines zerbrochenen Schwertes wiederherstellen. Komm mit. Pe Ell. Du trachtest nach stärkerer Magie, als sie die Schattenwesen haben. Komm mit. Mein Vater sagt, daß ihr zusammen alle Schlüssel besitzt, die alle diese Geheimnisse erschließen. Mein Vater weiß, was möglich ist. Er würde nicht lügen.«

Sie hob ihr Gesicht. »Die Vier Länder und ihre Völker werden von den Schattenwesen bedroht; doch nicht mehr, als von Uhl Belk. Die Mittel, die eine Bedrohung beenden, werden sich durch die Beendigung der anderen finden. Der schwarze Elfenstein ist der Talisman, der beide enden kann. Ich weiß, daß ihr das noch nicht verstehen könnt; ich weiß, daß ich es euch nicht erklären kann. Ich weiß nicht, wie es euch bei dieser Suche ergehen wird. Aber ich werde mit euch gehen, mit euch leben oder sterben, erfolgreich sein oder versagen. Wir werden durch das, was geschehen wird, für immer verbunden sein.«

So, wie wir irgendwie schon jetzt verbunden sind, dachte Walker und wunderte sich erneut über das Gefühl, das nach wie vor da war.

Stille kristallisierte sich um sie herum. Niemand wollte seine Schale brechen. Da waren Fragen, die noch nicht gestellt, Antworten, die noch nicht gegeben waren; da waren Zweifel und Vorbehalte und Ängste, die es zu überwinden galt. Ihnen allen war vor kaum einer Woche eine Zukunft gegeben worden, die sich nun als dunkler, ungewisser Pfad vor ihnen auftat, der sie führen würde, wohin es ihm beliebte. Uhl Belk, der Steinkönig, wartete am Ende dieses Pfads, und sie waren bereit, ihn aufzusuchen. Es war längst beschlossene Sache. Ohne daß irgendwer etwas gesagt hätte, war es entschieden. Das war die Macht von Quickenings Zauber, der Magie, die sie auf des Leben anderer ausübte, einer Magie, die nicht nur Leben von Totgeglaubtem wiedererweckte, sondern auch Hoffnungen und Träume in den Lebenden freisetzte.

So war es auch jetzt.

Morgan Leah dachte darüber nach, wie es wäre, wenn er das Schwert von Leah wiederbekäme. Er erinnerte sich daran, wie es sich anfühlte, als er seine Magie befehligen konnte. Pe Ell malte sich aus, wie es wohl wäre, wenn er im Besitz einer Waffe wäre, gegen die niemand etwas ausrichten konnte. Er erinnerte sich, wie es war, wenn er den Stiehl benutzte. Er fragte sich, ob es wohl genauso wäre.

Nur Walker Boh dachte weniger an sich selbst als an den schwarzen Elfenstein. Er blieb der Schlüssel zu all den verschlossenen Türen. Konnte Paranor wiedererstellt, konnten die Druiden zurückgebracht werden? Allanons Auftrag an ihn, Teil dessen, was getan werden mußte, sollten die Schattenwesen vernichtet werden. Und nun, zum ersten Mal, seit er die Träume gehabt hatte, wünschte er sie vernichtet. Mehr noch, er wollte derjenige sein, der es tat.

Er schaute in Quickenings schwarze Augen, und es war, als könne sie seine Gedanken lesen. Ein Druidentrick. Eine Feengabe.

Und plötzlich erinnerte er sich voller Schrecken, wo er sie schon einmal gesehen hatte.

Später in der Nacht ging er zu ihr, um es ihr zu sagen. Er brauchte lange, bis er sich dazu durchrang. Es wäre leichter gewesen, nichts zu sagen, denn wenn er davon sprach, riskierte er, seine Freundschaft mit ihr und seine Teilnahme an der Reise nach Eldwist aufs Spiel zu setzen. Aber zu schweigen wäre einer Lüge gleichgekommen, und dazu konnte er sich nicht entschließen. Er wartete, bis Morgan und Pe Ell eingeschlafen waren, bis die Nacht in Schwärze gehüllt war und die Zeit nur noch langsam vorankroch. Dann erhob er sich geräuschlos von seiner Decke, noch immer steif und mit Schmerzen von seiner Krankheit, und überquerte die feuerbeschienene Lichtung zu der Stelle, wo sie ihn erwartete.

Als er an der Ruine der Hütte vorbeikam, schaute er hinüber. Früher am Abend, als es noch hell war, hatte er die schwelende Asche nach Resten der Druidengeschichte durchsucht. Er hatte nichts gefunden.

Quickening schlief nicht. Er wußte, daß sie nicht schlafen würde. Sie saß im Schatten einer gewaltigen Kiefer, wo die Bäume, die die Lichtung umgaben, am weitesten von den Schlafenden entfernt waren. Er war noch immer schwach und konnte nicht weit gehen, doch er wollte nicht mit ihr sprechen, wo die beiden anderen ihn hören könnten. Sie schien dies zu fühlen; als er sich näherte, ging sie wortlos mit ihm tiefer in den Wald. Als sie in sicherem Abstand waren, verlangsamte sie ihre Schritte und schaute ihn an.

»Was möchtest du mir sagen, Walker Boh?« fragte sie und zog ihn hinunter auf den kühlen Waldboden.

Er brauchte eine Weile, ehe er zu sprechen begann. Er fühlte wieder die seltsame Verwandtschaft zu ihr, ohne bislang zu verstehen, warum, und das brachte ihn beinahe dazu, sich anders zu besinnen. Er fürchtete sich vor den Worten, die zu sagen er gekommen war, und vor der Reaktion, die sie auslösen würden.

»Quickening«, sagte er schließlich, und als der Klang ihres Namens über seine Lippen kam, ließ ihn das erneut innehalten. Dann riß er sich zusammen. »Cogline gab mir einen Band der Druidengeschichte, bevor er starb. Das Buch wurde vom Feuer zerstört. In dem Buch stand eine Passage, die besagte, daß der schwarze Elfenstein ein Druidenzauber sei und die Macht besitze, das untergegangene Paranor wieder erstehen zu lassen. Das war die Aufgabe, mit der mich der Schatten Allanons betraute, als ich ihn vor ein paar Wochen am Hadeshorn getroffen habe – den Vier Ländern Paranor und die Druiden wiederzubringen. Es war ein Auftrag, den anzunehmen Cogline mich drängte. Er brachte mir die Druidengeschichte, um mich davon zu überzeugen, daß es durchführbar ist.«

»Ich weiß das«, sagte sie leise.

Ihre schwarzen Augen drohten ihn zu verschlingen, und er zwang sich wegzuschauen. »Ich habe daran gezweifelt«, fuhr er fort, und es fiel ihm immer schwerer. »Ich zweifelte an seinen Absichten, wußte nicht, warum er mir das erzählte, beschuldigte ihn, den Interessen der Druiden zu dienen. Ich wollte mit keinem von ihnen etwas zu tun haben. Aber meine Neugier auf den schwarzen Elfenstein brachte mich dazu, der Sache trotzdem nachzugehen, sogar, nachdem Cogline fortgegangen war. Ich beschloß herauszufinden, wo der Elfenstein versteckt war. Ich ging zum Finsterweiher.«

Er schaute wieder zu ihr auf und hielt seinen Blick beständig. »Mir wurden drei Visionen gezeigt. Alle drei handelten von mir. In der ersten stand ich vor den anderen der Gruppe, die zum Treffen mit Allanon zum Hadeshorn gereist waren, und verkündete, daß ich mir eher eine Hand abhacken, als die Druiden wiederzubringen helfen würde. Die Vision verspottete meine Worte und zeigte mich schon ohne meine Hand. Und nun ist sie wirklich weg. Nicht nur die Hand, der ganze Arm.«

Seine Stimme bebte. »Die dritte Vision hat in diesem Zusammenhang keine Bedeutung, doch in der zweiten stand ich am Rande eines Abgrundes, von dem aus man über die Welt schauen konnte. Ein Mädchen war bei mir. Sie verlor das Gleichgewicht und faßte nach mir. Als sie das tat, stieß ich sie fort, und sie stürzte in die Tiefe. Dieses Mädchen warst du, Quickening.«

Er wartete auf ihre Reaktion. Schweigen füllte den Raum zwischen ihnen, bis Walker das Gefühl hatte, nichts trenne sie mehr. Quickening sagte nichts. Sie hielt den Blick auf ihn gerichtet, und ihr Gesicht war bar jeden Ausdrucks.

»Du kennst doch den Finsterweiher!« rief er schließlich voller Entrüstung.

Dann sah er sie blinzeln und erkannte, daß sie an etwas völlig anderes gedacht hatte. »Er ist ein verbannter Geist«, sagte sie.

»Einer, der in Rätseln spricht und lügt und doch ein gewisses Maß an Wahrheit sagt, die er in irreleitender Weise verbrämt. Er tat es bei meiner ersten Vision. Mein Arm ist weg. Ich will nicht, daß dir das gleiche geschieht.«

Ein Anflug von Lächeln huschte über ihr Gesicht, eine Spur von Bewegung ihrer Mundwinkel. »Du wirst mir nichts zuleide tun, Walker Boh. Fürchtest du, daß du es wirst tun müssen?«

»Die Vision«, wiederholte er.

»Eine Vision, weiter nichts«, unterbrach sie ihn. »Visionen sind ebensosehr Illusion wie Wahrheit. Visionen zeigen uns Möglichkeiten und nicht Realität. Wir sind nicht an sie gefesselt, sie steuern nicht, was geschehen wird. Insbesondere solche von einer Kreatur wie dem Finsterweiher. Er neckt mit Falschheit, er täuscht. Fürchtest du ihn, Walker Boh? Nein, nicht du. Und ich auch nicht. Mein Vater sagt mir, was geschehen wird, und das reicht. Du wirst mir kein Leid antun.«

Walkers Gesicht fühlte sich verkniffen und angespannt an. »Er kann sich irren in dem, was er sagt; er mag nicht alles sehen, was sein wird.«

Quickening schüttelte den Kopf, streckte ihre schmale Hand aus und legte sie auf seine. »Du wirst auf dieser Reise mein Beschützer sein, Walker Boh – ihr alle drei, solange es nötig ist. Mach dir keine Sorgen. Ich werde bei euch sicher sein.«

Walker schüttelte den Kopf. »Ich könnte hierbleiben …«

Ihre Hand legte sich hastig auf seine Lippen und berührte sie, als müsse sie neues Gift fortwischen. »Nein.« Das Wort war wie aus Eisen gegossen. »Ich werde in Sicherheit sein, wenn du bei mir bist, ich laufe nur Gefahr, wenn du es nicht bist. Du mußt mitkommen.«

Er sah sie zweifelnd an. »Kannst du mir irgend etwas darüber sagen, was ich zu tun haben werde?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Oder über die Mittel, wie ich Uhl Belk den schwarzen Elfenstein abnehmen soll?«

Wieder verneinte sie mit Bestimmtheit.

»Oder wenigstens, wie ich dich beschützen soll, wo ich doch nur einen Arm habe und …?«

»Nein.«

Er sackte zusammen, fühlte sich plötzlich schrecklich erschöpft. Finsternis hüllte ihn als Decke aus Zweifeln und Unentschlossenheit mit erstickenden Falten ein. »Ich bin ein halber Mann«, flüsterte er. »Ich habe das Vertrauen in mich verloren, in die Versprechen, die ich mir selbst gegeben, die Aufgaben, die ich mir gestellt habe. Ich bin von Druidenträumen und – aufträgen, an die ich nicht glaube, herumgezerrt worden. Ich habe meine beiden engsten Freunde verloren, mein Haus und meine Wertvorstellungen. Ich war der Stärkste von jenen, die Allanon aufsuchten, der, auf den die anderen sich verließen. Jetzt bin ich der Schwächste, kaum in der Lage, mich auf den Beinen zu halten. Ich kann die Visionen des Finsterweihers nicht so schnell abtun wie du. Ich bin zu oft zu Unrecht vertrauensvoll gewesen. Jetzt muß ich einfach alles in Frage stellen.«


»Walker Boh«, sagte sie.

Er schaute sie fragend an, während sie ihm auf die Füße half. »Du wirst wieder stark sein – allerdings nur, wenn du daran glaubst.«

Sie war so nah, daß er ihre Wärme durch die kühle Nachtluft zu ihm strahlen fühlte. »Du bist wie ich«, sagte sie ruhig. »Du hast es schon gespürt, doch du kannst noch nicht begreifen, warum das so ist. Es ist so, denn wir sind in erster Linie Geschöpfe der Magie, die wir befehligen. Die Magie definiert uns, formt uns und macht uns zu dem, was wir sind. Für uns beide ist es ein angeborenes Recht, dem wir nicht entkommen können. Du willst mich beschützen, indem du mir von der Vision berichtest, und indem du die Gefahr, die deine Gegenwart bedeuten könnte, bannst, falls deine Vision sich bewahrheiten sollte. Aber, Walker Boh, wir sind in einer Weise verbunden, daß wir allen Visionen zum Trotz nicht getrennt überleben können. Fühlst du das nicht? Wir müssen diesen Faden des Wegs aufnehmen, der uns nach Eldwist, zu Uhl Belk und dem schwarzen Elfenstein führt, und wir müssen ihm bis zum Ende folgen. Visionen von dem, was sein könnte, dürfen uns nicht von diesem Weg abbringen. Wir dürfen keine Angst um unsere Zukunft haben.«

Sie machte eine Pause. »Magie, Walker Boh. Magie bestimmt den Sinn meines Lebens, die Magie, die mein Vater mir gab. Kannst du behaupten, daß es für dich anders ist?«

Es war nicht eine Frage, die sie ihm stellte, sondern die Feststellung einer Tatsache, eine unanfechtbare Wahrheit. Er holte tief Luft. »Nein«, gab er zu, »das kann ich nicht.«

»Wir können es weder verleugnen noch davor weglaufen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Dies haben wir miteinander gemein – dies und unterschiedliche Aufträge, den schwarzen Elfenstein zu finden und die Vier Länder zu retten, deinen von Allanons Schatten, meinen von meinem Vater. Darüber hinaus ist alles unwichtig. Alle Wege führen zu dem Druidentalisman.« Sie hob ihr Gesicht in das schwache Licht, das vom sternenübersäten Himmel durch die Bäume fiel. »Wir müssen uns zusammen auf die Suche danach machen, Walker Boh.«

Sie war so überzeugt, war sich dessen, was sie sagte, so sicher. Walker fing ihren Blick auf, war noch immer voll Zweifel und Ängste, doch gleichzeitig fühlte er sich von ihrer Zielstrebigkeit und ihrer Willenskraft getröstet. Beides hatte er einst in gleichem Maße besessen. Es machte ihn beschämt und zornig, daß es nicht mehr so war. Er erinnerte sich an Par Ohmsfords Entschlossenheit zu tun, was richtig war, eine Anwendung für seine Gabe der Magie zu suchen. Er dachte an sein unausgesprochenes Versprechen, das er Cogline und Ondit gegeben hatte. Er war noch immer auf der Hut vor der Vision des Finsterweihers, aber Quickening hatte recht. Es durfte ihn nicht von seiner Aufgabe abhalten.

Er schaute sie an und nickte. Ein gewisses Maß an Entschlossenheit kehrte zurück. »Wir werden nicht mehr von der Vision des Finsterweihers sprechen«, versprach er.

»Nicht, ehe es nötig ist«, erwiderte sie.

Sie nahm seinen Arm und führte ihn durch den dunklen Wald zurück zu seinem Schlafplatz.

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