Morgan Leah brauchte fast drei Tage, nachdem er mit Padishar Creel und den Überlebenden der Widerstandsbewegung aufgebrochen war, um über die leeren Weiten der Drachenzähne zu der waldgeschützten Zwergengemeinde Culhaven zu gelangen. Am ersten Tag brausten Gewitter durch die Berge. Wolkenbrüche prasselten auf Bergkuppen und Hänge, verwandelten die Wege zu Schlamm und Morast und hüllten das ganze Land in Nebel und graue Wolken. Am zweiten Tag zogen die Gewitter ab, und die Sonne brach durch die Wolkendecke und begann, den Boden zu trocknen. Der dritte Tag brachte den Sommer zurück, die Luft war warm und duftete nach Blumen und frischem Gras, die Landschaft war hell und farbenfroh unter dem kalten, vom Wind durchwehten Himmel, und man hörte die langsamen, trägen Geräusche von wildlebenden Tieren aus geschützten Winkeln, wo sie sich ihr Heim eingerichtet hatten.
Morgans Laune besserte sich mit dem Wetter. Beim Aufbruch war er sehr niedergeschlagen gewesen. Steff war tot, gestorben in den Katakomben des Jut, und Morgan litt unter unterschwelligen Schuldgefühlen in dem unbegründeten, doch hartnäckigen Glauben, er hätte etwas tun können, um es zu verhindern. Er wußte natürlich nicht, was. Teel war es, die Steff und beinahe auch ihn getötet hatte. Weder Steff noch er hatten bis zum allerletzten Moment gewußt, daß Teel etwas anderes war, als sie zu sein vorgab, daß sie nicht das Mädchen war, in das der Zwerg sich verliebt hatte, sondern ein Schattenwesen, das ausschließlich in der Absicht, sie zu vernichten, mit ihnen in die Berge gezogen war. Morgan hatte einen stillen Verdacht gehegt, doch hatte ihm jeglicher Beweis dafür gefehlt, bis zu dem Augenblick, als sie sich zu erkennen gab, und dann war es zu spät gewesen. Seine Freunde, die Talbewohner Par und Coll Ohmsford, waren verschwunden, nachdem sie dem Grauen der Grube in Tyrsis entkommen waren, und wurden seither nicht mehr gesehen. Der Jut, die Feste der Mitglieder der Bewegung, war in die Hände der Föderation gefallen, und Padishar Creel und seine Geächteten waren nach Norden in die Berge vertrieben worden. Das Schwert von Shannara war noch immer nicht gefunden. Wochen der Suche nach dem Talisman, Wochen, in denen sie sich abgemüht hatten, das Rätsel seines Verstecks zu erschließen, Wochen haarsträubender Konfrontationen mit und Entkommen vor der Föderation und den Schattenwesen, Wochen ständiger Anstrengungen und Enttäuschungen hatten absolut nichts erbracht.
Doch Morgan Leah war zäh, und nachdem er einen Tag oder zwei über das, was vergangen und unabänderlich war, gebrütet hatte, hob sich eine Stimmung wieder. Immerhin war er jetzt so etwas wie ein Veteran in dem Kampf gegen die Unterdrücker seiner Heimat. Vorher war er kaum mehr als ein Störfaktor für die Handvoll von Föderationsoffizieren gewesen, die die Angelegenheiten des Hochlands regierten, und in Wirklichkeit hatte er nie irgend etwas getan, das den Ausgang größerer Ereignisse in den Vier Ländern beeinträchtigt hätte. Er war nur ein minimales Risiko eingegangen, und die Ergebnisse seiner Bestrebungen waren dementsprechend minimal gewesen. Aber in den vergangenen Wochen war er zum Hadeshorn gereist, um dort Allanons Schatten zu begegnen, und er hatte sich der Suche nach dem verlorenen Schwert von Shannara angeschlossen, hatte sowohl gegen die Föderation als auch gegen die Schattenwesen gekämpft, und er hatte Padishar Creel und seinen Geächteten das Leben gerettet, indem er sie vor Teel gewarnt hatte, ehe sie einen letzten Verrat begehen konnte. Er wußte, daß er endlich etwas getan hatte, das von Wert und Bedeutung war.
Und er war dabei, noch etwas zu tun.
Er hatte Steff ein Versprechen gegeben. Als sein Freund im Sterben lag, hatte Morgan geschworen, daß er nach Culhaven ins Waisenhaus gehen würde, wo Steff aufgewachsen war, um Großmutter Elise und Tante Jilt zu warnen, daß sie in Gefahr schwebten. Elise und Jilt – die einzigen Eltern, die Steff je gekannt hatte, die einzigen Verwandten, die er zurückließ – durften nicht im Stich gelassen werden. Wenn Teel Steff verraten hatte, hatte sie auch sie verraten. Morgan würde ihnen helfen, heil zu entkommen.
Es gab dem Hochländer ein neues Ziel, und das half ihm mehr als alles andere, seine Depression zu überwinden. Er hatte seine Reise ernüchtert angetreten. Er hatte getrödelt, niedergeschlagen vom Wetter und seiner Stimmung. Im Laufe des dritten Tages hatte er beides abgeschüttelt. Seine Entschlossenheit gab ihm Auftrieb. Er würde Elise und Jilt aus Culhaven fort und irgendwo in Sicherheit bringen. Er würde nach Tyrsis zurückkehren und die Talbewohner suchen. Er würde die Suche nach dem verlorenen Schwert von Shannara fortsetzen. Er würde ein Mittel finden, Leah und die Gesamtheit der Vier Länder sowohl von den Schattenwesen als auch von der Föderation zu befreien. Er war am Leben, und alles war möglich. Er pfiff im Gehen vor sich hin, ließ sich das Gesicht von der Sonne wärmen und verbannte Selbstzweifel und Mutlosigkeit. Es war an der Zeit, die Dinge in die Hand zu nehmen.
Hin und wieder wanderten seine Gedanken zu der verlorenen Magie des Schwerts von Leah. Er trug noch immer die Reste der zersplitterten Klinge in der Behelfsscheide, die er dafür hergestellt und um die Taille gebunden hatte. Er dachte an die Kraft, die es ihm gegeben hatte, und daran, wie er sich nach dem Fehlen dieser Kraft fühlte – so, als könne er niemals mehr vollständig sein ohne sie. Doch ein kleiner Teil der Magie lebte in der Waffe noch fort; es war ihm gelungen, sie in den Katakomben des Jut wiederzubeleben, als er Teel vernichtete. Es hatte gerade ausgereicht, sein Leben zu retten.
Tief in seinem Inneren, wo er es verbergen konnte und die Unwahrscheinlichkeit nicht zugeben mußte, hegte er den Glauben, daß eines Tages die Magie des Schwertes von Leah wieder die seine wäre.
Es war später Nachmittag des dritten Reisetages, als er aus den Wäldern des Anar tauchte und Culhaven erreichte. Das Zwergendorf war schäbig und verkommen, Refugium jener nun, die entweder zu alt oder noch zu jung waren, um von den Föderationsautoritäten geholt und in die Bergwerke gebracht oder auf dem Markt als Sklaven verkauft zu werden. Culhaven hatte einst zu den gepflegtesten Gemeinden gehört und war jetzt nur noch eine verfallene Ansammlung von Gebäuden und Leuten, die wenig Zeichen von Pflege und Liebe aufwiesen. Der Wald wuchs direkt bis an die äußersten Gebäude heran, Unkraut überwucherte die Gärten, die Straßen verrotteten und erstickten unter Gestrüpp. Holzwände verfaulten unter abblätternder Farbe, Ziegel und Schindeln waren zersprungen und gesplittert, und Blenden um Fenster und Türen hingen schief in den Angeln. Augen lugten aus den Schatten und verfolgten den Hochländer, als er den Ort betrat. Er konnte fühlen, wie die Leute ihn hinter Fenstern und Türen verborgen anstarrten. Die wenigen Zwerge, denen er begegnete, wichen seinem Blick aus und wandten sich hastig ab. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, ging er weiter, und sein Zorn entzündete sich erneut bei dem Gedanken, was man diesen Leuten angetan hatte. Alles bis auf ihr nacktes Leben war ihnen genommen, und ihr Leben selbst war nichtig geworden.
Er erwog noch einmal, wie Par Ohmsford es getan hatte, als sie das letzte Mal hier gewesen waren, was damit bezweckt werden sollte.
Er hielt sich von den Hauptstraßen fern und nahm nur die Nebenpfade, nicht erpicht darauf, irgendwelche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er war Südländer und daher frei, im Ostland zu kommen und zu gehen, wie und wohin ihm beliebte, doch er identifizierte sich in keiner Weise mit der Föderationsbesatzung und zog es vor, ihnen überhaupt fernzubleiben. Selbst wenn nichts von dem, was den Zwergen zugestoßen war, auf seine Kappe ging, schämte er sich über das, was er in Culhaven sah, erneut für das, was und wer er war. Eine Förderationspatrouille kam an ihm vorbei, und die Soldaten nickten ihm freundlich zu. Er konnte nichts anderes tun, als zurückzunicken.
Als er sich dem Waisenhaus näherte, steigerte die Erwartung dessen, was er dort vorfinden würde, seine Wahrnehmungen. Besorgnis stritt mit Zuversicht. Und wenn er zu spät kam? Er schob diese Möglichkeit beiseite. Es gab keinen Grund anzunehmen, daß es so sei. Teel würde es nicht riskiert haben, ihre Verkleidung aufs Spiel zu setzen, indem sie überstürzt handelte. Sie würde mit großer Wahrscheinlichkeit abwarten, bis sie sicher sein konnte, daß es keine Rolle mehr spielte.
Die Schatten wurden länger, und die Sonne verschwand hinter den Bäumen im Westen. Die Luft kühlte ab, und der Schweiß auf Morgans Rücken trocknete unter dem Kittel. Die Tagesgeräusche verwandelten sich in erwartungsvolles Schweigen. Morgan schaute auf seine Hände, fixierte seinen Blick auf das unregelmäßige Muster weißer Narben, die im Zickzack seine gebräunte Haut zeichneten. Kampfwunden hatte er seit Tyrsis und Jut am ganzen Leib. Er biß die Zähne zusammen. Kleinigkeiten, dachte er. Die in seinem Inneren gingen tiefer.
Er erhaschte einen Blick auf ein Zwergenkind, das ihn aus dem Schutz einer niedrigen Steinmauer mit intensiven, schwarzen Augen anschaute. Das Kind war mager und zerlumpt. Seine Augen verfolgten ihn eine Weile und verschwanden dann.
Morgan eilte, plötzlich wieder beunruhigt, schnell weiter. Er sah das Dach des Waisenhauses auftauchen, die erste der Mauern, ein Fenster ganz oben, eine Dachluke. Er bog um eine Kurve in der Zufahrt und wurde langsamer. Er wußte im gleichen Augenblick, daß etwas nicht stimmte. Der Garten des Waisenhauses war leer. Das Gras war nicht gemäht. Es gab keine Spielsachen und keine Kinder. Er kämpfte gegen die Panik an, die ihn zu übermannen drohte. Die Fenster des alten Gebäudes waren dunkel. Nirgendwo war ein Zeichen von irgendwem.
Er erreichte das Tor zum Vorgarten und blieb stehen. Alles war still.
Er hatte sich geirrt. Er kam doch zu spät.
Er tat einen Schritt und blieb wieder stehen. Sein Blick wanderte über das finstere alte Haus, und er fragte sich, ob er vielleicht in irgendeine Art Falle tappen würde. Lange Zeit stand er da und beobachtete. Aber er entdeckte keinerlei Lebenszeichen. Und es gab keinen Grund anzunehmen, daß irgendwer ihn hier erwarten würde, entschied er.
Er ging durch das Tor, stieg die Eingangsstufen hinauf und stieß die Haustüre auf. Drinnen war es dunkel, und er wartete, bis seine Augen sich angepaßt hatten. Dann trat er ein. Langsam ging er durch das ganze Haus, suchte jedes Zimmer eins nach dem anderen ab und kam wieder heraus. Alles war mit Staub überzogen. Es war geraume Zeit her, seit hier jemand gewohnt hatte. Jedenfalls lebte jetzt niemand mehr hier.
Was war dann aus den beiden alten Zwergendamen geworden?
Er setzte sich auf die Eingangsstufen und ließ seine große Gestalt gegen das Geländer sacken. Die Föderation hatte sie. Es gab keine andere Erklärung. Elise und Jilt hätten ihr Heim niemals verlassen, es sei denn, sie wären dazu gezwungen worden. Und sie würden niemals die Kinder im Stich lassen, die in ihrer Obhut standen. Außerdem waren alle ihre Kleider noch in den Truhen und Schränken, die Kinderspielsachen, das Bettzeug, alles. Er hatte es bei seiner Suche gesehen. Das Haus war nicht verschlossen worden, wie es sich gehörte. Viel zuviel war in Unordnung. Nichts war so, wie es wäre, wenn die beiden alten Damen eine Wahl gehabt hätten.
Bitterkeit erfüllte ihn. Steff hatte sich auf ihn verlassen; er konnte jetzt nicht aufgeben. Er mußte Elise und Jilt finden. Aber wo? Und wer in Culhaven konnte ihm sagen, was er wissen mußte? Niemand wußte etwas, vermutete er. Die Zwerge würden ihm gewiß nicht trauen – nicht einem Südländer. Er konnte fragen, bis die Sonne im Osten auf und im Westen wieder unterging.
Lange Zeit saß er so da und dachte nach, und es begann zu dämmern. Nach einer Weile wurde ihm bewußt, daß ein kleines Kind ihn vom Eingangstor her beobachtete, dasselbe, das ihn oben an der Straße angestarrt hatte. Schließlich fragte er: »Kannst du mir sagen, was aus den beiden alten Damen geworden ist, die hier gewohnt haben?«
Der Junge verschwand auf der Stelle. Er war so schnell verschwunden, daß es aussah, als sei er vom Erdboden verschluckt worden. Morgan seufzte. Das war zu erwarten gewesen. Er streckte seine Beine. Er würde die Informationen, die er brauchte, von den Föderationsautoritäten herausbekommen müssen. Das war gefährlich, besonders, falls Teel ihnen nicht nur von Elise und Jilt, sondern auch von ihm berichtet hatte – und es bestand kein Grund zu der Annahme, daß sie das unterlassen hätte. Sie mußte die alten Damen verraten haben, noch ehe die Gruppe die Reise nordwärts nach Darklin Reach angetreten hatte. Die Föderation mußte Elise und Jilt abgeholt haben, sobald Teel das Dorf verlassen hatte. Teel hatte sich keine Sorgen darüber gemacht, daß Steff oder Morgan oder die Talbewohner es erfahren würden. Schließlich sollten sie alle tot sein, ehe es bedeutsam wurde.
Morgan war danach zumute, jemanden oder etwas zu zerschlagen. Teel hatte sie alle verraten. Par und Coll waren verloren. Steff war tot. Und nun diese beiden alten Damen, die nie jemandem etwas zuleide getan hatten …
»He, Mister«, rief eine Stimme.
Er schaute ruckartig auf; der Junge war wieder am Tor. Ein älterer Junge stand neben ihm. Es war der zweite Junge, der sprach, ein stämmiger Bursche mit borstigem, rotem Haar. »Föderationssoldaten haben die alten Damen vor mehreren Wochen weggeholt und in die Arbeitshäuser gebracht. Hier wohnt jetzt keiner mehr.«
Dann waren sie fort, wie vom Erdboden verschluckt wie zuvor. Morgan starrte hinter ihnen her. Sagte der Junge die Wahrheit? Der Hochländer entschied, daß es so war. Gut und schön. Jetzt hatte er eine Kleinigkeit in der Hand, von der er ausgehen konnte. Er wußte, wo er mit der Suche beginnen konnte.
Er stand auf, ging die Auffahrt hinunter und durch das Tor. Er folgte der verrotteten Straße, die sich durch die Dämmerung zum Zentrum des Dorfes schlängelte. Die Wohnhäuser gingen in Läden und Geschäfte über, die Straße verbreiterte sich und teilte sich in mehrere Richtungen. Morgan umging das Geschäftszentrum und beobachtete, wie der Himmel dunkel wurde und die Sterne erschienen. Fackeln beleuchteten die Hauptstraße, doch auf den Gassen und Pfaden, denen er folgte, fehlten sie. Stimmen wisperten in der Stille, undeutliche Geräusche, die keinen Sinn ergaben, murmelnd, als fürchteten die Sprecher, verstanden zu werden. Die Häuser änderten ihren Charakter, wurden gepflegt und sauber, die Gärten gestutzt und gehegt. Föderationshäuser, dachte Morgan, den Zwergen gestohlen – von den Opfern bedient. Er hielt seine Bitterkeit in Schach und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Er wußte, wo die Arbeitshäuser lagen und welchen Zweck sie erfüllten. Die Frauen, die dorthin gebracht wurden, waren zu alt, um als Sklaven verkauft zu werden, doch kräftig genug, um Knechtarbeit wie Waschen und Flicken und dergleichen zu erledigen. Die Frauen waren den Föderationsbaracken zugewiesen und gezwungen, den Bedürfnissen der Garnison zu genügen. Wenn jener Junge die Wahrheit gesagt hatte, dann war es das, was Elise und Jilt zu tun hatten.
Morgan erreichte die Arbeitshäuser wenige Minuten später. Fünf davon standen parallel zueinander, niedrige, lange Gebäude mit Fenstern auf beiden Seiten und Türen an jedem Ende. Die Frauen, die darin arbeiteten, wohnten gleichzeitig auch dort. Pritschen, Decken, Waschschüsseln und Nachttöpfe wurden ihnen zur Verfügung gestellt und nachts unter den Arbeitstischen hervorgezogen. Steff hatte Morgan einmal zu einem Fenster geführt, und er hatte hineingeschaut. Einmal hatte ihm gereicht.
Morgan stand im Schatten eines Lagerschuppens auf der anderen Seite und durchdachte gründlich, was er tun würde. Wachen standen vor allen Eingängen und patrouillierten über die Wege und Flächen. Die Frauen in den Arbeitshäusern waren Gefangene. Es war ihnen nicht erlaubt, die Gebäude aus irgendeinem Grund zu verlassen, es sei denn wegen Krankheit oder Tod oder auch einer wohlwollenderen Form von Freistellung – wobei letzteres so gut wie nie vorkam. Sie durften hin und wieder Besuch empfangen und wurden dabei streng überwacht. Morgan erinnerte sich nicht mehr, wann Besuchszeit war. Außerdem spielte das auch keine Rolle. Es machte ihn wütend, wenn er daran dachte, daß Elise und Jilt an so einem Ort gefangengehalten wurden. Steff hätte nicht gezögert, sie zu befreien, und er auch nicht.
Aber wie sollte er hineinkommen? Und wie sollte er Elise und Jilt herausbringen, wenn er einmal drin war?
Es war hoffnungslos. Es gab keine Möglichkeit, sich ungesehen den Arbeitshäusern zu nähern und sowieso keine Möglichkeit, zu wissen, in welchem der fünf Gebäude die beiden alten Damen gefangengehalten wurden. Er mußte wesentlich mehr herausfinden, ehe er daran denken konnte, einen Rettungsversuch zu unternehmen. Es war nicht zum ersten Mal, seit er die Drachenzähne verlassen hatte, daß er wünschte, Steff wäre bei ihm, um ihn zu beraten.
Schließlich gab er es auf. Er ging hinunter ins Dorfzentrum, nahm ein Zimmer in einem der Gasthäuser, die Händler und Geschäftsleute aus dem Südland beherbergten, nahm ein Bad, um den Dreck abzuwaschen, wusch auch seine Kleider und ging zu Bett. Er lag wach und dachte an Elise und Jilt, bis der Schlaf ihn schließlich übermannte.
Als er am nächsten Morgen erwachte, wußte er, was er zu tun hatte, um sie zu retten.
Er kleidete sich an, frühstückte im Speisesaal des Gasthauses und machte sich auf. Was er vorhatte, war riskant, aber dagegen war nichts zu machen. Nachdem er ein paar Nachforschungen angestellt hatte, wußte er die Namen der Kneipen, die von den Föderationssoldaten am meisten besucht wurden. Es gab drei davon, und alle drei lagen an der gleichen Straße nahe dem Markt. Er fand sie, wählte die wahrscheinlichste aus – es war ein dämmriger Saal, »Hoher Stiefel« genannt – trat ein, suchte sich einen Tisch in der Nähe der Bar, bestellte ein Bier und wartete. Obwohl es noch früh am Tag war, kamen schon vereinzelt Soldaten herein, Männer von der Nachtschicht, die noch nicht ins Bett gehen wollten. Eifrig unterhielten sie sich über das Garnisonsleben und scherten sich wenig darum, wer ihnen lauschen mochte. Morgan hörte aufmerksam zu. Von Zeit zu Zeit schaute er gerade lange genug auf, um eine freundliche Frage zu stellen. Manchmal gab er Kommentare von sich. Und hier und da bestellte er ein Bier für jemanden. Aber vor allem wartete er ab.
Ein großer Teil der Gespräche drehte sich um ein Mädchen, von dem das Gerücht ging, sie sei die Tochter des Königs vom Silberfluß. Sie war reichlich mysteriös aus dem Silberflußland aufgetaucht, südwestlich unterhalb des Regenbogensees, und war auf dem Weg nach Osten. Wo immer sie hinkam, in Dörfern oder Städten, die sie durchquerte, vollbrachte sie Wunder. Nie hatte es solche Magie gegeben, wurde behauptet. Sie war jetzt auf dem Weg nach Culhaven.
Die übrigen Kneipengespräche drehten sich um Klagen über die Art, wie die Föderationsarmee von den Offizieren dirigiert wurde. Da es sich um niedrigrangige Soldaten handelte, die sich beklagten, war die Art ihrer Unterhaltungen nicht weiter verwunderlich. Dies war der Teil, dem Morgan mit Interesse lauschte. Der Tag verstrich träge; es war schwül und stickig in dem Saal, und nur das kühle Bier und die Gespräche verhinderten die Langeweile. Föderationssoldaten kamen und gingen, doch Morgan blieb, wo er war, als fast unsichtbare Erscheinung nippte er an seinem Glas und lauschte. Er hatte zunächst gedacht, er würde von der einen Kneipe in die nächste ziehen, doch es wurde sehr bald deutlich, daß er alles, was er wissen mußte, erfahren würde, wenn er im »Hohen Stiefel« blieb.
Im Laufe des Nachmittags wußte er, was er wissen wollte. Es wurde Zeit zu handeln. Er stand auf und ging über die Straße in die zweite der Kneipen, genannt »Froschteich«, der passendste Name für das Lokal, den man sich denken kann. Er ließ sich hinter einem grünen, stoffbespannten Tisch nieder, der im Dämmerlicht dastand wie ein Seerosenblatt in einem dunklen Teich und hielt nach einem Opfer Ausschau. Er fand es fast sofort, einen Mann von ungefähr seiner Größe, niederer Soldat ohne besonderen Rang, der allein trank und in irgendwelche privaten Gedanken so versunken war, daß er den Kopf so weit gesenkt hielt, daß er fast den Tresen berührte. Eine Stunde verstrich, dann noch eine. Morgan wartete geduldig, bis der Soldat sein letztes Glas leergetrunken hatte, sich aufrichtete und schließlich durch die Türen nach draußen torkelte. Dann folgte er ihm.
Der Tag war fast vorüber, und das Tageslicht wurde grau mit dem herannahenden Abend. Der Soldat schlurfte unsicher die Straße hinunter, an Gruppen von anderen Soldaten und durchreisenden Händlern vorbei in Richtung der Baracken. Morgan wußte, wo er hinging, und schlüpfte an ihm vorbei, um ihm den Weg abzuschneiden. Als der Soldat neben einer Schmiede um eine Ecke kam, fing er ihn ab. Scheinbar stieß er rein zufällig mit ihm zusammen, doch er schlug so kräftig zu, daß der Mann bewußtlos war, noch ehe er zu Boden ging. Morgan ließ ihn fallen, murmelte etwas in gespielter Entrüstung und hob den Kerl dann auf und schwang ihn sich über eine Schulter. Der Schmied und seine Arbeiter und ein paar Passanten schauten herüber, und Morgan verkündete ziemlich gereizt, daß er den Kerl wohl oder übel in sein Quartier würde schleppen müssen. Dann stolzierte er mit vorgetäuschtem Widerwillen davon.
Er schleppte den bewußtlosen Soldaten ein paar Häuser weiter zu einer Scheune und schlüpfte hinein. Niemand sah ihn hineingehen. Dort im Finstern zog er dem Mann die Uniform aus, fesselte und knebelte ihn sorgfältig und zerrte ihn hinter einen Stapel Hafersäcke. Er zog die Uniform an, klopfte sie sauber, strich die Falten glatt und stopfte seine eigenen Kleider in einen Sack, den er mitgebracht hatte. Dann schnallte er sich die Waffen um und trat wieder hinaus.
Und beeilte sich. Das Gelingen seines Plans hing von der Wahl des richtigen Zeitpunkts ab. Er mußte das Verwaltungszentrum der Arbeitshäuser direkt nach dem Wachwechsel erreichen. Der in den Kneipen verbrachte Tag hatte ihm alle Informationen über Leute, Orte und Arbeitsweise gebracht, die er nötig hatte, er brauchte seine Kenntnisse nur in Anwendung zu bringen. Die abendlichen Schatten breiteten sich schon über das Waldland und verschlangen die restlichen sonnigen Flecken. Die Straßen begannen sich zu leeren, Soldaten, Händler und Bürger strebten heimwärts zum abendlichen Mahl. Morgan hielt Abstand, achtete darauf, höher gestellte Offiziere im Vorbeigehen zu grüßen und alles in seiner Macht Stehende zu tun, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er gab sich einen entschlossenen Ausdruck und eine Haltung, die dazu angetan war, andere in Schach zu halten. Er wurde zu einem ziemlich hart aussehenden, pflichtbewußten Föderationssoldaten – einem von jenen, denen man sich lieber nicht ohne triftigen Grund näherte, einem, den man besser nicht verärgerte. Es schien zu klappen, man ließ ihn in Ruhe.
Die Arbeitshäuser waren erleuchtet, als er sich ihnen näherte, das Tagwerk kam zu seinem Ende. Das Abendessen in Form von Suppe und Brot wurde von den Wächtern hineingetragen. Die Essensgerüche wehten durch die Luft – nicht besonders appetitanregend. Morgan überquerte die Zufahrt zu den Vorratsscheunen und tat so, als überprüfe er etwas. Die Minuten verstrichen, und die Dunkelheit kam näher.
Genau bei Sonnenuntergang war Wachwechsel. Neue Wachen traten an die Stelle der alten auf den Straßen und an den Türen der Arbeitshäuser. Morgan hielt seinen Blick auf das Verwaltungszentrum fixiert. Der Tagesoffizier gab seinen Platz für seinen nächtlichen Partner frei. Ein Adjutant übernahm den Empfangstresen. Zwei Männer im Dienst – das war alles. Morgan gab allen ein paar Minuten Zeit, sich einzurichten, dann holte er tief Luft und trat aus den Schatten hervor.
Er ging schnurstracks ins Zentrum, trat ein und präsentierte sich am Empfangsschalter. »Da bin ich wieder«, verkündete er.
Der Adjutant schaute ihn ausdruckslos an.
»Wegen der alten Damen«, fügte Morgan hinzu. Er machte eine Pause. »Hat man Sie nicht informiert?«
Der Adjutant schüttelte den Kopf. »Ich bin eben erst …«
»Aber da mußte ein Auslieferungsbefehl von vor weniger als einer Stunde auf Ihrem Tisch liegen«, fauchte Morgan. »Haben Sie ihn nicht?«
»Hm, nein …« Der Adjutant wühlte auf seinem Schreibtisch herum und schob Aktenstapel hin und her.
»Unterschrieben von Major Assomal.«
Der Adjutant erstarrte. Er wußte, wer Major Assomal war. Es gab in der ganzen in Culhaven stationierten Garnison keinen Soldaten, der ihn nicht kannte. Morgan hatte in der Kneipe von dem Major erfahren. Assomal war der gefürchtetste und verhaßteste Föderationsoffizier der Besatzungsarmee. Niemand wollte mit ihm zu tun haben, wenn er es irgendwie vermeiden konnte.
Der Adjutant erhob sich eilig. »Ich gehe den Wachoffizier holen«, stammelte er.
Er verschwand im Nebenbüro und kam wenige Augenblicke mit seinem Vorgesetzten zurück. Der Kapitän war sichtlich erregt. Morgan salutierte mit genau der richtigen Dosis Verachtung.
»Um was handelt es sich?« fragte der Kapitän, doch die Frage klang eher wie ein Flehen.
Morgan verschränkte die Hände hinter dem Rücken und reckte sich auf. Sein Herz klopfte heftig. »Major Assomal wünscht die Dienste von zwei Zwergenfrauen, die sich zur Zeit in den Arbeitshäusern befinden. Ich habe sie heute auf seinen Wunsch persönlich ausgewählt. Ich bin fortgegangen, damit die Papiere ausgefüllt werden können, und jetzt bin ich wieder da. Doch mir scheint, die Papiere sind noch nicht fertiggestellt worden.«
Der Wachkapitän war ein bleicher Mann mit einem runden Gesicht, der aussah, als habe er den größten Teil seiner Dienstzeit hinter einem Schreibtisch absolviert. »Ich weiß davon nichts«, knurrte er verdrießlich.
Morgan zuckte mit den Achseln. »Na gut. Soll ich Major Assomal diese Nachricht überbringen, Kapitän?«
Der Mann erblaßte. »Nein, nein, das wollte ich damit nicht sagen. Die Sache ist, daß ich …« Er atmete scharf aus. »Das ist sehr unangenehm.«
»Insbesondere, weil Major Assomal mich jeden Moment zurückerwartet.« Morgan hielt inne. »Mit den Zwerginnen«, fügte er hinzu.
Der Wachkapitän warf die Hände in die Luft. »Also gut! Was spielt es für eine Rolle! Ich werde sie selbst unterzeichnen! Lassen Sie sie herschaffen und die Angelegenheit hinter uns bringen!«
Er klappte das Namensregister auf, während Morgan ihm über die Schulter schaute, und stellte fest, daß Elise und Jilt im Arbeitshaus Nummer vier untergebracht waren. Hastig füllte er einen Entlassungsschein für die Arbeitshauswache aus. Als er den Adjutanten losschicken wollte, um die alten Damen zu holen, bestand Morgan darauf, daß er selbst mitginge.
»Nur, um sicher zu sein, daß es keine weiteren Mißverständnisse mehr gibt, Kapitän«, erklärte er. »Immerhin muß ich gegenüber Major Assomal dafür geradestehen.«
Der Wachkapitän widersprach nicht, weil ihm offensichtlich daran lag, die Angelegenheit so schnell wie möglich zu erledigen, und Morgan ging mit dem Adjutanten hinaus. Die Nacht war still und angenehm warm. Morgan war es fast fröhlich zumute. Sein Plan, Risiko hin oder her, schien zu klappen. Sie überquerten das Gelände zum Gebäude vier, präsentierten den Wachen, die vor der Tür postiert waren, den Entlassungsbefehl und warteten, bis sie ihn durchgelesen hatten. Dann schlossen die Wachen die Türen auf und winkten sie hinein. Morgan und der Adjutant stießen die schweren Holztüren auf und traten ein.
Das Arbeitshaus war vollgestopft mit Arbeitstischen und Leibern. Es roch nach Schweiß und verbrauchter Luft. Staub lag überall, die Lampen beleuchteten die schmutzigen, ungetünchten Wände. Die Zwergenfrauen kauerten auf dem Fußboden, hielten Suppenschüsseln und Brotstücke in der Hand und beendeten ihr Abendessen. Köpfe und Augen drehte sich hastig zu den beiden Föderationssoldaten und wandten sich ebenso hastig wieder ab. Morgan entging der unmißverständliche Ausdruck von Angst und Abscheu nicht.
»Rufen Sie sie auf«, befahl er dem Adjutanten.
Der Adjutant tat, wie geheißen. Seine Stimme hallte durch den kellerartigen Saal, und am hinteren Ende rappelten sich zwei gebeugte Gestalten auf die Füße.
»Und jetzt warten Sie draußen auf mich«, forderte Morgan.
Der Adjutant zögerte und verschwand dann durch die Tür. Morgan wartete ungeduldig, bis Elise und Jilt sich mühsam den Weg zwischen den Leibern, Bänken und Pritschen hindurch bis zu der Stelle, an der er stand, gebahnt hatten. Er konnte sie kaum wiedererkennen. Ihre Kleider waren zerlumpt. Elises feines, graues Haar war ungepflegt und sah aus, als sei es ausgefranst. Jilts Vogelgesicht war verbissen und spitz. Sie waren mehr als nur vom Alter gebeugt, und sie bewegten sich so langsam, als verursache es ihnen Schmerzen, auch nur zu laufen.
Sie traten mit gesenktem Blick vor ihn und blieben stehen.
»Elise«, sagte er leise. »Jilt.«
Sie schauten langsam auf, und ihre Augen weiteten sich. Jilt hielt den Atem an. »Morgan!« flüsterte Elise erstaunt. »Junge, bist du es?«
Er beugte sich schnell hinunter und nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Sie sackten in seine Arme wie Stoffpuppen, die keine eigene Kraft besitzen, und er hörte, wie sie beide zu weinen begannen. Hinter ihnen starrten die anderen Zwergenfrauen sie verwirrt an.
Morgan stellte die beiden Greisinnen sanft auf die Füße. »Hört genau zu«, sagte er leise. »Wir haben wenig Zeit. Ich habe den Wachkapitän ausgetrickst, so daß er euch in meine Obhut entläßt, aber er kann mir auf die Schliche kommen, wenn wir ihm die Gelegenheit dazu geben, also müssen wir uns sputen. Gibt es einen Ort, wo ihr euch verstecken könnt? Wo man euch nicht findet?«
Jilt nickte mit entschlossener Miene. »Der Widerstand wird uns verstecken. Wir haben noch immer Freunde.«
»Morgan, wo ist Steff?« unterbrach Elise.
Der Hochländer zwang sich, ihrem fragenden Blick standzuhalten. »Es tut mir leid, Elise. Steff ist tot. Er wurde im Kampf gegen die Föderation in den Drachenzähnen getötet.« Er sah den Schmerz in ihren Augen. »Teel ist ebenfalls tot. Sie war es, die Steff getötet hat. Sie war leider nicht, was wir alle angenommen hatten. Sie war ein Schattenwesen, ein Geschöpf finsterer Magie, das mit der Föderation im Bunde stand. Sie hat auch euch verraten.«
»Oh, Steff«, flüsterte Elise geistesabwesend. Sie weinte wieder.
»Die Soldaten haben uns gleich nach eurer Abreise geholt«, berichtete Jilt zornig. »Sie haben die Kinder fortgebracht und uns in diesen Käfig gesperrt. Ich wußte, daß irgend etwas schiefgegangen war. Ich dachte, sie hätten euch ebenfalls erwischt. Verdammt, Morgan, dieses Mädchen war wie eine von uns!«
»Ich weiß, Jilt«, erwiderte er in Erinnerung daran, wie es gewesen war. »Es ist schwierig geworden zu erkennen, wem man trauen kann. Wie ist es mit den Zwergen, bei denen ihr euch verstecken wollt? Sind sie vertrauenswürdig? Seid ihr sicher, daß ihr dort in Sicherheit seid?«
»Einigermaßen« erwiderte Jilt. »Hör auf zu weinen, Elise«, sagte sie und tätschelte liebevoll die Hand der anderen. »Wir müssen tun, was Morgan gesagt hat, und sehen, daß wir von hier fortkommen, solange wir die Gelegenheit dazu haben.«
Elise nickte und wischte sich die Tränen ab. Morgan richtete sich wieder auf und strich den beiden über das graue Haar. »Denkt dran, ihr kennt mich nicht. Ihr steht nur unter meiner Verantwortung, bis wir von hier fort sind. Und wenn irgend etwas schiefgeht und wir getrennt werden, geht an einen sicheren Ort. Ich habe Steff das Versprechen gegeben, daß ich dafür sorgen würde. Sorgt also dafür, daß ich mein Versprechen nicht breche, ja?«
»In Ordnung, Morgan«, sagte Elise.
Dann gingen sie hinaus, Morgan voran und die beiden Greisinnen hinter ihm her. Der Adjutant stand starr allein auf einer Seite, und die Wachen sahen gelangweilt aus. Mit den Zwergenfrauen im Schlepp kehrten Morgan und der Adjutant zum Verwaltungszentrum zurück. Der Wachkapitän erwartete sie ungeduldig, die versprochenen Entlassungspapiere in der Hand. Er reichte sie Morgan über den Empfangstresen hinweg zur Unterschrift, schob sie dann dem Adjutanten zu und stakste in sein Büro zurück. Der Adjutant schaute Morgan unbehaglich an.
Morgan gratulierte sich im stillen für seinen Erfolg. »Major Assomal wird schon warten«, sagte er.
Er wandte sich um und war gerade dabei, Elise und Jilt nach draußen zu bugsieren, als die Tür direkt vor ihrer Nase aufging und ein neuer Föderationsoffizier auftauchte. Dieser hier trug die gekreuzten Streifen eines Divisionskommandanten.
»Kommandant Soldt!« Der Adjutant sprang auf die Füße und salutierte zackig.
Morgan erstarrte. Kommandant Soldt war mit der Überwachung der inhaftierten Zwerge beauftragt, der höchstrangige Offizier der ganzen Garnison. Was er um diese Zeit im Zentrum zu suchen hatte, stand jedem frei, sich auszudenken, aber es bedeutete jedenfalls für die Durchführung von Morgans Plan nichts Gutes.
Der Hochländer salutierte.
»Was soll das alles?« fragte Soldt mit einem Seitenblick auf Elise und Jilt. »Was haben die hier außerhalb ihrer Quartiere zu suchen?«
»Nur ein Auslieferungsantrag, Kommandant«, erwiderte der Adjutant. »Von Major Assomal.«
»Assomal?« Soldt runzelte die Stirn. »Er ist im Feld. Was will er dort mit Zwergen …« Er schaute zu Morgan. »Ich kenne Sie nicht, Soldat. Zeigen Sie mir Ihre Papiere.«
Morgan schlug so kräftig zu, wie er konnte. Soldt stürzte und blieb reglos liegen. Morgan stürmte augenblicklich auf den Adjutanten zu, der schreiend zurückwich. Morgan erwischte ihn und rammte seinen Schädel gegen das Pult. Der Wachkapitän erschien im richtigen Moment, um ein paar schnelle Schläge ins Gesicht zu erhalten. Er taumelte in sein Büro zurück und ging zu Boden.
»Raus hier!« flüsterte Morgan Elise und Jilt zu.
Sie rannten aus dem Verwaltungszentrum in die Nacht hinaus. Morgan schaute schnell um sich und atmete erleichtert auf. Die Wachen waren noch immer auf ihren Posten. Niemand hatte den Kampf gehört. Er führte die alten Damen schnell die Straße hinunter von den Arbeitshäusern fort. Eine Patrouille tauchte vor ihnen auf. Morgan verlangsamte seine Schritte und ging mit ehrfurchtgebietender Haltung vor seinen Schützlingen her. Die Patrouille bog ab, ehe sie sie erreichten, und verschwand in der Dunkelheit.
Dann begann jemand hinter ihnen um Hilfe zu rufen. Morgan zerrte die alten Damen in eine Seitengasse und scheuchte sie bis zum anderen Ende. Die Rufe vervielfältigten sich jetzt, und man hörte rennende Schritte. Pfeifen schrillten, und eine Sirene heulte auf.
»Gleich haben wir sie alle auf dem Hals«, murmelte Morgan vor sich hin.
Sie gelangten an die nächste Querstraße und bogen ein. Das Geschrei war auf allen Seiten um sie herum. Er zog die alten Damen in einen dämmrigen Hauseingang und wartete. An beiden Enden der Straße tauchten Soldaten auf und suchten nach ihnen. Morgans Rettungspläne waren zunichte. Er ballte die Hände zu Fäusten. Was auch immer passierte, er konnte nicht zulassen, daß die Föderation Elise und Jilt wieder einfing.
Er beugte sich zu ihnen hinunter. »Ich muß sie weglocken«, flüsterte er dringlich. »Bleibt hier, bis sie hinter mir her sind, dann rennt los. Sobald ihr euch versteckt habt, bleibt dort – egal was passiert.«
»Morgan, und du?« Elise packte seinen Arm.
»Macht euch um mich keine Sorgen. Tut nur, was ich euch gesagt habe. Kommt nicht nach mir suchen. Ich werde euch finden, wenn diese ganze Angelegenheit überstanden ist. Auf Wiedersehen, Elise. Auf Wiedersehen, Jilt.«
Er ignorierte ihr Flehen, er solle bleiben, umarmte und küßte sie hastig und stürmte auf die Straße hinaus. Er rannte, bis er den ersten Suchtrupp sah, und schrie ihnen zu: »Da drüben sind sie!«
Die Soldaten kamen hinter ihm hergerannt, als er in eine Seitenstraße einbog und sie von Elise und Jilt wegführte. Er riß das Breitschwert, das er auf den Rücken geschnallt trug, aus seiner Scheide. Als er die Seitenstraße verließ, entdeckte er einen weiteren Trupp und rief sie ebenfalls hinter sich her, indem er vage nach vorn zeigte. Für sie war er nur ein anderer Soldat – jedenfalls für den Augenblick noch. Wenn er sie vor sich manövrieren konnte, wäre es ihm vielleicht möglich, ebenfalls zu entkommen.
»Die Scheune da vorn!« schrie er, als der erste Trupp ihn einholte. »Da sind sie drin!«
Die Soldaten stürmten an ihm vorbei, erst der erste Trupp, dann der zweite. Morgan wendete und stürmte in entgegengesetzter Richtung davon. Als er um die Ecke eines Nahrungsspeichers bog, rannte er direkt in die Arme eines dritten Trupps.
»Sie sind in …«
Er hielt abrupt inne. Der Wachkapitän stand vor ihm und brüllte, als er ihn erkannte.
Morgan versuchte zu fliehen, doch die Soldaten waren im Nu über ihm. Er verteidigte sich tapfer, aber er hatte keinen Platz zum Manövrieren. Seine Angreifer rückten näher und zwangen ihn zu Boden. Schläge prasselten auf ihn nieder.
Es klappt nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte, dachte er trübsinnig, und dann wurde alles schwarz.