Morgan Leah war als erster bei Quickening. Er riß sich mit einer Kraft los, die den Einarmigen überraschte, rannte über den Platz, als sie auf den Stein stürzte, und fing sie auf, noch ehe sie am Boden war. Kniend hielt er sie im Arm, drückte ihr aschfahles Gesicht an seine Brust und flüsterte wieder und wieder ihren Namen.
Walker Boh und Horner Dees eilten aus entgegengesetzten Richtungen herbei, beugten sich einen Moment über sie und tauschten dann einen ernüchternden Blick. Die ganze Vorderseite von Quickenings Hemd war mit ihrem Blut durchtränkt.
Walker kniff die Augen zusammen und spähte durch den Dunst in die Richtung, in die Pe Ell verschwunden war. Der Mörder war schon nicht mehr zu sehen. Er floh durch das Labyrinth aus Häusern und Straßen zurück zu der Landenge und den Klippen dahinter. Walker dachte an den Ausdruck, den er in seinem Blick gesehen hatte – Entsetzen, Ungläubigkeit und Wut. Quickening zu töten hatte ihm eindeutig nicht das gegeben, was er erwartet hatte.
»Walker!«
Morgans Stimme war ein verzweifeltes Flehen. Walker schaute ihn an. »Hilf ihr, Walker. Sie stirbt!«
Walker schaute auf das Blut in ihren Kleidern, auf den gebrochenen, zusammengesunkenen Körper, auf das schöne Gesicht, über das sich ihr Silberhaar wie ein Schleier gebreitet hatte. Sie stirbt. Er flüsterte die Worte tonlos im Geiste, wunderte sich erst, daß so etwas möglich war, und dann, daß er nicht schon viel früher die Unvermeidlichkeit erkannt hatte. Er starrte auf das Mädchen, so hilflos und unglücklich wie der Hochländer, doch gleichzeitig begann ihm ein Schimmer von Verstehen zu dämmern, warum es geschah.
»Walker, tu etwas!« wiederholte Morgan drängend, verzweifelt.
»Hochländer«, sagte Horner Dees und legte ihm freundlich die Hand auf die Schulter. »Was soll er denn tun?«
»Was wohl! Seine Magie benutzen! Ihr die gleiche Chance geben, die sie ihm gegeben hat!«
Walker kniete sich neben ihn. »Ich kann es nicht, Morgan«, sagte er leise und ruhig. »Ich habe die Magie nicht, die sie braucht.« Er befühlte ihren Hals und suchte nach dem Puls. Er fand ihn, schwach und unregelmäßig. Er sah sie atmen. »Sie muß tun, was sie kann, um sich selber zu retten.«
Morgan warf ihm einen kurzen Blick zu, dann begann er wieder, auf Quickening einzureden, drängte sie, aufzuwachen und zu ihm zu sprechen. Seine Worte waren verzweifelt, hastig und dringlich. Das Mädchen regte sich schwach.
Walker sah Horner Dees an. Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf.
Da schlug Quickening die Augen auf. Sie waren klar und erschreckt und voller Schmerz. »Morgan«, flüsterte sie. »Nimm mich auf den Arm. Trag mich aus der Stadt.«
Morgan hielt es zwar nicht für klug, doch er widersprach nicht. Er hob sie ohne Anstrengung auf und trug sie, als wäre sie schwerelos. Er hielt sie nah an sich gedrückt, gab ihr seine Wärme und flüsterte beim Gehen ohne Unterlaß auf sie ein. Walker und Dees folgten schweigend. Sie überquerten den Platz und folgten der Straße, über die Pe Ell geflüchtet war. »Halte dich auf den Gehsteigen«, warnte Walker, und Morgan folgte seinem Rat.
Sie waren erst ein kurzes Stück gegangen, als die Erde wieder zu beben begann. Ganz Eldwist wurde geschüttelt, die Häuser krachten und bildeten Risse, und Steinsplitter und Staub prasselten hernieder. Walker warf einen Blick über die Schulter zum Stadtzentrum zurück. Der Malmschlund bewegte sich wieder. Was immer seine Begegnung mit Uhl Belk ergeben hatte, er hatte eindeutig eine neue Strategie beschlossen. Vielleicht hatte er seinem Vater ein Ende bereitet. Vielleicht hatte er einfach beschlossen, daß der schwarze Elfenstein wichtiger war. Wie auch immer, er kam direkt in ihre Richtung. Statt seine unterirdischen Tunnel zu benutzen, raste er durch die Straßen von Eldwist. Mauern barsten und stürzten ein. Das Gift seines Körpers spritzte wild herum. Die Luft um ihn herum dampfte und schimmerte.
Die verbliebenen Mitglieder der Gruppe aus Rampling Steep begannen südwärts zu der Landenge zu rennen. Sie hatten Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten, denn der Boden unter ihnen wackelte und bebte. Überall schnappten von den Erschütterungen entriegelte Falltüren auf, und der Schutt einstürzender Mauern übersäte die Straßen. Hinter ihnen schnaufte und grunzte der Malmschlund und kam immer näher.
Obwohl Morgan Quickening auf den Armen trug, gab er ein rasendes Tempo an, und weder Walker noch Horner Dees konnten es einhalten. Als sie den Stadtrand erreichten, war der alte Fährtensucher schon fünfzig Schritte zurückgefallen. Keuchend schlingerte seine stämmige Gestalt hinter ihnen her. Walker rannte zwischen ihnen, seine Beine waren schwer und schwach und seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Er rief hinter Morgan her, er solle etwas langsamer laufen, aber der Hochländer war taub für ihn. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Mädchen konzentriert. Walker schaute sich zu Dees um, sah das Beben der Gebäude, an denen der Malmschlund vorbeiraste, der schon wieder ein Stück näher herangekommen war und dessen Schatten sich vor dem grauen Himmel abzeichnete. Walker glaubte nicht, daß sie ihm entkommen würden. Er konnte nicht umhin zu denken, durch welche Ironie des Schicksals sie für etwas sterben würden, das sie gar nicht mehr in ihrem Besitz hatten.
Während ihrer Flucht zog die Zeit sich unendlich in die Länge, reduziert auf das Trommeln ihrer Stiefel auf dem Stein. Die Wellen brachen sich an den Ufern der Landenge zu beiden Seiten, und die Gischt sprühte über ihre erhitzten Gesichter. Der Fels wurde glitschig, und sie stolperten und rutschten immer wieder aus. Die Wolken wurden finster, und es fing wieder an zu regnen. Walker dachte wieder an den Ausdruck in Pe Ells Gesicht, als er Quickening erstochen hatte. Er überdachte seine frühere Annahme. Was er dort gesehen hatte, war Verblüffung gewesen. Pe Ell war noch nicht bereit gewesen, sie sterben zu lassen. Hatte er überhaupt vorgehabt, den Stiehl zu benutzen? Irgend etwas an den Gesten der beiden im Augenblick vor dem Dolchstich war seltsam. Warum war Quickening nicht einfach fortgerannt? Sie hatte sich doch von ihm befreit, aber sie war zu ihm zurückgekehrt. In die Klinge? Absichtlich? Hatte sie mehr getan, als nur dazustehen und zu warten? Hatte sie sich tatsächlich in Pe Ells Klinge gestürzt?
Seine wirren Gedanken schienen zu kristallisieren und zu Eis zu erstarren. Himmel noch mal! War das der Grund, warum Pe Ell aufgefordert worden war, mitzukommen? Pe Ell, der Mörder mit der magischen Waffe, einer Magie, der nichts standhalten konnte – war das der Grund für seine Teilnahme?
Weiter vorn hatte Morgan Leah den Fuß der Klippen und den Pfad, der von der Landenge hinaufführte, erreicht. Ohne langsamer zu werden, begann er den Aufstieg.
Hinter ihnen tauchte der Malmschlund auf. Sein gewaltiger Schädel brach zwischen den Häuserruinen hervor, witterte und schoß dann weiter voran. Er schleimte sich zwischen den Mauern der Stadt hindurch, als hätte er keine Knochen. Sein unförmiger Leib füllte die ganze Landenge. Der riesige Koloß schob sich immer näher.
Walker stolperte den Pfad auf die Klippen hinauf, Horner Dees war noch immer ein Stück weiter hinter ihm. Er verdrängte seine Gedanken an Pe Ell und Quickening. Sie erschienen ihm allzu abwegig. Warum sollte Quickening wollen, daß Pe Ell sie tötete? Warum sollte sie sterben wollen? Er sah keine Veranlassung dafür. Er versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was er tun konnte, um den Malmschlund aufzuhalten. Er warf wieder einen Blick zurück und sah das massige, schneckenartige Tier über den Fels robben. Konnte er die Landenge unter ihm einstürzen lassen? Nein, der Felsen war zu tief. Die Klippen auf ihn drauf? Nein, er würde sich einfach darunter durchwinden. Wasser würde ihn behindern, aber alles Wasser war hinter ihnen im Gezeitenstrom. Keine von Walkers Magien, nicht einmal Coglines, waren stark genug, den Malmschlund aufzuhalten. Flucht war ihre einzige Chance, und lange würden sie nicht mehr davonlaufen können.
Er gelangte auf die Höhe der Klippen, wo Morgan Leah wartete. Der Hochländer kniete um Atem ringend auf dem Felsvorsprung, von dem aus man die Landenge und Eldwist überblickte. Er beugte sich über Quickening, die mit offenen, wachen Augen in seinen Armen lag. Walker eilte zu ihnen. Quickenings Gesicht war kreidebleich.
Morgan Leah schaute zu ihm auf. »Sie will ihre Magie nicht benutzen«, wisperte er fassungslos.
Walker kniete sich neben sie. »Rette dich selbst, Quickening. Es steht in deiner Macht.«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre schwarzen Augen glänzten, als sie Morgans Blick suchten. »Hör mich an«, sagte sie leise und mit ruhiger Stimme. »Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben, und ich werde bei dir sein. Vergiß es nicht. Und vergiß auch nicht, daß ich die Dinge ändern würde, wenn ich es könnte. Leg mich jetzt nieder und steh auf.«
Morgan schüttelte den Kopf. »Nein, ich will bei dir bleiben …«
Sie berührte seine Wange mit der Hand, und er verstummte. Wortlos legte er sie auf den Boden und trat zurück. Tränen rannen ihm über das Gesicht.
»Nimm dein Schwert, Morgan, und steche es in den Boden. Jetzt.«
Morgan zog das Schwert von Leah, packte es mit beiden Händen und rammte es in den Felsen. Seine Hände hielten es einen Augenblick lang fest, dann ließen sie los.
Er schaute langsam auf. »Stirb nicht, Quickening«, flehte er.
»Vergiß mich nicht«, flüsterte sie.
Horner Dees kam keuchend herbeigestolpert. »Was ist los?« fragte er mit leiser, rauher Stimme und beugte sein bärtiges Gesicht näher. »Was tut sie?«
Walker schüttelte den Kopf. Ihre schwarzen Augen suchten seinen Blick. »Walker!« rief sie ihn.
Er ging zu ihr, hörte, wie der Malmschlund immer näher kam, dachte, daß sie schnell weiter mußten und fragte sich, so wie Horner Dees, was sie im Sinn hatte. Er kniete neben ihr nieder.
»Hilf mir auf«, sagte sie hastig, als versuche sie zu sprechen, solange sie noch konnte. »Bring mich an den Klippenrand.«
Walker stellte keine Fragen. Er legte seinen Arm um ihre Taille und richtete sie auf. Sie schwankte schwach, und ihr zitternder Leib stützte sich gegen ihn. Er hörte, wie Morgan protestierte, aber ein kurzer Blick des Mädchens ließ ihn schweigen. Walker stützte sie, damit sie nicht hinfiel, und führte sie langsam bis an den Rand des Abgrunds. Dort blieben sie stehen. Unter ihnen kroch der Malmschlund über die Landenge, ein obszöner Fleischwurm mit zuckendem Leib und heraustriefendem Gift. Er hatte schon die halbe Strecke zurückgelegt. Sein gewaltiger Körper dampfte, und seine Giftspur reichte bis in die Stadt zurück. Eldwists Umrisse standen unregelmäßig vor dem Horizont, Türme waren abgebrochen, Häuser zerspalten, Mauern eingestürzt. Staub und Nebel bildeten einen Schleier unter dem Regen.
Die Kuppel, unter der der Steinkönig hauste, war intakt.
Quickening drehte sich um und wandte ihm ihr Gesicht zu. Für einen Moment war sie noch einmal wunderschön und so lebendig wie damals, als sie Walker von den Toten zurückgeholt hatte, als sie sein Leben wiederhergestellt und das Gift des Asphinx aus seinem Körper vertrieben hatte. Walker hielt den Atem an, als er sie so sah, und blinzelte gegen die Illusion an. Ihre dunklen Augen fixierten ihn.
»Dunkler Onkel«, wisperte sie. »Wenn du diesen Ort verläßt, wenn du zurück in die Welt der Vier Länder kehrst, nimm die Lektionen, die du hier gelernt hast, mit dir. Kämpfe nicht gegen dich selbst an oder gegen das, was du sein könntest. Ziehe nur in Betracht, welche Alternative du hast. Nichts ist vorherbestimmt, Walker. Du kannst immer wählen.«
Dann streckte sie die Hand aus, und ihre kühlen Finger legten sich auf seine Wange. Bilder durchfluteten ihn, ihre Gedanken, ihre Erinnerungen und ihr Wissen. Im Zeitraum eines Augenblicks gab sie sich selbst vollständig preis, ließ ihn all die Geheimnisse, die sie so sorgfältig gehütet hatte, sehen, die Wahrheit, wer und was sie war. Er schrie auf, als habe er sich verbrannt, tief getroffen von dem, was er sah. Er drückte sie fest an sich und verbarg sein bleiches Gesicht verzweifelt in ihrem Haar.
Sowohl Morgan als auch Horner Dees kamen herbeigerannt, doch Walker rief ihnen zu, sie sollten dort bleiben, wo sie waren. Sie blieben zögernd und unsicher stehen. Walker war noch immer halb abgewandt und hielt Quickening an sich gedrückt. Sein Gesicht war eine Maske eiserner Konzentration. Er verstand es jetzt. Er verstand alles.
»Walker.« Sie sagte wieder seinen Namen. Ihre Hand strich ein letztes Mal über sein Gesicht, und ein einziges Bild wurde sichtbar.
Es war die zweite Vision des Finsterweihers.
Sie hob die Lider. »Laß mich fallen«, sagte sie leise.
Er sah die Vision ganz deutlich, sich selbst oben auf den Klippen, die Vier Länder, die sich hinter ihm erstreckten, und Quickening an seiner Seite, ihre schwarzen Augen, die ihn flehentlich anschauten, als er sie fortstieß.
Hier. Jetzt. Die Vision wurde Wirklichkeit.
Er begann den Kopf zu schütteln, doch ihr Blick ließ ihn innehalten. Sie schaute ihn mit solcher Intensität an, daß es wie eine Drohung war.
»Adieu, Walker«, flüsterte sie.
Er ließ sie los. Für einen kleinen Moment hielt er sie noch im Ring seiner Arme, dann stieß er sie in den Abgrund. Es war fast, als sei jemand anderer verantwortlich, jemand, der in ihm versteckt war, ein Wesen, dem mit Vernunft nicht beizukommen war. Er hörte Horner Dees entsetzt aufstöhnen. Er hörte Morgan fassungslos schreien. Sie stürzten sich auf ihn und packten ihn grob, während Quickening in die Tiefe stürzte. Sie schauten ihr nach, ein winziges Bündel aus Kleidern und Silberhaar, das hinter ihr herwehte. Sie sahen sie leuchten.
Da begann sie unglaublicherweise sich aufzulösen. Es fing an den Rändern an, wie ausfransender Stoff, kleine Fetzen flatterten davon. Die drei standen stumm und ergriffen am Rande des Abgrunds und schauten ihr nach. In wenigen Sekunden war sie nicht mehr, ihr Körper zu Staub zerfallen, der glitzerte und leuchtete, als er vom Wind erfaßt wurde.
Tiefer unten blieb der Malmschlund stehen und hob den Kopf. Vielleicht wußte er, was geschehen würde, vielleicht verstand er es sogar. Er versuchte nicht zu fliehen, sondern wartete geduldig, bis der Staub, der einst Quickening gewesen war, sich auf ihn legte. Dann durchfuhr ihn ein Schauder, er schrie einmal auf, und dann begann er zu schrumpfen. Es ging sehr schnell, sein Leib wurde welk und runzlig und schrumpfte, bis nichts mehr übrig war.
Dann verteilte sich der Staub über die Landenge; der Felsen verwandelte sich, Moos und Gras übergrünten ihn. Sprößlinge schossen empor, grün und voll strotzenden Lebens. Der Staub schwebte weiter, erreichte die Halbinsel und Eldwist, und die Verwandlung setzte sich fort. Jahrhunderte von Uhl Belks finsterer Unterdrückung wurden in wenigen Augenblicken aufgehoben. Der Stein der Stadt zerbarst – Mauern, Türme, Straßen und Tunnel stürzten zusammen. Alles fügte sich der Macht von Quickenings Magie, so wie es die Meadegärten von Culhaven getan hatten. Alles, was gewesen war, ehe der Steinkönig die Veränderung erzwungen hatte, erwachte wieder zu Leben. Felsen verschoben sich und nahmen eine andere Gestalt an. Bäume schossen empor, die knorrigen Äste dicht besetzt mit Sommerlaub, das vor dem Grau vom Himmel und Wasser leuchtete. Flecken mit Wildblumen blühten auf, nicht so üppig wie in Culhaven, denn dies hier war immer ein rauher Ort gewesen, doch in vereinzelten Büscheln, saftig und voller Leben. Seegras und Gestrüpp wucherte zwischen den Felsen und gab dem Land seinen Küstencharakter zurück. Auch die Luft belebte sich wieder, füllte sich mit den Düften lebender Natur. Der steinerne, tote Panzer des Landes rückte in ferne Erinnerung. Langsam und knirschend versank Eldwist, wurde von der Erde verschlungen und verschwand wieder in die Vergangenheit, aus der es geboren war.
Als die Verwandlung vollständig war, blieb von Eldwist nur noch die Kuppel, unter der der Steinkönig sich vergraben hatte – eine einsame graue Insel inmitten eines grünen Landes.
»Wir hätten absolut nichts tun können, um sie zu retten, Morgan«, erklärte Walker Boh leise und beugte sich nah zu dem niedergeschmetterten Hochländer, um sicher zu sein, daß er ihn hören konnte. »Quickening kam nach Eldwist, um zu sterben.«
Sie kauerten zusammen am Rande der Klippen, Horner Dees neben ihnen, sprachen mit gedämpfter Stimme, als wäre die Stille, die sich nach Quickenings Verwandlung über das Land gelegt hatte, aus Glas, das zerbrechen könnte. Weit in der Ferne waren hin und wieder schwach die Brecher des Gezeitenstroms und vereinzelte Schreie der Seevögel zu hören. Die Magie war inzwischen die Klippen heraufgekommen und an ihnen vorbei weiter vorgedrungen, reinigte das Gestein von dem Gift des Malmschlunds und gab dem Land neues Leben. Eine leichte Brise zupfte an den Wolken, zerbrach die Wolkendecke hier und da, und die Sonne lugte vorsichtig hindurch.
Morgan nickte wortlos. Er hielt den Kopf gesenkt, sein Gesicht war angespannt.
Walker schaute Horner Dees an, der aufmunternd nickte. »Sie hat es mich alles sehen lassen, Hochländer, kurz bevor sie starb. Sie wollte, daß ich es weiß, damit ich es dir sagen kann. Sie berührte mein Gesicht, als wir über dem Abgrund standen und auf Eldwist schauten, und alles wurde mir kundgetan. All die Geheimnisse, die sie vor uns hütete. Alle ihre sorgfältig bewahrten Rätsel.«
Er rückte noch ein Stück näher. »Ihr Vater erschuf sie, um Uhl Belks Magie entgegenzuwirken. Er machte sie aus den Elementen der Gärten, in denen er lebt, aus seinen stärksten Zaubern. Er schickte sie nach Eldwist zum Sterben. In gewissen Sinne schickte er einen Teil seiner selbst. Er hatte tatsächlich keine andere Wahl. Nichts Geringeres wäre stark genug gewesen, um den Steinkönig in seinem eigenen Herrschaftsbereich zu überwinden. Und Uhl Belk mußte besiegt werden, denn er würde Eldwist niemals verlassen – konnte es, genauer gesagt, nicht verlassen, auch wenn er das nicht wußte. Er war längst ein Gefangener seiner eigenen Magie. Der Malmschlund war zu Uhl Belks Botschafter geworden, ausgesandt, den Rest der Vier Länder in Stein zu verwandeln. Aber wenn der König vom Silberfluß abgewartet hätte, bis das Monster nahe genug herangekommen wäre, dann wäre es schon viel zu groß gewesen, um noch aufgehalten zu werden.«
Er legte Morgan die Hand auf die Schulter und fühlte, wie der junge Mann zusammenzuckte. »Sie hat jeden von uns mit einer bestimmten Absicht ausgewählt, Hochländer – genau wie sie gesagt hat. Du und ich waren auserkoren, den schwarzen Elfenstein zurückzugewinnen, den Belk aus der Halle der Könige gestohlen hatte. Das Problem, dem Quickening gegenüberstand, war natürlich, daß ihre Magie nicht wirken konnte, solange Uhl Belk die Kontrolle über den Elfenstein hatte. Solange er die Druidenmagie einsetzen konnte, konnte er ihre Magie aufsaugen und die notwendige Transformation verhindern. Wenn er erkannt hätte, wer sie war, hätte er es auf der Stelle getan. Er hätte sie zu Stein verwandelt. Aus diesem Grund durfte sie ihre Magie bis zum letzten Moment nicht benutzen.«
»Sie hat aber doch die Meadegärten durch eine simple Berührung des Bodens verwandelt!« protestierte Morgan verärgert und trotzig.
»Die Meadegärten, ja. Aber Eldwist war bei weitem zu monströs, um so einfach umgewandelt zu werden. Durch eine simple Berührung hätte sie es nicht tun können. Sie mußte sich selbst in den Fels einfließen lassen, sich zu einem Teil des Landes machen.« Walker seufzte. »Und deshalb wählte sie Pe Ell. Der König vom Silberfluß muß gewußt oder wenigstens geahnt haben, daß die Schattenwesen jemanden aussenden würden, Quickening an dem Vorhaben zu hindern. Es war kein Geheimnis, wer sie war oder wie sie Dinge verwandeln konnte. Sie stellte eine sehr reale Bedrohung dar. Sie mußte beseitigt werden. Ein Schattenwesen, so sieht es jetzt aus, hatte die nötigen Mittel dazu nicht. Also wurde statt dessen Pe Ell geschickt. Pe Ell glaubte, seine Absicht sei ein Geheimnis; er glaubte, daß Quickening zu ermorden seine eigene Idee gewesen sei. Das war es nicht. In keinem Moment. Es war die ihre, von Anfang an. Deswegen wählte sie ihn aus, denn ihr Vater hatte ihr aufgetragen, es zu tun, den Mann und die Waffe mit nach Eldwist zu nehmen, die imstande waren, den Schutz ihrer Magie zu durchbrechen und es ihr zu ermöglichen, sich zu transformieren.«
»Und wieso konnte sie sich nicht einfach durch ihren Willen transformieren?«
»Sie war lebendig, Morgan – so menschlich wie du und ich. Sie war ein Elementarwesen, aber eines in menschlicher Gestalt. Ich glaube, etwas anderes konnte sie nicht sein. Sie mußte sterben, um ihre Magie auf Eldwist wirken zu lassen. Keine gewöhnliche Waffe konnte sie töten; ihr Körper war gefeit gegen gewöhnliche Waffen. Es brauchte Magie, die der ihren entsprach, die Magie einer Waffe wie der Stiehl – und die Hände und die Mentalität eines Mörders wie Pe Ell.«
Walker lächelte kurz und bitter. »Sie forderte uns auf, ihr zu helfen – weil sie dazu beauftragt war und wir gebraucht wurden, um einem Zweck zu dienen, ja – aber auch, weil sie an uns glaubte. Wenn wir versagt hätten, irgendeiner von uns, einschließlich Pe Ell, wenn wir nicht getan hätten, wozu sie uns fähig wußte, dann hätte Uhl Belk gesiegt. Der Malmschlund wäre weiter vorgedrungen und Uhl Belks Königreich hätte sich weiter ausgedehnt. Kombiniert mit dem Ansturm der Schattenwesen wäre alles verloren gewesen.«
Morgan streckte sich und schaute endlich auf. »Sie hätte es uns sagen sollen, Walker. Sie hätte uns wissen lassen sollen, was sie vorhatte.«
Walker schüttelte freundlich den Kopf. »Nein, Morgan. Genau das konnte sie nicht tun. Wir hätten nicht so gehandelt, wie wir es getan haben, wenn wir die Wahrheit gewußt hätten. Du warst in sie verliebt, Hochländer. Sie wußte, was das hieß.«
Morgan starrte ihn einen Moment mit zusammengekniffenem Mund an, dann nickte er widerstrebend. »Du hast recht. Sie wußte es.«
»Es gab keinen anderen Weg. Sie mußte das Ziel ihres Herkommens verheimlichen.«
»Ich weiß, ich weiß.« Morgan atmete schwer und unregelmäßig. »Aber es tut trotzdem weh. Ich kann beinahe glauben, sie sei gar nicht fort, sie finde einen Weg, irgendwie zurückzukehren.« Er holte tief Luft. »Ich brauche sie.«
Dann schwiegen sie, starrten jeder in eine andere Richtung und gaben sich Erinnerungen hin. Walker zog kurz in Betracht, dem Hochländer von der Vision des Finsterweihers zu erzählen und zu berichten, daß er mit Quickening darüber gesprochen hatte, und sie ihn trotzdem mitgenommen hatte; daß sie von Anfang an gewußt haben mußte, wie alles enden würde, und dennoch gekommen war, um die Absicht, mit der ihr Vater sie erschaffen hatte, zu erfüllen. Aber er ließ es bleiben. Der Hochländer hatte genug über versteckte Pläne und Geheimnisse erfahren. Es gab nichts zu gewinnen, indem man ihm noch mehr erzählte.
»Was, meint ihr, ist wohl aus Uhl Belk geworden?« brach Horner Dees mit seiner rauhen Stimme das Schweigen. »Ist er wohl noch da unten in seiner Kuppel? Lebt er wohl noch?«
Sie schauten alle gleichzeitig über den Klippenrand auf den letzten Zeugen von Eldwist inmitten des neuentstandenen Grüns der Halbinsel, rundum verschlossen und verschwiegen.
»Ich vermute, eine Feenkreatur wie Uhl Belk stirbt nicht so leicht«, antwortete Walker leise und nachdenklich. »Aber Quickening hält ihn sicher in seiner Muschel gefangen, und das Land wird sich in absehbarer Zeit nicht wieder nach seinem Geschmack verändern.« Er machte eine Pause. »Ich glaube, wenn Uhl Belk das erkennt, kann es sein, daß er den Verstand verliert.«
Morgan beugte sich vor und berührte ein Grasbüschel, als suche er nach etwas. Seine Finger streiften sanft über die Halme. Walker beobachtete ihn einen Moment, dann erhob er sich. Sein Körper schmerzte, und sein Gemüt war dunkel und mürrisch. Ihn hungerte nach richtiger Nahrung, und sein Durst schien unstillbar. Seine eigene Odyssee sollte erst beginnen, eine Reise zurück durch die Vier Länder auf der Suche nach Pe Ell und dem gestohlenen schwarzen Elfenstein; eine zweite Konfrontation, um festzustellen, wer ihn haben soll, und, wenn er das alles überlebte, eine Reise, das verschwundene Paranor und die Druiden zurückzubringen …
Die Gedanken drohten ihn zu überwältigen und ihm seine letzte Kraft zu nehmen. Er schob sie beiseite.
»Komm, Hochländer«, drängte Horner Dees und faßte Morgan bei den Schultern. »Sie ist fort. Sei froh, daß wir sie so lange haben durften. Sie war nicht für diese Welt gemacht. Sie diente einem höheren Ziel. Tröste dich mit der Tatsache, daß sie dich geliebt hat. Das ist keine Kleinigkeit.«
Die großen Hände packten ihn fest, und Morgan ließ sich auf die Beine helfen. Er nickte, ohne den Alten anzuschauen. Als er schließlich aufblickte, waren seine Augen hart und entschlossen. »Ich werde Pe Ell verfolgen.«
»Wir verfolgen ihn alle, Morgan Leah«, fauchte Horner Dees. »Allesamt. Der entkommt uns nicht.«
Sie warfen einen letzten Blick von der Anhöhe, dann drehten sie sich um und steuerten auf den Hohlweg zu, der ins Gebirge führte. Sie waren erst ein paar Schritte gegangen, als Morgan plötzlich stehenblieb. Ihm war etwas eingefallen. Er schaute hinüber, wo er das Schwert von Leah zurückgelassen hatte. Es steckte noch immer im Felsen, die zersplitterte Klinge unsichtbar in den Boden gegraben. Morgan zögerte einen Moment, fast, als zöge er in Betracht, die Waffe dort zu lassen, wo sie war, sie ein für alle Male aufzugeben. Dann ging er hin und packte den Griff. Langsam begann er daran zu ziehen. Und zog weiter und weiter, als er erwartete.
Die Klinge kam hervor. Morgan Leah riß die Augen auf. Das Schwert von Leah war nicht mehr zerbrochen. Es war so vollkommen wie an jenem Tag, als sein Vater es ihm gab.
»Hochländer!« stieß Horner Dees staunend aus.
»Sie sprach die Wahrheit«, flüsterte Morgan und ließ seine Finger über die glänzende Oberfläche der Klinge streichen. Ungläubig schaute er Walker an. »Wie?«
»Ihre Magie«, erwiderte Walker und lächelte über den Ausdruck auf dem Gesicht des anderen. »Sie wurde wieder zu den Elementen der Erde, die ihr Vater benutzte, um sie zu erschaffen, und dazu gehören auch die Metalle, aus denen das Schwert von Leah geschmiedet wurde. Sie hat deinen Talisman neu gemacht, wie sie dieses Land neu gemacht hat. Es war ihre letzte Tat, Hochländer. Ein Liebesakt.«
Morgans graue Augen leuchteten. »In gewissem Sinn ist sie dann bei mir, nicht wahr? Und sie wird bei mir sein, solange ich das Schwert in meinem Besitz habe.« Er holte tief Luft. »Glaubst du, das Schwert hat auch seine magische Kraft wieder, Walker?«
»Ich glaube, die Magie kommt von dir. Ich glaube, sie stammte immer von dir.«
Morgan musterte ihn eine Weile, dann nickte er langsam. Er schob das Schwert behutsam in seinen Gürtel. »Ich habe mein Schwert wieder, aber da ist noch immer die Sache mit deinem Arm. Was ist damit? Sie sagte, daß du, so wie die Klinge, wieder heil und ganz gemacht würdest.«
Walker dachte nach, dann schürzte er die Lippen. »Allerdings.« Er streckte die Hand aus und drehte Morgan sanft zu dem Hohlweg. »Ich fange an zu glauben, Hochländer«, sagte er leise, »daß sie, als sie davon sprach, heil und ganz zu werden, nicht meinen Arm, sondern etwas ganz anderes meinte.«
Hinter ihnen flutete das Sonnenlicht über den Gezeitenstrom. Ihre Augen!
Sie starrten Pe Ell aus den hohlen Fensterlöchern der Häuser von Eldwist an, und als er die Stadt hinter sich gelassen hatte, lugten sie aus den Spalten und Klüften des Felsgesteins auf der Landenge, und als er bei den Klippen war, spähten sie hinter den nebelumwehten Findlingen neben dem Pfad, der nach oben führte, hervor. Wohin er auch rannte, ihre Augen folgten ihm.
Was habe ich getan?
Die Verzweiflung fraß ihn auf. Er hatte das Mädchen getötet, wie er vorgehabt hatte; er hatte den schwarzen Elfenstein in seinem Besitz. Alles war genauso gekommen, wie es geplant gewesen war. Mit Ausnahme der Tatsache, daß es nie sein Plan gewesen war – sondern von Anfang an der ihre. Das war es, was er in ihren Augen gesehen hatte, die Wahrheit, weshalb er hier war und wozu er bestimmt worden war. Sie hatte ihn nicht nach Eldwist gebracht, damit er dem Steinkönig entgegentreten und den schwarzen Elfenstein erobern sollte; sie hatte ihn mitgenommen, damit er sie tötete.
Himmel noch mal, damit er sie tötete! Blindlings rannte er, stolperte, raffte sich wieder auf, zerrissen von der Erkenntnis, wie sie ihn benutzt hatte.
Er hatte nie die Kontrolle gehabt. Er hatte sich nur eingebildet, sie zu haben. Alle seine Mühen waren verschwendet. Sie hatte ihn vom ersten Moment an manipuliert – als sie ihn in Culhaven auswählte und ganz genau wußte, wer und was er war, als sie ihn überredete, mitzukommen und ihn dabei in dem Glauben ließ, er komme aus eigenem Willen, und indem sie ihn sorgfältig von den anderen fernhielt, ihn hierhin und dorthin schickte, wie ihre Absichten es verlangten. Sie hatte ihn benutzt! Warum? Warum hatte sie das getan? Die Frage brannte wie Feuer? Warum hatte sie sterben wollen?
Das Feuer wurde zu eisiger Kälte, als er sah, daß ihm ihre Augen von rechts und links und überallher zuzwinkerten. War es am Ende überhaupt seine Entscheidung gewesen, sie zu erstechen? Er konnte sich nicht erinnern, bewußt die Entscheidung getroffen zu haben. Es war beinahe so, als habe sie sich selbst in die Klinge gestürzt – oder seine Hand dazu gebracht, sich diese wenigen, nötigen Zentimeter weit zu bewegen. Pe Ell war die ganze Zeit die Marionette der Tochter des Königs vom Silberfluß gewesen; vielleicht hatte sie auch an den Fäden gezogen, die ihn ein letztes Mal hatten handeln lassen – und dann öffnete sie ihm ihre Augen, so daß ihm alle ihre Geheimnisse offenbart wurden.
Er taumelte zu Boden, als er das obere Ende des Klippenpfads erreichte, warf sich nach links in eine Nische zwischen den Felsen, kauerte sich zusammen und begrub sein hageres, verstörtes Gesicht in den Armen. Er wünschte, er könnte sich verstecken, könnte verschwinden. Wutentbrannt knirschte er mit den Zähnen. Er hoffte, sie sei tot! Er hoffte, sie wären alle tot! Tränen rannen ihm übers Gesicht, Zorn und Verzweiflung wüteten in ihm, kehrten sein Inneres nach außen. Niemand hatte ihm das je angetan. Er konnte nicht ertragen, was er empfand! Er konnte es nicht dulden!
Nach kurzer Zeit, vielleicht auch etwas länger, schaute er wieder auf, weil ihm plötzlich bewußt wurde, daß er in Gefahr schwebte. Die anderen würden ihn verfolgen. Sollen sie doch kommen, dachte er wild. Aber nein, er war noch nicht bereit, ihnen entgegenzutreten. Er konnte kaum klar denken. Er brauchte Zeit, um sich wieder zu fangen.
Er zwang sich wieder auf die Füße. Alles, was ihm zu tun in den Sinn kam, war rennen und immer wieder rennen.
Er erreichte den Hohlweg, der von den Klippen und dem Blick auf die verhaßte Stadt wegführte. Er konnte fühlen, wie die Erde erschüttert wurde, und er hörte das Rumpeln des Malmschlunds. Regen prasselte auf ihn nieder, und grauer Nebel senkte sich über ihn, bis man meinte, die Wolken lagerten direkt auf dem Land. Pe Ell drückte den Lederbeutel mit den Runenzeichen und seinem kostbaren Inhalt fest an seine Brust. Der Stiehl ruhte wieder in der Scheide an seiner Hüfte. Er fühlte die Magie bis in seine Hände brennen, an seinem Körper, heißer, als er sie je gefühlt hatte, ein Feuer, das vielleicht nie mehr gelöscht werden konnte. Was hatte ihm das Mädchen angetan? Was hatte sie getan?
Er stürzte und konnte eine Weile lang nicht wieder aufstehen. Alle Kraft hatte ihn verlassen. Er schaute auf seine Hände, sah das Blut, das an ihnen klebte. Ihr Blut.
Ihr Gesicht blitzte vor ihm aus dem grauen Dunst auf, leuchtend und sprühend, ihr Silberhaar zurückgeworfen, ihre schwarzen Augen …
Quickening! Es gelang ihm mit Mühe, wieder auf die Füße zu kommen, und dann rannte er weiter, rutschte und stolperte und kämpfte gegen die Visionen an, versuchte, seine Fassung zurückzugewinnen, seine Selbstkontrolle. Aber nichts wollte an seinen Platz rücken, alles torkelte kunterbunt durcheinander, und Wahnsinn raste in ihm wie ein freigelassener Wachhund. Er hatte sie getötet, ja. Aber sie hatte ihn dazu veranlaßt, es zu tun! Alle die Gefühle für sie waren von Anfang an falsch gewesen, nichts als ihr Werk, sie hatte ihn verdreht!
Vor ihm öffnete sich die Knochensenke, leer und steinig. Er wurde nicht langsamer. Er rannte weiter.
Irgend etwas geschah hinter ihm. Er konnte eine Veränderung der Erschütterungen wahrnehmen, ein Drehen des Windes. Er konnte fühlen, wie sich etwas Kaltes tief in seinem Inneren ausbreitete. Magie! Eine Stimme flüsterte bohrend, heimtückisch. Quickening kommt dich holen! Aber Quickening war doch tot! Er schrie laut auf, verfolgt von Dämonen, die alle ihr Gesicht trugen.
Er stolperte und fiel mitten in einen Haufen bleicher Knochen, raffte sich wieder auf die Knie und erkannte plötzlich, wo er sich befand.
Die Zeit blieb für Pe Ell stehen, und ein furchteinflößender Augenblick der Erkenntnis erblühte in ihm.
Der Koden! Und dann hatte er ihn. Seine zottigen Glieder umfingen ihn, sein Körper roch nach Alter und Verwesung. Er konnte das Pfeifen seines Atems an seinem Ohr hören, konnte die Hitze seines Gesichts spüren. Die Nähe des Monsters war erstickend. Er strampelte, um es zu sehen, und stellte fest, daß er unfähig dazu war. Es war da und gleichzeitig nicht da. War es irgendwie unsichtbar geworden? Er versuchte, den Griff des Stiehls zu fassen, aber seine Finger wollten nicht reagieren.
Wie war das möglich?
Plötzlich wußte er, daß es kein Entkommen mehr gab. Und er war nur gelinde überrascht festzustellen, daß es ihm ziemlich egal war.
Im nächsten Augenblick war er tot.