29

Als Junge hatte Morgan Leah oft in den kristallgespickten Höhlen östlich der Stadt gespielt. Die Höhlen waren Jahrhunderte zuvor entstanden und von unzähligen Generationen erforscht und schließlich vergessen worden, der steinerne Boden war abgetreten und glatt von vielen Füßen und verstrichener Zeit. Sie hatten die Großen Kriege, die Kriege der Rassen, das Eindringen von Lebewesen aller Art und selbst das Feuer der Erde überstanden, das direkt darunter glimmte. Die Höhlen waren strahlend leuchtende Löcher, die Decken dicht mit Stalaktiten behangen, klare Wassertümpel und dunkle Senklöcher im Boden. Ihre Kammern waren durch ein Netz enger, gewundener Stollen miteinander verbunden. Es war gefährlich, in die Höhlen zu gehen, das Risiko, sich zu verirren, war sehr groß. Aber für einen abenteuerlustigen Hochlandjungen wie Morgan Leah war die Aussicht auf Gefahr nichts als eine Verlockung.

Er entdeckte die Höhlen, als er noch sehr klein war, kaum alt genug, um allein herumzustrolchen. Ein halbes Dutzend Jungen waren dabei, als er den Eingang entdeckte, aber er war als einziger mutig genug, sich hineinzutrauen. An jenem Tag ging er nur ein kleines Stück weit, mehr als nur ein bißchen eingeschüchtert; es erschien ihm eine sehr reale Möglichkeit, daß die Stollen bis in die Mitte der Erde führten. Doch es war auch der Reiz dieser Möglichkeit, der ihn schließlich zurücklockte, und nach kurzer Zeit wagte er sich tiefer hinein. Er verheimlichte seinen Eltern seine Unternehmungen wie alle Jungen; es gab schon so genug Verbote und Einschränkungen in jenen Tagen. Er spielte, er sei ein Forscher, der ganze Welten entdeckte, die jenen, die er zurückgelassen hatte, völlig unbekannt waren. Seine Phantasie kannte keine Grenzen, wenn er in der Höhle war; er konnte irgendwer oder irgend etwas sein. Oft ging er allein hinein, weil er die Freiheit genoß, wenn die anderen Jungen nicht dabeiwaren und seinen Rollenspielen Grenzen setzten. Allein schon ihre bloße Anwesenheit schränkte seinen Spielraum in einer Weise ein, die er nicht immer zu akzeptieren bereit war.

Es war genau ein Jahr nach seiner wundervollen Entdeckung, daß er allein in der Höhle war und sich verirrte. Er spielte wie immer, achtete nicht auf seinen Weg, und plötzlich wußte er nicht mehr, wo er war. Der Tunnel, dem er folgte, war ihm nicht vertraut; die Höhlen, auf die er stieß, sahen fremd aus; die Atmosphäre wurde plötzlich feindselig und kalt. Es kostete ihn geraume Zeit, bis er sich eingestand, daß er sich tatsächlich verirrt hatte und nicht einfach nur verwirrt war, und dann blieb er einfach stehen und wartete. Er hatte zunächst keine Ahnung, worauf er wartete, aber nach einiger Zeit wurde es klar. Er wartete darauf, verschlungen zu werden. Die Höhlen waren lebendig geworden, ein schlafendes Tier, das schließlich aufgewacht war, um dem Jungen ein Ende zu bereiten, der sich anmaßte, mit ihm herumzuspielen. Morgan sollte sich sein ganzes Leben lang daran erinnern, wie ihm in diesem Augenblick zumute war. Er würde sich an die Verzweiflung erinnern, als die Höhlen plötzlich von unbelebtem Fels zu einem lebenden, atmenden, sehenden Wesen wurden, das ihn rundum schlangenähnlich umfing und abwartete, wohin er zu flüchten versuchen würde. Morgan floh nicht. Er wappnete sich gegen die Bestie, gegen die Art und Weise, wie sie sich über ihn beugte. Er zog das Messer, das er bei sich trug, hielt es vor sich hin, entschlossen, seine Haut teuer zu verkaufen. Langsam und ohne daß es ihm bewußt wurde, wurde er wieder zu der Gestalt, die zu sein er vorher viele Stunden lang gespielt hatte. Er wurde jemand anderes. Irgendwie rettete ihn das. Das Tier wich zurück. Herausfordernd ging er weiter, und währenddessen schwand die Fremdheit langsam wieder. Er erkannte vertraute Ecken, hier eine Kristallisierung, dort eine Tunnelnische, hier etwas, dort noch etwas, und plötzlich wußte er wieder, wo er sich befand.

Als er aus der Höhle kam, war es Nacht geworden. Er war mehrere Stunden lang in der Höhle herumgeirrt – doch es kam ihm vor, als sei es nur ein Augenblick gewesen. Er ging nach Hause und dachte, daß die Höhlen viele verschiedene Verkleidungen annehmen konnten, aber daß man, wenn man genau genug hinschaute, immer das Gesicht, das sich dahinter verbarg, erkennen konnte.

Damals war er noch ein Junge gewesen. Jetzt war er ein erwachsener Mann, und der Glauben seiner Kindheit war ihm längst entglitten. Er hatte zu viel von der Wirklichkeit gesehen. Er kannte zu viele harte Wahrheiten.

Doch während er die Treppen hinaufstieg, die sich zwischen den Felswänden der Höhlen unter Eldwist nach oben schlängelten, war er erstaunt über die Ähnlichkeit zwischen dem, was er jetzt empfand und dem, was er damals empfunden hatte. Beide Male steckte er in einem steinernen Irrgarten, aus dem das Entkommen ungewiß war. Und dann das Gefühl, daß Leben – Uhl Belk – in dem Gestein wohnte und in der Stille pulsierte. Und das Gefühl, von einem Tier beobachtet zu werden, das erwacht war und abwartete, in welche Richtung er zu fliehen versuchen würde. Das Gewicht dieses Wesens erdrückte ihn, ein Ding von solchen Dimensionen, daß es nicht mit bekannten Maßstäben gemessen werden konnte. Eine Halbinsel, eine Stadt, und dahinter eine ganze Welt – das war Eldwist, und Eldwist war Uhl Belk. Morgan Leah suchte vergeblich nach der Verkleidung, die ihn als Junge an der Nase herumgeführt hatte, nach dem Gesicht, das er damals dahinter verborgen geglaubt hatte. Wenn er es nicht fand, fürchtete er, würde er nie wieder frei sein.

Schweigend stiegen sie die Treppe hinauf, die drei letzten, die von jenen aus Rampling Steep übrig waren, um dem Steinkönig die Stirn zu bieten. Morgan war es so kalt, daß er zitterte, und die Kälte, die er fühlte, war nicht nur die frostige Höhlenluft. Er konnte den Schweiß über seinen Rücken rinnen fühlen, und seine Gedanken rasten voraus. Was würde er tun, wenn die Treppe endete und sie sich in der Kuppel befanden? Sein Schwert ziehen? Das aus gewöhnlichem Metall, das wenigstens heil war? Jenes Ding, das fast unsterblich war, damit angreifen? Seinen zersplitterten Talisman ziehen, eine zerbrochene Klinge? Damit angreifen? Was nur? Was war es, was zu tun von ihm erwartet wurde?

Er beobachtete Quickening, die vor ihm herging, klein und zart vor Walker Bohs silbernem Lichtschein, ein zerbrechliches Etwas aus Fleisch und Blut, das mit einem einzigen Streich von Uhl Belks steinernen Hand wieder in jene Elemente zerschmettert werden konnte, aus denen sie geschaffen worden war. Quickening fort – er versuchte es sich auszumalen. Ängste überfielen ihn erneut wie Pfeile, die ihn schmerzhaft durchbohrten. Warum tat sie das bloß? Warum versuchte sie es überhaupt?

Walker glitt auf den feuchten Steinen aus und stöhnte vor Schmerzen, als er sich das Knie anschlug. Sie warteten, bis er sich wieder aufgerichtet hatte, und Morgan erwartete, daß Uhl Belk sich rührte. Jäger und Gejagte – aber wer war was? Er wünschte, Steff stünde ihm zur Seite. Er sehnte sich nach Par Ohmsford oder Padishar Creel. Er wünschte irgendeinen von ihnen oder sie alle herbei. Aber das war sinnlos. Keiner von ihnen war hier, keiner würde kommen. Er war allein.

Mit dem Mädchen, das er liebte, und die nicht helfen konnte.

Und mit Walker Boh.

Ein Hoffnungsfunken flammte unerwartet in dem Hochländer auf. Walker Boh. Er starrte auf dessen verhüllte Gestalt, die sie anführte, einarmig und aus der Halle der Könige entkommen, aus der Asche von Hearthstone auferstanden. Eine Katze mit vielen Leben, dachte er. Der Dunkle Onkel von früher, vielleicht nicht mehr die unbesiegbare Gestalt der Legenden, aber ein Wunder trotzdem, fähig, den Druiden, den Geistern und den Schattenwesen die Stirn zu bieten und weiterzuleben. Nach Eldwist gekommen, um ein von Allanons Schatten vorausgesagtes Schicksal zu erfüllen oder zu sterben – das war es, was Walker Boh zu tun gewählt hatte. Walker, der bis jetzt alles überlebt hatte, ermahnte Morgan sich selbst, war nicht ein Mann, der so ohne weiteres getötet wurde.

Es war also vielleicht nicht vorgesehen, daß der Dunkle Onkel diesmal getötet würde. Und vielleicht – sehr vielleicht – färbte ein wenig von dieser Unsterblichkeit auch auf ihn ab.

Vorne wurde Walker langsamer. Er schnippte mit den Fingern, und das silbrige Licht erlosch. Schweigend standen sie im Dunkel und warteten, lauschten. Die Dunkelheit büßte an Undurchdringlichkeit ein, als ihre Augen sich gewöhnten, und ihre Umgebung nahm langsam Gestalt an – Stufen, Decke und Boden und dahinter eine Öffnung.

Sie hatten das Ende ihrer Kletterpartie erreicht.

Dennoch ließ Walker sie reglos warten, wo sie waren. Gerade als Morgan glaubte, er hielte es nicht länger aus, machten sie sich wieder auf, langsam und vorsichtig bewegten sie sich Schritt für Schritt schattengleich durch die Finsternis. Sie gelangten an einen Korridor und folgten ihm unsichtbar und leise, abgesehen von ihren Gedanken, die, so kam es Morgan vor, nackt und schreiend und von grellem Licht beschienen dahingen.

Am Ende des Korridors blieben sie wieder stehen, noch immer in seinem schützenden Schatten. Morgan trat einen Schritt vor und riskierte einen ängstlichen Blick.

Vor ihnen öffnete sich die Kuppel des Steinkönigs. Die Tribünen, die die Arena umgaben, erstreckten sich, von symmetrischen Treppen durchbrochen, als halb überschattetes, halb beleuchtetes Stilleben bis an die Decke, und die obersten Ränge waren nurmehr als vage Andeutungen vor dem gealterten Stein auszumachen. Unten war die Arena flach und glatt und ohne jegliche Bewegung. Die gigantische Gestalt von Uhl Belk hockte in ihrem Zentrum, abgewandt, so daß nur ein Teil seines groben Gesichts zu sehen war.

Morgan Leah hielt den Atem an. Die Stille der Kuppel schien Warnungen zu flüstern, die in seinem Schädel dröhnten.

Walker Boh trat zur Seite, bis er neben ihm war, und beugte sein blasses Gesicht an sein Ohr. »Geh du links herum. Ich gehe nach rechts. Halte dich bereit, wenn ich zuschlage. Ich werde versuchen, ihn dazu zu bringen, den Stein fallen zu lassen. Schnapp ihn dir und dann lauf los. Schau dich nicht um. Zögere nicht. Bleib unter gar keinen Umständen stehen.« Er packte ihn am Handgelenk und hielt ihn fest. »Sei flink, Hochländer. Sei schnell.«

Morgan nickte wortlos. Für einen Moment trafen Quickenings schwarze Augen die seinen. Er konnte nicht lesen, was er darin sah.

Und dann war Walker schon aus dem Korridor in die Arena geschlüpft und bewegte sich zu seiner Rechten vor den Tribünen durch das Dämmerlicht. Morgan folgte und wandte sich nach links. Er verdrängte seine Angst und überantwortete sich dem Befehl des Dunklen Onkels. Wie ein Geist schlich er über den Stein, schnell und sicher, und fand erstaunlicherweise Zuversicht in der einfachen Tatsache, daß er sich bewegte. Doch seine Furcht blieb, ein in die Enge getriebenes Tier unter seiner Haut. Schatten schienen ihn zu umkreisen, und die Stille der Kuppel zischte ihn in seinem Bewußtsein an wie eine stimmlose Schlange. Er fixierte seinen Blick auf die mächtige Gestalt in der Mitte der Arena und suchte nach den Anzeichen auch nur der winzigsten Bewegung. Nichts rührte sich. Uhl Belk war behauener Stein, still und unbeweglich. Schnell jetzt, dachte Morgan. Schnell wie das Licht. Er sah Walker auf der gegenüberliegenden Seite der Arena, eine schlanke, heimliche Gestalt, im Dämmerlicht fast nicht zu erkennen. Nur noch wenige Augenblicke, dachte er. Und dann …


Quickening.

Er merkte plötzlich, daß er in seinem Eifer, Walker zu gehorchen, das Mädchen vergessen hatte. Wo war sie? Er blieb abrupt stehen, schaute sich vergeblich nach ihr um, suchte die Tribünen, die Tunnel und die Schatten, die über allem lagen, ab. Er fühlte, wie sich in seiner Brust etwas verkrampfte. Quickening!

Dann entdeckte er sie – nicht sicher versteckt oder weit hinter ihm, nein, völlig offen trat sie aus dem Korridor in die Arena direkt vor die gigantische Gestalt von Uhl Belk. Ihm blieb der Atem im Hals stecken. Was machte sie denn?

Quickening!

Sein Schrei war lautlos, doch der Steinkönig schien ihn gehört zu haben. Er reagierte mit einem kaum hörbaren Grunzen, regte sich, richtete sich auf und begann, sich umzuwenden …


Gleißendes weißes Licht leuchtete grell auf, so blendend, daß auch Morgan sich abwenden mußte. Es war, als sei die Sonne durch die Wolkendecke gebrochen, durch den grauen Dunst, selbst durch den Stein, um die hier gefangene Luft in Brand zu stecken. Morgan sah Walker Boh, der seinen Arm unter dem schwarzen Umhang hervorstreckte, und die Magie, die aus seinen Fingerspitzen zischte. Uhl Belk heulte überrascht auf, sein massiger Leib bebte, und er hob die Arme, um seine Augen zu schützen, seine steinernen Gelenke knirschten unter der Anstrengung.

In dem Augenblick sprang Walker Boh wie ein Schatten ins Licht und stürzte auf den Steinkönig zu, der schwerfällig gegen die schmerzende Helligkeit mit den Augen funkelte. Wieder hob Walker den Arm. Ein ganzer Beutel von Coglines flüchtigem Pulver flog auf den Steinkönig und explodierte. Teile seines zerklüfteten Leibes zersplitterten zu Scherben. Der Arm, dessen Faust den schwarzen Elfenstein umklammerte, stand in Flammen.

Doch er hielt den Talisman fest.

Und plötzlich stellte Morgan Leah fest, daß er sich nicht mehr rühren konnte. Er war auf der Stelle erstarrt, wo er stand. Genau wie damals im Jut, als der Schleicher im Schutz der Dunkelheit die Höhe erreicht hatte und die Geächteten der Bewegung seinem Angriff entgegentraten, war er gelähmt. Alle seine Ängste und Zweifel, all seine Befürchtungen und sein Entsetzen überfielen ihn. Sie packten ihn mit ihren Klauen und bannten ihn so unerbittlich, als sei er in Ketten gelegt. Was sollte er tun? Wie konnte er eingreifen? Seine Magie war verloren, seine Schwertklinge zersplittert. Hilflos sah er zu, wie Uhl Belk sich umdrehte, um Walker Bohs Angriff abzuwehren und seine Magie wegzufegen. Der Dunkle Onkel griff erneut an, doch diesmal war der Steinkönig vorbereitet, der Überraschungseffekt fehlte, und der Steinkönig zuckte nicht einmal. Schon begann die Helligkeit von Walkers falscher Sonne zu verblassen, und das graue Licht der Kuppel kehrte zurück.

Walker Bohs Worte hallten bohrend in Morgans Ohren.

Sei flink Hochländer. Sei schnell.

Morgan kämpfte gegen seine Erstarrung an und riß das Breitschwert, daß er auf den Rücken geschnallt trug, aus der Scheide. Aber seine Finger weigerten sich, es festzuhalten, seine Hände wollten ihm nicht gehorchen. Das Breitschwert entglitt ihm und fiel mit hohlem Scheppern auf den Boden der Arena.

Der Atem des Steinkönigs zischte, als sich seine riesige Hand nach Walker Boh ausstreckte, um ihm das Leben herauszuquetschen. Der Dunkle Onkel war ihm zu nah gekommen; er hatte keine Chance zu entwischen. Und da war er plötzlich verschwunden, erschien zuerst doppelt wieder, dann vierfach und dann unzählige Male mehr – Jair Ohmsfords Lieblingstrick vor dreihundert Jahren. Der Steinkönig schnappte nach den Bildern, und die Bilder verflogen bei seiner Berührung. Der wahre Walker Boh sprang das Monster an, schleuderte ihm wieder Feuer ins Gesicht und sprang behende zurück.

Der Steinkönig brüllte wütend, packte sich ins Gesicht und schüttelte sich wie ein Tier, das lästige Fliegen loswerden will. Die ganze Arena erbebte. Risse bildeten Zickzacklinien im Boden, die Tribünen krachten und stürzten ein, Staub und Geröll regneten von der Decke. Morgan verlor den Halt und fiel heftig auf den harten Boden.

Der Schmerz löste die lähmenden Ketten.

Der Steinkönig hob seine Faust, und die Finger seiner Hand begannen sich zu öffnen. Das Unlicht des Elfensteins sickerte hindurch und saugte den Rest von Walker Bohs schwindender Magie auf. Der Dunkle Onkel schleuderte einen Feuerschein auf, um das Vordringen der Magie zu bremsen, doch das Unlicht hüllte ihn in eine Woge von Schwärze. Walker stolperte zurück in die Schatten, verfolgt von dem Unlicht, behindert von den Spalten und Rissen im Stein.

In wenigen Sekunden wäre er in der Falle.

Da fing Quickening Feuer.

Anders ließ es sich nicht beschreiben. Morgan sah es geschehen und traute seinen Augen nicht. Die Tochter des Königs vom Silberfluß stand inzwischen weniger als sieben Meter von Uhl Belk entfernt, exponiert und ungeschützt in seinem Schatten, und stieg wie ein Geist, wie ein Wesen aus Luft, in die Höhe, bis sie auf dem gleichen Niveau war wie der Kopf des Riesen, und ging in Flammen auf.

Das Feuer war golden und rein, sein Leuchten eine Hülle aus Licht, das von ihrem Körper und ihren Gliedern ausstrahlte und sie wie von der Mittagssonne beschienen aussehen ließ. Sie war in diesem Moment noch viel schöner, als Morgan sie je gesehen hatte, strahlend und makellos und unfaßbar bezaubernd. Ihr Silberhaar wehte und fächerte im Feuer, und ihre Augen glänzten schwarz vor dem Gold. Sie schwebte dort, wundersame, unerklärliche, lebendig gewordene Magie.

Sie versucht ihn abzulenken, stellte Morgan ungläubig fest. Sie verrät sich selbst, gibt zu erkennen, wer sie ist, nur, um ihn von uns abzulenken! Der Steinkönig drehte sich zu dem unerwartet aufflammenden Licht. Sein ohnehin zerklüftetes Gesicht verzerrte sich, bis er wirklich nicht mehr zu erkennen war. Bei ihrem Anblick klappte sein Mund auf, und aus seiner Stimme klang tiefe Angst.

– Du –

Uhl Belk vergaß Walker Boh. Er vergaß die Magie des Dunklen Onkels. Er vergaß alles außer dem flammenden Mädchen. Mit grausigem Knirschen seiner Gelenke strampelte er, um sie zu erreichen, stemmte sich gegen den steinernen Boden, an dem er festgeschweißt war, griff vergeblich nach ihr und hob dann in seiner Verzweiflung die Hand mit dem schwarzen Elfenstein gegen sie. Seine Stimme wuchs von einem grausigen Stöhnen zu wildem Gebrüll. Die Erde erbebte unter der Wucht seiner Not.

Da endlich handelte Morgan, verzweifelt, ja, ohne jede Hoffnung. Er sprang auf die Füße, und den Blick starr auf Quickening und das Monster, das sie zu zerstören suchte, gerichtet, griff er an. Er ging ohne Gedanken, ohne Vernunft, getrieben von der Notwendigkeit und gepanzert mit einer Entschlossenheit, die er sich niemals zugetraut hätte. Er stürmte in den Tumult aus Staub und Geröll, sprang über Spalten und Löcher, als würde er von den Herbststürmen seiner Heimat getragen. Seine Hand griff an die Taille und zog die zersplitterte Klinge seiner Vorfahren, das zerbrochene Schwert von Leah.

Es war ihm nicht bewußt, doch das Schwert leuchtete weiß mit Magie.

Er stieß den Kampfschrei seiner Heimat aus: »Leah! Leah!«

Er erreichte den Steinkönig in dem Moment, als dieser seine Anwesenheit bemerkte und seine harten, leeren Augen zu ihm wandte. Er sprang mit einem Satz auf das gigantische Knie und rammte die zersplitterte Klinge des Schwertes von Leah tief in den steinernen Arm, der den schwarzen Elfenstein hielt.

Uhl Belk schrie auf, nicht vor Überraschung oder Wut diesmal, sondern vor entsetzlichen Schmerzen. Weißes Feuer zischte aus der zerstörten Klinge in den Körper des Steinkönigs, Flammenbündel, die tief eindrangen und brannten. Morgan stach wieder zu und wieder. Die steinernen Hände zitterten, und das getroffene Monster erschauderte.

Der schwarze Elfenstein entglitt seinen Fingern.

Augenblicklich riß Morgan sein Schwert aus dem Stein und kletterte nach unten, um ihn aufzuheben. Doch der verwundete Arm des Steinkönigs versperrte ihm den Weg, schwenkte herum und traf ihn wie ein Hammer. Morgan duckte sich, um dem Schlag auszuweichen, doch er traf ihn dennoch. Mit Armen und Beinen strampelnd wurde er rücklings fortgeschleudert. Mit Mühe gelang es ihm, seine Waffe festzuhalten. Er erhaschte einen Blick auf Quickening, ein seltsam klares Bild. Ihr Gesicht strahlte, obgleich das Feuer ihrer Magie verblaßt war. Er sah eine dunkle Bewegung, als Walker Boh aus den Schatten neben ihr auftauchte. Dann traf er gegen die Mauer. Die Wucht des Aufpralls preßte ihm die Luft aus den Lungen und erschütterte seine Gelenke, so daß er dachte, er hätte sich sämtliche Knochen gebrochen. Dennoch weigerte er sich, sich geschlagen zu geben. Er rappelte sich wieder auf, benommen und angeschlagen, aber entschlossen, nicht aufzugeben.

Aber es gab nichts mehr zu tun. Der Kampf war zu Ende. Walker Boh hatte den Elfenstein in seinem Besitz. Er stand vor dem Steinkönig und hob drohend die Hand, die den Druidentalisman fest umklammerte. Quickening stand neben ihm, wieder sie selbst, die Magie, die sie angerufen hatte, war wieder verklungen. Als Morgan langsam wieder klar sah und sein Gleichgewicht wiederfand, hatte er noch immer das Bild von ihr, wie sie lichterloh zu brennen schien, im Sinn. Entgegen ihrem Schwur hatte sie die Magie benutzt, hatte sich Uhl Belk zu erkennen gegeben und alles riskiert, um ihnen das Leben zu retten.

Fragen wisperten in ihm, heimtückische Schurken.

Hatte sie gewußt, daß er kommen würde, um sie zu retten?

Hatte sie gewußt, was sein Schwert tun würde?

Im Inneren der Kuppel machte sich mit dem Verklingen der Magie die Dämmerung wieder breit und hüllte Uhl Belks gigantische Gestalt in Schatten. Der Steinkönig saß zusammengesunken in einer wirbelnden Staubwolke, als sei er von der Hitze seiner Anstrengung, sich zu verteidigen, geschmolzen, noch immer untrennbar mit dem Stein von Eldwist verwachsen, was ihm seine Niederlage beschert hatte. Trotz aller seiner Versuche, sich zu befreien, hatte er nicht aufstehen und loskommen können. Indem er sich als wesentliche Substanz mit seinem Königreich verschmolzen hatte, hatte er sich weitgehend unbeweglich gemacht. Sein Gesicht war zur Unkenntlichkeit verzerrt, und in seiner Stimme klangen Grauen und Wahnsinn, als er sprach.

– Gebt mir den Elfenstein zurück –

Die drei aus Rampling Steep starrten zu ihm hinauf, und keiner schien die Worte zu finden, um zu sprechen.

»Nein, Uhl Belk«, sagte Walker Boh schließlich. Die Anstrengung des Kampfes ließ sich in seiner Stimme noch hören. »Der Elfenstein hat dir nie zugestanden. Du wirst ihn nicht zurückbekommen.«

– Dann werde ich ihn euch wegnehmen –

»Du kannst dich von dort, wo du bist, nicht fortbewegen. Du hast diesen Kampf verloren, und damit den Elfenstein. Denke nicht daran, zu versuchen, ihn zurückzustehlen.«

– Er gehört mir –

Der Dunkle Onkel gab nicht nach. »Er gehört den Druiden.« Eine Staubwolke sprühte aus dem verwüsteten Gesicht, als die Kreatur einen zischenden Seufzer der Verzweiflung ausstieß.

– Es gibt keine Druiden –

Die Drohung verklang mit knirschendem Echo. Walker Boh antwortete nicht. Sein Gesicht war von Gefühlen gezeichnet, die ihn von innen her zu zerreißen schienen. Der Steinkönig hob mit dramatischer Geste seinen Arm.

– Gib mir den schwarzen Elfenstein zurück, Sterblicher, oder ich befehle Eldwist, dir dein Leben auszuquetschen; gib den Talisman augenblicklich her, oder du wirst vernichtet –

»Wenn du mich oder meine Gefährten angreifst«, sagte Walker Boh, »dann werde ich die Magie des Elfensteins gegen diese Stadt wenden! Ich werde so viel Kraft anrufen, um die steinerne Hülle, die sie erhält, zu zerschmettern und sie und dich in Staub zu verwandeln! Unterlaß deine Drohungen, Uhl Belk! Du hast die Macht nicht länger!«

Dann folgte tiefe Stille. Der Steinkönig ballte seine Hand zur Faust, und es knirschte.

– Du kannst mir keine Befehle erteilen, Sterblicher, niemand kann das –

Walker antwortete sofort. »Laß uns gehen, Uhl Belk. Den schwarzen Elfenstein hast du verloren.«

Die Statue reckte sich stöhnend auf, und seine Stimme war erstickt vom Weinen.

– Er wird mich angreifen; der Malmschlund wird kommen; mein Sohn, das Monster, das ich erschaffen habe, wird kommen, und ich werde gezwungen sein, ihn zu vernichten; nur der schwarze Elfenstein hielt ihn in Schach; er wird mich alt und müde und zu schwach glauben, um mich gegen seine Gier zu verteidigen; er wird kommen und versuchen, mich zu verschlingen –

Seine harten, leblosen Augen waren auf Quickening gerichtet.

– Kind des Königs vom Silberfluß, Tochter dessen, der einst mein Bruder war, bedenke, was du tust; du drohst, mich für immer zu schwächen, wenn du mir den Stein nimmst; das Leben des Malmschlunds liegt mir nicht weniger am Herzen als deines deinem Vater; ohne ihn kann sich mein Land nicht ausweiten, kann meine Aufgabe nicht erfüllt werden; wer bist du, daß du so eilig nimmst, was mein ist; bist du wirklich blind für all das, was ich geschaffen habe; in dem Stein meines Landes ist eine unwandelbare Schönheit, die die Gärten deines Vaters nie erreichen werden; Welten mögen kommen und gehen, doch Eldwist wird bestehen; es wäre besser, wenn alle Welten so wären; dein Vater glaubt sich im Recht, wenn er tut, was er tut, doch seine Sicht der Dinge ist nicht klarer als die meine; es ist mir nicht gegeben, die Dinge anders zu sehen, als das Wort mir aufgetragen hat –

»Du zerstörst, was du berührst, Uhl Belk«, flüsterte das Mädchen.

– Und du nicht; dein Vater nicht; alle jene, die nach der Natur leben, nicht; kannst du behaupten, es sei anders –

Quickenings zarte Gestalt trat einen Schritt näher auf den Riesen zu, und das Licht, das zuvor von ihr ausgestrahlt war, flammte wieder auf.

»Es ist etwas anderes, das Leben zu hegen und zu pflegen oder es umzuwandeln«, sagte sie. »Deine Aufgabe war es, zu hegen, als man dir den Auftrag erteilte. Du hast vergessen, wie man das macht.«

Die Hand des Steinkönigs wedelte die Lichtpartikel ab, die aus ihrem Körper strahlten, ein unbewußter Versuch, sich dagegen abzuschirmen. Doch dann zog er seine Hand heftig zurück und schnappte unter Qualen nach Luft.

– Nein –

Es klang wie ein Angstschrei. Er reckte sich auf, gefangen in einem unsichtbaren Netz, das ihn umfing und festhielt.

– Oh, Kind; ich sehe dich jetzt; ich glaubte, mit dem Malmschlund ein unglaubliches Monster geschaffen zu haben; aber dein Vater hat mit dir Schlimmeres vollbracht –

Seine Stimme klang rauh, erstickt, als könne er die Worte nicht hervorbringen.

– Kind des Wandels und der Evolution, du bist die unaufhaltsame, quecksilbrige Bewegung des Wassers selbst; ich sehe, wozu du in Wahrheit ausgesandt worden bist; ich bin schon zu lange versteinert, so daß es mir entgangen ist; ich hätte es merken müssen, als du das erste Mal herkamst, daß du der Wahnsinn bist; ich bin in der Beständigkeit, die ich suchte, gefangen und war so blind wie jene, die mir dienen; das Ende meines Lebens steht in meiner eigenen Handschrift vor mir geschrieben –

»Uhl Belk.« Quickening flüsterte seinen Namen wie ein Gebet.

– Wie kannst du geben, was von dir gefordert wird, nachdem du von so vielem gekostet hast –

Morgan verstand nicht, was der Steinkönig meinte. Er schaute zu Quickening und fuhr überrascht zusammen. Ihr Gesicht war schuldbewußt verzerrt, ein Spiegel der verborgenen Geheimnisse, die er immer vermutet, aber nie hatte glauben wollen.

Die Stimme des Steinkönigs war ein leises Zischen.

– Verlasse mich, Kind; geh in die Welt zurück und tue, was getan werden muß, um unser aller Schicksal zu besiegeln; dein Sieg über mich muß dir hohl und bitter erscheinen, wenn der Preis, den du dafür zahlen mußt, so teuer ist –

Auch Walker Boh hatte die Augen weit aufgerissen und die Stirn gerunzelt. Auch er schien nicht zu verstehen, was Uhl Belk damit meinte. Morgan setzte an, um Quickening zu fragen, was eigentlich vor sich ginge, doch dann zögerte er unsicher.

Plötzlich riß Uhl Belk mit scharfem Krachen den Kopf hoch.

– Horch –

Die Erde begann zu zittern, ein leises Donnern, das aus der Tiefe drang und langsam immer lauter wurde. Morgan Leah hatte das Geräusch schon gehört.

– Er kommt –

Der Malmschlund.

Walker begann zurückzuweichen und brüllte Quickening und Morgan zu, sie sollten ihm folgen. Er schrie zu dem Steinkönig: »Laß uns hinaus, Uhl Belk, wenn du dich selber retten willst! Tu es jetzt! Schnell!«

Walker hob den Arm und drohte mit der Faust, die den schwarzen Elfenstein hielt. Uhl Belk schien es kaum wahrzunehmen. Sein Gesicht war noch eingefallener, noch mitgenommener denn je, eine Parodie menschlicher Züge, das Gesicht eines Monsters, das über alle Maßen häßlich geworden war. Die Stimme des Riesen zischte wie die einer Schlange durch das Getöse des herannahenden Malmschlunds.

– Flieht, ihr Dummköpfe –

Kein Zorn klang in seiner Stimme mit – nur Enttäuschung und Leere. Und noch etwas, dachte Morgan Leah verwundert. Hoffnung klang darin, ein Fünkchen Hoffnung, ein Verstehen jenseits des Verständnisses des Hochländers, die Aussicht auf eine Möglichkeit, die alles andere überstieg.

Ein Segment der massiven Kuppelwand spaltete sich knirschend und krachend direkt hinter ihnen, und graues Tageslicht drang herein.

– Flieht –

Morgan Leah stürmte augenblicklich auf die Öffnung zu, gejagt von Dämonen, die er lieber nicht sehen wollte. Er fühlte mehr als er sah, daß der Steinkönig ihm nachschaute. Quickening und Walker kamen hinterdrein. Sie erreichten die Öffnung und stürmten hinaus in den grauen Tag auf der Flucht vor der rasenden Wut des herannahenden Malmschlunds.

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