Drei Tage danach gelangte jene, von der man sagte, sie sei die Tochter des Königs vom Silberfluß, nach Culhaven. Die Nachricht von ihrer Ankunft kam einen halben Tag vor ihr an, und als sie die Außenbezirke des Dorfs erreichte, reihten sich die Leute über eine Meile weit zu beiden Seiten der Straße, die in den Ort führte. Von überall her waren sie herbeigeeilt – aus dem Dorf selbst, aus den umliegenden Gemeinden sowohl aus dem Ostland als auch aus dem Südland, von den Gehöften und aus den Hütten der Ebenen und aus den tiefen Wäldern und sogar aus den Bergen im Norden. Da waren Zwerge und Menschen und eine Handvoll Gnome beider Geschlechter und jeden Alters. Sie waren zerlumpt und arm und bis zu diesem Moment ohne jede Hoffnung. Sie drängten sich erwartungsvoll am Straßenrand; einige waren aus reiner Neugierde gekommen, die meisten jedoch aus ihrer Not, irgend etwas zu finden, woran sie wieder glauben konnten.
Die Geschichten über das Mädchen waren voller Wunder. Sie war im Herzen des Silberflußlandes in der Nähe des Regenbogensees aufgetaucht, ein Wundergeschöpf, das einfach so aus der Erde gehüpft war. Sie machte in jedem Dorf, in jeder Stadt, auf jeder Farm, bei jeder Hütte halt und vollbrachte Wunder. Es hieß, sie heile das Land. Sie verwandele geschwärzte, welke Stiele in frische Sprößlinge. Sie lasse mit einer leisen Berührung Blumen erblühen, Früchte wachsen und Ernte reifen. Sie erwecke die Erde vom Tode zu neuem Leben. Selbst dort, wo die Krankheit am schlimmsten wüte, gewinne sie die Oberhand. Sie habe eine besondere Zuneigung zu dem Land, eine Verwandtschaft, die direkt aus den Händen ihres Vaters stamme, aus der legendären Herrschaft des Königs vom Silberfluß. Seit Jahren hatte man geglaubt, daß der Geisterherr mit dem Ausklang des magischen Zeitalters gestorben sei. Jetzt wußte man, daß dies nicht der Fall war; zum Beweis hatte er seine Tochter zu ihnen gesandt. Die Leute des Silberflußlandes sollten ihr altes Leben wiederbekommen. So behaupteten die Geschichten.
Niemand war erpichter darauf, die Wahrheit hinter diesen Gerüchten zu erfahren, als Pe Ell.
Es war Mittag, und er hatte seit Sonnenaufgang im Schatten des hohen, alten, borkigen Hickorybaumes auf einem Hügel am äußersten Stadtrand auf das Mädchen gewartet, sobald die Kunde, heute sei der Tag, an dem sie ankomme, ihn erreicht hatte. Er konnte sehr gut warten, sehr geduldig, und die Zeit war für ihn schnell verstrichen, während er mit den anderen in der ständig wachsenden Menge stand und beobachtete, wie die Sonne langsam in den Sommerhimmel stieg und die Tageshitze sich breitmachte. Die Gespräche um ihn herum waren vielfältig gewesen und ohne Zurückhaltung, und er lauschte aufmerksam. Da waren Geschichten darüber, was das Mädchen getan haben sollte, und darüber, was man glaubte, was sie tun würde. Es gab Spekulationen und Urteile. Die Zwerge waren am inbrünstigsten in ihrem Glauben – oder dem Fehlen eines solchen. Manche sagten, sie sei die Erlöserin ihres Volkes; manche meinten, sie sei nichts anderes als eine Südlandpuppe. Stimmen hoben sich zu Geschrei, stritten und verstummten. Auseinandersetzungen wehten durch die stille, feuchte Luft wie kleine Dampfexplosionen aus einem Geysir. Launen flammten auf und kühlten sich wieder. Pe Ell hörte zu und sagte gar nichts.
»Sie kommt her, um die Föderationssoldaten zu vertreiben und uns unser Land zurückzugeben, ein Land, das dem König vom Silberfluß am Herzen liegt! Sie kommt, uns zu befreien!«
»Bah, Alte, du redest Unfug! Es gibt keinen Beweis dafür, daß sie ist, was sie zu sein vorgibt. Was weißt du darüber, was sie tun kann und was nicht?«
»Ich weiß, was ich weiß. Ich fühle, was sein wird.«
»Ha! Die Schmerzen in deinen Gelenken sind es, die du fühlst, sonst nichts! Du glaubst, was du glauben willst, nicht, was ist. Die Wahrheit ist, daß wir nicht mehr von dem Mädchen wissen, als wir wissen, was der morgige Tag bringen wird. Es ist sinnlos, uns irgendwelche Hoffnungen zu machen!«
»Es ist noch sinnloser, sich keine zu machen!«
Und so fort, hin und her, eine endlose Folge von Argumenten und Gegenargumenten, die nichts weiter brachten, als der Zeit verstreichen zu helfen. Pe Ell seufzte innerlich. Er stritt sich selten. Er hatte selten Grund dazu.
Als es endlich hieß, sie nähere sich, verstummten die Gespräche und Auseinandersetzungen zu Gemurmel und Geflüster. Und als sie wirklich auftauchte, erstarb auch das Murmeln und das Flüstern. Eine seltsame Stille breitete sich über die Volksmenge am Straßenrand, die unterstellte, daß das Mädchen entweder ganz und gar nicht das war, was sie erwartet hatten, oder auch eine ganze Menge mehr.
Sie kam mitten auf der Straße entlang, umgeben von dem Möchtegerngefolge, das sich ihr auf ihrem Weg nach Osten angeschlossen hatte, eine überwiegend zerlumpte Menge mit zerfetzten Kleidern und heiteren Gesichtern. Ihre eigenen Gewänder waren grob und schlecht genäht, doch sie strahlte etwas Atemberaubendes aus. Sie war klein und zierlich und so erlesen von Gestalt, als wäre sie nicht ganz wirklich. Ihr Haar war lang und silbern, glänzend wie Wasser, wenn es im Mondschein schimmert. Ihre Züge waren perfekt. Sie ging allein in einer Horde von Leibern, die sich um sie drängten und stießen und sich doch nicht nah an sie heranwagten. Sie schien zwischen ihnen zu schweben. Stimmen riefen dringlich nach ihr, doch sie sah aus, als sei sie sich nicht bewußt, daß überhaupt jemand in ihrer Nähe war.
Dann kam sie an Pe Ell vorbei und drehte sich absichtsvoll um und schaute ihn an. Pe Ell schauderte vor Überraschung. Das Gewicht dieses Blicks – oder vielleicht nur sein Erleben dieses Blicks – reichte, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ihre schwarzen Augen wandten sich sofort wieder ab, und sie ging weiter wie ein leuchtender Sonnenstrahl, der ihn für einen Moment geblendet hatte. Pe Ell starrte ihr nach. Er wußte jetzt, was sie mit ihm gemacht hatte, was mit ihm in diesem kurzen Moment geschehen war, als ihre Blicke sich begegneten. Es war, als habe sie in sein Bewußtsein und in sein Herz geschaut und darin gelesen. Es war, als habe sie mit diesem einzigen Blick alles erfahren, was man von ihm wissen konnte.
Er empfand sie als das wundervollste Geschöpf, das er in seinem ganzen Leben gesehen hatte.
Sie bog in die Straße ein, die in den eigentlichen Dorfkern führte, die Menge folgte ihr, und Pe Ell schloß sich ihnen an. Er war ein großer, schlanker Mann, so schlank, daß er mager aussah. Seine Knochen standen hervor, und Muskeln und Haut umspannten sie so stramm, daß es aussah, als könnte er leicht zerbrechen. Nichts war der Wahrheit ferner. Er war so hart wie Eisen. Er hatte ein langes, schmales Gesicht mit einer Adlernase, eine breite Stirn mit hohen Brauen über haselnußbraunen Augen, die einen mit entwaffnender Offenheit anschauten. Wenn er lächelte, was er oft tat, verzog sein Mund sich ein wenig schief. Sein braunes Haar war kurz geschnitten, ziemlich borstig und wild. Sein Gang war ein bißchen schlaksig wie bei einem hochaufgeschossenen Knaben oder einer einherstolzierenden Katze. Seine Hände waren schlank und feingliedrig. Er trug gewöhnliche Waldkleider aus grobem, in verschiedenen Grün- und Braunschattierungen gefärbtem Tuch, ausgetretene, geschnürte Lederstiefel und einen kurzen Mantel mit Taschen.
Er trug keine sichtbaren Waffen. Sein Stiehl war direkt unter seiner rechten Hüfte an den Schenkel geschnürt. Das Messer steckte unter seinen locker sitzenden Hosen, wo man es nicht sehen, aber leicht durch einen Schlitz in der Hosentasche erreichen konnte.
Er fühlte die magische Wärme seiner Klinge.
Als er schneller ging, um das Mädchen einzuholen, traten die Leute zur Seite – entweder wegen seines Gesichtsausdrucks oder wegen seiner Art, sich zu bewegen, oder wegen der unsichtbaren Mauer, die sie um ihn spürten. Er mochte nicht berührt werden, und jedermann schien das instinktiv zu wissen. Wie immer wich man ihm aus. Er ging an ihnen vorbei wie ein Schatten, der hinter dem Licht herjagt, behielt dabei das Mädchen im Auge und überlegte. Sie hatte ihn nicht grundlos angeschaut, und das beschäftigte ihn. Er war nicht sicher gewesen, wie sie wohl sein würde, was für Gefühle es in ihm auslösen würde, wenn er sie zum ersten Mal sah – aber er hatte absolut nicht erwartet, daß es so sein könnte. Es überraschte ihn, gefiel ihm, und gleichzeitig machte es ihm ein bißchen Sorge. Er mochte Sachen nicht, die er nicht unter Kontrolle hatte, und er hatte den Verdacht, daß es jedermann schwerfallen würde, sie unter Kontrolle zu bekommen.
Er war natürlich nicht einfach jedermann.
Die Menge hatte zu singen angefangen, ein altes Lied, das davon erzählte, wie die Erde mit der neuen Ernte wiedergeboren wurde, von der Nahrung aus den Feldern, die auf den Tisch der Leute gelangte, die dafür gearbeitet hatten. Ein Lob auf die Jahreszeiten, auf Regen und Sonne, auf das Geschenk des Lebens. Ein Gesang für den König vom Silberfluß. Die Stimmen wurden stetig lauter und inbrünstiger. Das Mädchen schien sie nicht zu hören. Sie wandelte durch den Gesang und das Geschrei, ohne darauf zu reagieren, vorbei an den ersten Häusern am Dorfrand und den größeren Läden, die das Herz des Geschäftszentrums darstellten. Föderationssoldaten tauchten auf und versuchten, den Verkehr zu lenken, der vorwärtsdrängte. Es waren zu wenige, und sie waren nicht gut genug vorbereitet, dachte Pe Ell. Offenbar hatten sie das Ausmaß der Reaktion der Bevölkerung auf die Ankunft des Mädchens gewaltig unterschätzt.
Die Zwerge himmelten sie an wie im Fieber. Es war, als habe man ihnen das Leben wiedergegeben, das man ihnen geraubt hatte. Ein seit vielen Jahren gebrochenes, unterjochtes Volk, für das es reichlich wenig Grund zur Hoffnung gegeben hatte. Doch dieses Mädchen schien zu sein, worauf sie gewartet hatten. Es war mehr als die Geschichten, mehr als die Gerüchte, wer sie sei und was sie zu tun imstande sei. Sie war anders als alle, die er je gesehen hatte. Sie war aus einem bestimmten Grund hergekommen. Sie würde etwas tun.
Das Geschäftsleben von Culhaven erstarb, als das gesamte Dorf, Unterdrücker und Unterdrückte gleichermaßen, erkannte, was geschah, und Teil des Geschehens wurde. Pe Ell hatte die Vorstellung einer Woge, die draußen auf dem Meer Kraft sammelt, wächst und schließlich die gewaltige Wassermenge, die ihr das Leben gegeben hat, weit überragt. So war es mit diesem Mädchen. Es war, als ob alle anderen Ereignisse neben diesem hier zu existieren aufhörten. Alles außer ihr verblaßte und verlor jede Bedeutung. Pe Ell lächelte. Es war das allerwunderbarste Gefühl.
Die Woge rollte über das Dorf, an Läden und Geschäften vorbei, an den Sklavenmärkten, den Arbeitshäusern, den schäbigen Heimen der Zwerge und den gepflegten Villen der Föderationsoffiziere, die Hauptstraße hinunter und wieder hinaus. Niemand schien erraten zu können, wohin sie rollte. Niemand außer dem Mädchen, denn sie führte und dirigierte irgendwie mitten in dem Strudel aus Leibern die ganze Woge ganz nach ihrem Belieben. Das Geschrei und der Gesang gingen unverdrossen weiter, frohsinnig und verzückt. Pe Ell staunte.
Und dann blieb das Mädchen stehen. Die Menge wurde langsamer, wirbelte um sie herum und wurde still. Sie stand am Fuß des schwarz gewordenen Hanges, wo einst die Meadegärten geblüht hatten. Sie hob das Gesicht zu der scharfen Linie des kahlen Hügelkamms, so, als schaue sie jenseits zu einem Ort, den niemand außer ihr sehen konnte. Wenige in der Menge schauten in die gleiche Richtung wie sie; die meisten starrten sie einfach nur an. Es waren Hunderte inzwischen, und alle warteten auf das, was sie tun würde.
Dann ging sie langsam und zielbewußt den Hang hinauf. Die Menge folgte ihr nicht, fühlte vielleicht, daß sie zurückbleiben sollte, erriet aus einer kleinen Geste oder einem Blick, daß sie warten solle. Sie teilte sich für sie, ein Meer aus erwartungsvollen Gesichtern. Ein paar Hände streckten sich nach ihr aus, doch keiner gelang es, sie zu berühren.
Pe Ell drängte sich durch die Menge, bis er in der vordersten Reihe stand, weniger als zehn Schritte von dem Mädchen entfernt. Auch wenn er sich zielstrebig dorthinbegeben hatte, wußte er noch nicht, was er tun wollte.
Eine Gruppe von Soldaten, angeführt von einem Offizier mit den gekreuzten Schulterstreifen eines Föderationskommandanten, schnitt dem Mädchen den Weg ab. Ein unfreundliches Murmeln erhob sich aus der Menge.
»Sie dürfen hier nicht sein«, verkündete der Kommandant mit klarer, fester Stimme. »Niemand darf hier sein. Sie müssen wieder hinuntergehen.«
Das Mädchen schaute ihn an und wartete.
»Dies ist verbotener Boden, junges Fräulein«, fuhr der Kommandant fort mit der Attitüde eines Höhergestellten gegenüber einem Niederen, mit der er Autorität demonstrieren wollte. »Niemand hat die Erlaubnis, diesen Boden zu betreten. Eine Proklamation des Koalitionsrats der Föderationsregierung, die ich zu vertreten die Ehre habe, verbietet es. Verstehen Sie mich?«
Das Mädchen antwortete nicht.
»Wenn Sie nicht sofort umkehren und freiwillig gehen, sehe ich mich gezwungen …«
Das Mädchen machte eine Geste, und im gleichen Augenblick waren die Beine des Mannes von daumendicken Wurzeln umwickelt. Die Soldaten, die ihn begleitet hatten, wichen entsetzt zurück, als sich die Speere, die sie in den Händen hielten, in knorrige Holzstücke verwandelten, die ihnen zwischen den Fingern zerbröselten. Das Mädchen ging an ihnen vorbei, ohne hinzuschauen. Die dröhnende Stimme des Kommandanten wurde zu einem verängstigten Wimmern und ging im Gemurmel der Menge unter.
Pe Ell lächelte grimmig. Magie! Das Mädchen verfügte über wahre Magie! Die Geschichten waren also wahr. Das war mehr, als er hatte hoffen können. Ob sie wirklich die Tochter des Königs vom Silberfluß war?
Die Soldaten hielten sich von ihr zurück, weil sie die Macht, die sie offensichtlich besaß, nicht herausfordern wollten. Ein paar niedere Offiziere versuchten, ein paar Befehle zu erteilen, aber niemand wußte nach dem, was dem Kommandanten widerfahren war, so recht, was zu tun sei. Pe Ell schaute sich schnell um. Offenbar gab es in dem Dorf keine Sucher. In Abwesenheit von Suchern würde niemand handeln.
Das Mädchen stieg über die kahle, abgebrannte Oberfläche des Hanges zum Gipfel hinauf, und ihre Schritte bewegten kaum die trockene Erde, auf der sie ging. Die Sonne glühte unerbittlich aus dem Mittagshimmel und verwandelte den kahlen Boden in einen Brennofen. Das Mädchen schien es nicht zu bemerken. Ihr Gesicht blieb ruhig, während sie durch die Hitze schritt.
Pe Ell starrte sie an und fühlte, wie er an den Rand eines gewaltigen Abgrunds gezogen wurde. Er wußte, daß dahinter etwas unvorstellbar Unmögliches steckte.
Was wird sie tun? Sie erreichte die Anhöhe und blieb stehen. Ihre schlanke, ätherische Gestalt hob sich vor dem Himmel ab. Sie hielt einen Moment inne, als suche sie etwas in der Luft um sie herum, ein unsichtbares Etwas, das zu ihr sprechen würde. Dann kniete sie sich hin. Sie ließ sich auf die verbrannte Erde des Hügels nieder und vergrub ihre Hände darin. Sie senkte den Kopf, und ihr Haar fiel ihr wie ein Schleier aus silbrigem Licht über die Schultern.
Die Welt um sie herum verstummte vollständig.
Dann begann die Erde zu zittern und zu beben, und ein Donnern rollte aus den Tiefen. Die Menge wich staunend zurück. Männer suchten ihr Gleichgewicht zu halten, Frauen schnappten sich ihre Kinder, und Schreie und Rufe wurden laut. Pe Ell trat einen Schritt vor. Er hatte keine Angst. Das war es, worauf er gewartet hatte, und nichts konnte ihn vertreiben.
Dann schien Licht aus dem Hügel zu strahlen, ein Glühen, das das Sonnenlicht fahl erscheinen ließ. Geysire sprangen aus dem Boden, kleine Eruptionen, die himmelwärts spritzten und Pe Ell und die Nächststehenden mit Erde und Schlamm besprühten. Der Boden wankte, als erwache ein eingegrabener Riese aus seinem Schlaf, und riesige Brocken flogen aus dem Boden wie die Knochen von des Riesen Schultern. Die versengte Oberfläche des Hügels begann sich selbst umzuwenden und zu verschwinden. Frische Erde kam herauf und deckte sie zu, fruchtbare, glänzende Erde, die die Luft mit einem kräftigen Geruch anfüllte. Starke Wurzeln ringelten sich schlangengleich hervor, wanden und drehten sich in Antwort auf das Donnergetöse. Grüne Sprossen begannen sich zu entfalten.
Und inmitten all dessen kniete das Mädchen. Ihr Körper unter den losen Gewändern war starr, und sie hatte ihre Arme bis zu den Ellbogen in der Erde vergraben. Ihr Gesicht war nicht zu sehen.
In der Menge hatten sich viele hingekniet. Manche beteten zu den Mächten der Magie, von denen man einst geglaubt hatte, daß sie das Schicksal der Menschen kontrollierten, manche nur, um sich gegen die Erdstöße zu schützen, die inzwischen so gewaltig geworden waren, daß auch die kräftigsten Bäume gerüttelt wurden. Erregung durchwallte Pe Ell und ließ ihn erröten. Er wollte zu dem Mädchen laufen, es umarmen und fühlen, was in ihr geschah, die Kraft mit ihr teilen.
Felsbrocken knirschten und dröhnten, als sie sich selbst zurechtrückten und die Form des Hanges umgestalteten. Terrassenmauern schichteten sich aus den Feldsteinen auf. Moos und Efeu füllten die Spalten. Pfade wanden sich von einem Niveau zum nächsten in sanfter Neigung. Bäume erschienen, Wurzeln wurden kleine Schößlinge, die Schößlinge ihrerseits wurden dicker und verzweigten sich, durchlebten Dutzende von Jahreszeiten des Wachstums in wenigen Minuten. Blätter knospten und entfalteten sich, als suchten sie gierig das Sonnenlicht. Gras und Buschwerk breiteten sich über die kahle Erde und verwandelten die verkohlte Oberfläche in üppiges Grün. Und Blumen! Pe Ell schrie auf in der Stille seines Bewußtseins. Überall waren Blumen, sie erblühten in den leuchtendsten Farben, die ihn zu blenden drohten. Blau und rot und gelb und lila – alle Schattierungen und Tönungen des Regenbogenspektrums überzogen den Hang.
Dann verstummte das Dröhnen, und die darauf folgende Stille wurde von Vogelgezwitscher gebrochen. Pe Ell warf einen Blick auf die Menge. Die meisten waren noch immer auf den Knien, mit weit aufgerissenen Augen und staunend verzückten Gesichtern. Viele weinten.
Dann wandte er sich wieder dem Mädchen zu. In wenigen Minuten hatte sie den ganzen Hang umgewandelt. Sie hatte ein ganzes Jahrhundert von Verheerung und Vernachlässigung, von absichtlichem Roden und Abbrennen und Einebnen ungeschehen gemacht und den Zwergen von Culhaven das Symbol dessen, wer und was sie waren, zurückgegeben. Sie hatte ihnen die Meadegärten wiedergegeben.
Sie kniete noch immer mit gesenktem Kopf am Boden. Als sie aufstand, konnte sie sich kaum halten. Sie hatte ihre ganze Kraft zur Wiedererstehung der Gärten verausgabt; sie schien nichts mehr übrig zu haben. Schwach schwankte sie mit schlaff herunterhängenden Armen, und ihr hübsches Gesicht war gezeichnet und verhärmt, und ihr silbriges Haar feucht und zerzaust. Pe Ell spürte ihren Blick wieder auf sich gerichtet, und diesmal zögerte er nicht. Hurtig eilte er den Hang hinauf, sprang über Steine und Gebüsch und ließ die Pfade außer acht, als wären sie Hindernisse. Er fühlte, wie die Menge ihm nachdrängte, hörte ihre Stimmen aufschreien, doch sie bedeuteten ihm nichts, und er schaute sich nicht um. Er erreichte das Mädchen, als sie fiel, und fing sie auf. Sanft hielt er sie in den Armen, als habe er ein wildes Geschöpf gefangen, beschützend und besitzergreifend zur selben Zeit.
Ihre Augen schauten in die seinen, er sah ihre Intensität und ihr Leuchten und die Gefühlstiefe, die darin zum Ausdruck kam. In diesem Augenblick war er an sie in einer Weise gebunden, die er nicht zu beschreiben vermochte. »Bring mich an einen Ort, wo ich ruhen kann«, flüsterte sie.
Die Menge umringte sie jetzt, und er konnte sich ihrem aufgeregten Geschnatter nicht entziehen. Ein Meer von Gesichtern drängte in die Nähe. Er sagte etwas zu den Nächststehenden, um sie zu beruhigen, daß das Mädchen nur erschöpft sei, und er hörte, wie seine Worte von Mund zu Mund weitergegeben wurden. Er erhaschte einen Blick der Föderationssoldaten am Rande der Menge, doch sie zogen es weise vor, sich fern zu halten. Mit dem Mädchen auf dem Arm ging er los. Er staunte, wie wenig sie wog. Es ist nichts an ihr dran, dachte er. Und alles.
Eine kleine Gruppe von Zwergen trat ihm entgegen und forderte ihn auf, ihnen zu folgen und die Tochter des Königs vom Silberfluß in ihr Haus zu bringen, damit sie sich dort ausruhe. Pe Ell ließ sich von ihnen führen. Ein Haus war für den Moment so gut wie jedes andere. Die Augen der Menge folgten ihnen, doch sie begann sich schon zu zerstreuen und in das Paradies der Gärten zu schwärmen und sich an ihrer Schönheit zu ergötzen. Gesang erschallte wieder, sanfte Lieder, die das Mädchen priesen und ihm dankten, lyrisch und süß.
Pe Ell, das schlafende Mädchen auf den Armen, ging den Hügel hinunter, verließ die Meadegärten und betrat wieder das Dorf Culhaven. Sie hatte sich in seine Obhut begeben. Sie hatte sich unter seinen Schutz gestellt. Welche Ironie.
Schließlich war er hergeschickt worden, um sie zu töten.