24

In jener Nacht kehrten sie nicht in ihr gewohntes Versteck zurück; es war schon fast dunkel, als sie die Landenge hinter sich ließen, und die Entfernung zurück durch die Stadt war zu groß, um sie sicher zurückzulegen. Sie fanden statt dessen gleich in der Nähe ein niedriges Gebäude mit gewundenen, engen Fluren und mit Zimmern, die an beiden Enden Türen hatten und damit einen Ausweg boten, falls der Kratzer auftauchen sollte. Sie ließen sich tief im steinernen Inneren des Hauses nieder, wo es so dunkel war, daß sie einander auf Armeslänge kaum sehen konnten, aßen eine Abendmahlzeit aus getrockneten Früchten und Gemüsen und versuchten, Carismans Geist aus ihrer Gegenwart zu verbannen. Der tote Sänger tauchte in Erinnerungen auf, in ungesagten Worten und im fernen, leisen Brausen der Ozeanwellen. Sein Gesicht erblühte in den Schatten, die sie warfen, und seine Stimme flüsterte im Geräusch ihres Atems. Walker Boh betrachtete Quickening, ohne sie zu sehen; seine Gedanken galten Carisman und wie er den Sänger hatte gehen lassen, als er ihn hätte hindern können. Als Quickening seinen Arm berührte, war ihm der Druck ihrer Finger kaum bewußt. Als sie mit ihrer Berührung in seinen Gedanken las, merkte er es nicht. Er fühlte sich ausgehöhlt und leer und unerträglich einsam.

Später, als sie schlief, wurde er sich ihrer wieder bewußt. Seine Selbstanklagen hatten sich erschöpft, sein Kummer war eingetrocknet; Carismans Schatten war verbannt, an den Ort und in die Zeit verwiesen, in die er gehörte. Walker saß in der Finsternis, der Stein von Wänden, Decke und Boden erdrückte ihn, die Stille war wie ein Laken, das ihn zu ersticken drohte, und die Zeit das Instrument, mit dem er das Herannahen seines eigenen Todes maß. War der Tod jetzt für irgendeinen von ihnen noch fern? Er betrachtete das Mädchen, das neben ihm schlief, beobachtete, wie sich ihre Brust hob und senkte, wie sie auf der Seite lag, das Gesicht von der Armbeuge getragen, ihr Silberhaar zurückgefächert und leuchtend. Er beobachtete den langsamen, stetigen Puls an ihrem schlanken Hals, sah die Vertiefungen ihres Gesichts und folgte der Form ihres Körpers unter dem Schutz ihrer Kleider, die seine Perfektion nicht zu verhehlen vermochten. Bei aller magischen Kraft war sie ein zerbrechliches Stück Leben, und er konnte das Gefühl nicht loswerden, daß sie trotz des Vertrauens in ihren Vater und der Sicherheit, mit der sie sie nach Norden geführt hatte, in Gefahr schwebte. Das Gefühl war vage und schwer zu fassen, doch es entstammte seinen Instinkten und seinem Vorherwissen, geboren aus der Magie, die er von Brin Ohmsford geerbt hatte, Magie, die noch immer in ihm ebbte und flutete, je nachdem, wie die Gezeiten seines Glaubens an sich selbst stiegen und fielen. Er konnte es nicht ignorieren, Quickening war in Gefahr, und er wußte nicht, wie er sie retten sollte.

Es war tiefe Nacht, und noch immer schlief er nicht. Sie alle befanden sich natürlich in Gefahr. Was er als Risiko für die Tochter des Königs vom Silberfluß wahrnahm, war möglicherweise nichts anderes als die Gefahr, die er für sie alle witterte. Carisman hatte es schon erwischt.

Irgendwann würde es auch Quickening erwischen. Vielleicht war es nicht so sehr Quickenings Tod, den er fürchtete, sondern, daß sie sterben könnte, ehe sie ihre Geheimnisse offenbart hatte. Es waren ihrer viele, vermutete er. Daß sie sie so vollständig versteckte, machte ihn wütend. Er war überrascht über den Ärger, den diese Erkenntnis hervorrief. Quickening hatte ihn mit seinen finstersten Ängsten konfrontiert und ihn dann mit ihnen allein gelassen. Sein ganzes Leben war von der Befürchtung überschattet gewesen, daß Allanons mysteriöses Vermächtnis an die Ohmsfords, das Brin vor über dreihundert Jahren übertragen, das ungenutzt von Generation zu Generation weitergereicht worden war, irgendwie von ihm erfüllt werden mußte. Er hatte mit diesem Gespenst seit seiner Kindheit gelebt, wie seine ganze Familie seines Vorhandenseins bewußt, und hatte es als ein Gespenst betrachtet, das sich nicht verbannen ließ, sondern im Laufe der Jahre nur noch an Substanz zunahm. Die Magie der Ohmsfords lebte in ihm, wie sie nicht in seinen Ahnen gelebt hatte. Allanons Träume waren nur zu ihm gekommen. Cogline hatte ihn zu seinem Schüler gemacht und ihn die Geschichte seiner Kunst und der Sache der Druiden gelehrt. Allanon hatte ihm aufgetragen, auf die Suche nach den Druiden und dem verlorenen Paranor zu gehen.

Ihn schauderte. Jeder Schritt brachte ihn dem Unvermeidlichen näher. Das Vermächtnis war für ihn bestimmt. Das Phantom, das ihn in all diesen Jahren heimgesucht hatte, hatte sein schreckliches Gesicht enthüllt.

Er mußte den schwarzen Elfenstein nehmen und Paranor wiederbringen.

Er sollte der nächste Druide werden.

Er hätte über die Verrücktheit dieser Vorstellung lachen können, wenn sie ihm nicht solche Angst eingejagt hätte. Er verachtete die Druiden für das, was sie den Ohmsfords angetan hatten; er sah sie als finstere, ihren eigenen Zwecken dienende Manipulatoren. Er hatte sein Leben lang versucht, sich von ihrem Fluch zu befreien. Aber es war nicht nur das – Allanon war fort – der letzte der wahren Druiden. Cogline war fort – der letzte, der ihre Kunst studiert hatte. Er war allein; wer sollte ihn lehren, was ein Druide wissen mußte? Sollte er sich das Studium der Magie irgendwie aus den Fingern saugen? Sollte er sich selber unterrichten? Und wie viele Jahre würde das dauern? Wie viele Jahrhunderte? Wenn es die Magie der Druiden brauchte, um die Schattenwesen zu bekämpfen, dann konnte eine solche Magie nicht so ohne weiteres aus der Geschichte und den Büchern bezogen werden, aus denen alle vorangegangenen Druiden gelernt hatten. Die Zeit ließ es nicht zu.

Er biß die Zähne zusammen. Es war töricht zu glauben, er könne ein Druide werden, selbst wenn er dazu bereit wäre, selbst wenn er es wünschte, selbst wenn das Gespenst, das er während all dieser Jahre so gefürchtet hatte, sich als er selbst herausstellen sollte.

Töricht!

Walkers Augen glänzten, als er die Schatten des Zimmers nach einem Ausweg aus seiner Verzweiflung absuchte. Wo waren die Antworten, die er brauchte? Verhehlte Quickening ihm diese Antworten? Waren sie ein Teil jener Wahrheiten, die sie zurückhielt? Wußte sie, was aus ihm werden würde? Er streckte den Arm aus, weil er sie wachrütteln wollte. Dann zog er ihn schnell wieder zurück. Nein, sagte er sich. Ihr Wissen war so begrenzt und unvollständig wie seines. Bei Quickening war es eher ein Erfühlen von Möglichkeiten, ein Ahnen, was sein könnte, ein Vorherwissen wie sein eigenes. Es war mit ein Grund, warum er sich mit ihr verwandt fühlte. Er zwang seine Gedanken zur Ruhe und sein Bewußtsein, sich zu öffnen, und er schaute auf sie hinunter, als wollte er sie mit den Augen verschlingen. Er fühlte, wie etwas Warmes und Großmütiges ihn anrührte, ihr Schlaf, ungefragt und offenbar. Er erinnerte ihn an den seiner Mutter, als er noch klein war und ihren Trost und ihren Zuspruch brauchte. Sie war in gewisser Weise eine Wiedergabe seines eigenen Ichs. Sie öffnete ihn für die Möglichkeiten, was er sein könnte. Er sah die Farben seines Lebens, die Muster, die gewoben, und die Strukturen, die erprobt werden könnten. Er war der Stoff, der zugeschnitten und geformt werden mußte, doch ihm fehlten die Werkzeuge und die Kenntnisse. Quickening tat, was sie konnte, um ihm beides zu geben.

Danach schlief er eine Weile, noch immer an die Wand gelehnt, Arme und Beine eng an den Körper gefaltet, den Kopf nach vorn in seinen Umhang geneigt. Als er wieder aufwachte, schaute Quickening ihn an. Wortlos musterten sie einander eine Weile, jeder forschte in den Augen des anderen, suchte, die Fragen des anderen darin zu lesen.

»Du hast Angst, Walker Boh«, sagte das Mädchen schließlich.

Walker lächelte beinahe. »Ja, Quickening. Ich habe immer schon Angst gehabt. Angst hiervor – vor dem, was jetzt geschieht – mein Leben lang. Ich bin davor weggerannt, habe mich davor versteckt, es fortgewünscht, gefleht, es möge verschwinden. Ich habe gekämpft, es einzudämmen. Eine strenge und unnachgiebige Kontrolle über mein Leben auszuüben schien die Technik, die am besten wirkte. Wenn ich mein eigenes Schicksal diktierte, konnte es keine Gewalt über mich haben. Die Vergangenheit habe ich anderen überlassen, die Gegenwart gehörte mir.«

Er streckte behutsam die Beine aus. »Die Druiden haben in das Leben so vieler Ohmsfords, der Kinder von Shannara über viele Generationen, eingegriffen. Wir sind von ihnen ausgenutzt worden; wir sind benutzt worden, ihrer Sache zu dienen. Sie haben uns verändert. Sie haben uns zu Sklaven der Magie gemacht, statt einfach nur zu Trägern. Sie haben die Struktur unseres Bewußtseins, unseres Körpers und unseres Geistes verändert; sie haben uns zerrüttet. Und sie sind noch immer nicht befriedigt. Schau, was sie jetzt von uns erwarten! Schau, was von mir erwartet wird! Ich soll aus der Sklavenrolle schlüpfen und Meister werden. Ich soll den schwarzen Elfenstein übernehmen – eine Magie, die ich nicht einmal beginne zu verstehen. Ich soll sie einsetzen, um das verlorene Paranor zurückzuholen. Und nicht einmal damit ist es genug. Ich soll auch die Druiden zurückbringen. Aber es gibt keine Druiden mehr. Es gibt nur mich. Und wenn es nur mich gibt, dann …«

Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Seine Entschlossenheit geriet ins Wanken. Seine Geduld verließ ihn. Sein Zorn kam zurück, ein rohes, bitteres Echo in der Stille.

»Sag es mir!« flehte er.

»Aber ich weiß es doch nicht«, flüsterte sie.

»Du mußt!«

»Walker …«

Er hatte Tränen in den Augen. »Ich kann nicht sein, was Allanon will, daß ich sei – was er von mir verlangt! Ich kann es nicht!« Er sog schnell und hastig die Luft ein, um sich zu fangen. »Siehst du das, Quickening? Wenn ich die Druiden wiederbringen soll, indem ich einer werde, wenn ich das muß, weil es keinen anderen Weg gibt, damit die Rassen die Schattenwesen überleben können, muß ich dann sein, wie sie einst waren? Muß ich die Kontrolle über das Leben jener übernehmen, denen ich zu helfen behaupte, jener anderen, die Ohmsfords sind, Par und Coll und Wren? Und für wie viele zukünftige Generationen? Wenn ich ein Druide bin, muß ich das tun? Kann ich etwas anderes tun?«

»Walker Boh.« Sie sagte seinen Namen leise und eindringlich. »Du wirst sein, was du sein mußt, doch du wirst immer noch du selber sein. Du bist nicht in einem Spinnennetz von Druidenmagie gefangen, die dein Leben vorherbestimmt hat, eines und nur das eine zu sein. Es gibt immer eine Wahl. Immer.«

Er hatte plötzlich das Gefühl, daß sie von etwas völlig anderem sprach. Ihr edles Gesicht war angespannt unter einem inneren Aufruhr. Sie hielt inne, um sich zu entspannen, die Falten und Runzeln zu glätten. »Du fürchtest dein Schicksal, ohne zu wissen, was es sein wird. Du bist gelähmt durch Zweifel und Befürchtungen, die du dir selber machst. Vieles ist dir widerfahren, Dunkler Onkel, und genug, um jedermann zweifeln zu machen. Du hast geliebte Menschen verloren, deine Heimat, einen Teil deines Körpers und deines Geistes. Du hast gesehen, wie das Gespenst einer Kindheitsangst Gestalt angenommen hat und zu einer Bedrohung geworden ist, die real ist. Du bist fern von allem, was dir vertraut ist. Aber du darfst nicht verzweifeln.«

Sein Blick war verquält. »Aber ich tue es, Quickening. Ich habe den Halt verloren. Ich fühle, wie ich vollständig untergehe.«

Sie nahm seine Hand. »Dann halt dich an mir fest, Walker Boh. Und erlaube mir, mich an dir festzuhalten. Wenn wir uns gegenseitig Halt geben, werden wir nicht abgleiten.«

Sie rückte neben ihn und legte ihm den Kopf auf die Brust. Ihr Silberhaar breitete sich über seinen Umhang. Sie sagte nichts, ruhte nur dort, hielt noch immer seine Hand fest, und ihre Wärme mischte sich mit der seinen. Er senkte sein Kinn auf ihr Haar und schloß die Augen.

Dann schlief er, und er hatte keine Träume und schreckte auch nicht plötzlich aus dem Schlaf. Nur ein sanftes Wiegen weicher, unsichtbarer Fäden, die ihn sicher hielten. Das Gefühl des Abgleitens verschwand, so wie sie es versprochen hatte. Er wurde nicht mehr von ungewissen, beunruhigenden Visionen geplagt; er wurde in Frieden gelassen. Ruhe umfing ihn, besänftigend und tröstend. Es waren die Hände einer Frau, und die Frau war Quickening.

Bei Tagesanbruch erwachte er, erhob sich von dem kalten Steinboden, und seine Augen gewöhnten sich an das magere graue Licht. Jenseits des Irrgartens aus Zimmern und Fluren, die ihn von der Außenwelt abschirmten, konnte er das leise Trommeln des Regens hören. Quickening war fort. Er fand sie an einer Fensterfront auf der Nordseite. Sie starrte in den Dunst hinaus. Die steinernen Häuser und Straßen glänzten naß, spiegelten ihr eigenes Bild als groteske Parodie, reflektierten ihre Leblosigkeit. Eldwist grüßte den neuen Tag als blinde, starre Leiche. Reihen von Häusern, Bänder von Straßen erstreckten sich in die Ferne, ein symmetrisches Konstruktionsmuster, glatt und hart und bar jeden Lebens. Walker trat neben Quickening und fühlte, wie sich die Beklemmung der Stadt über ihn legte.

Ihre Augen suchten seinen Blick. Ihre Silbermähne war das einzig Helle in der Düsternis. »Ich habe dich so fest gehalten, wie ich konnte, Walker Boh«, sagte sie. »War es ausreichend?«

Er brauchte eine Weile, bis er antwortete. Der Stumpf seines verlorenen Arms schmerzte, seine Gelenke waren steif und reagierten langsam. Er kam sich vor wie eine große Muschel, in der sein Geist zu der Größe eines Kieselsteins zusammengeschrumpft war. Und dennoch war er seltsam gefaßt.

»Ich muß an Carisman denken«, sagte er schließlich, »entschlossen, um jeden Preis frei zu sein. Auch ich wäre gern frei. Von meinen Ängsten und Zweifeln. Von mir selbst. Von dem, was ich werden könnte. Und das ist ausgeschlossen, bis ich das Geheimnis des schwarzen Elfensteins und die Wahrheit hinter den Träumen von Allanons Schatten gelöst habe.«

Quickenings Anflug von Lächeln überraschte ihn. »Auch ich wäre gern frei«, sagte sie leise. Sie schien es dringend erklären zu wollen, doch sie schaute schnell weg. »Wir müssen Uhl Belk finden«, sagte sie statt dessen.

Sie verließen ihren Unterschlupf und traten in den Regen hinaus. Sie folgten den schweigenden Straßen von Eldwist nach Norden durch Schatten und Dämmerlicht, gebückt unter dem Schutz ihrer Umhänge, verloren in ihren eigenen Gedanken.

»Eldwist ist wie eine Stadt mitten im Winter«, sagte Quickening, »die auf den Frühling wartet. Sie ist von Stein bedeckt, wie andere Teile der Erde von Schnee bedeckt sind. Kannst du ihre Geduld fühlen? Samen stecken im Boden, und wenn der Schnee schmilzt, können diese Samen zum Keimen gebracht werden.«

Walker wußte nicht so recht, was sie meinte. »In Eldwist gibt es nichts als Stein, Quickening. Er reicht bis in die Tiefe und von einem Ende der Halbinsel zum anderen. Es gibt hier keinen Samen, nichts von den Wäldern und Feldern, keine Bäume, keine Blumen, kein Gras. Nur Uhl Belk und die Monster, die ihm dienen. Und uns.«

»Eldwist ist eine Lüge«, sagte sie.

»Wessen Lüge?« fragte er. Doch sie gab keine Antwort.

Fast eine Stunde lang folgten sie der Straße, hielten sich wohlweislich auf dem Gehsteig und lauschten auf die Geräusche, falls irgend etwas sich bewegte. Doch außer dem stetigen Prasseln des Regens herrschte absolute Stille. Sogar der Malmschlund schlief, so schien es, sogar die Seevögel. Regenwasser sammelte sich in Pfützen und zu Bächen, floß in reißendem Strömen strudelnd und spritzend die Abwasserrinnen entlang und schwemmte den Staub und den Sand in die Gullis, die der Wind in die Stadt getragen hatte. Die Gebäude wachten als stumme, unbeteiligte, gefühllose Zeugen. Wolken und Nebel vermischten sich und senkten sich über sie und bis zum Boden. Die Umgebung begann zu verschwinden, zuerst die Türme, dann ganze Mauern und dann Teile der Straße selbst. Walker und Quickening fühlten eine Veränderung der Welt, so, als sei etwas losgelassen worden. Trugbilder kamen zum Spielen hervor, dunkle Schatten, die aus dem Boden stiegen, um am Rande ihres Sichtfelds zu tanzen, nie ganz wirklich, nie ganz durchgeformt. Augen beobachteten sie, spähten aus der Höhe hinunter, starrten aus dem Boden herauf. Finger streiften ihre Haut, Regentropfen, Nebelschwaden und noch irgend etwas. Walker ließ sich eins werden mit dem, was er fühlte, ein alter Trick, ein Verschmelzen des Selbst mit den äußeren Empfindungen, um ein winziges Maß an Einblick in den Ursprung des Ungesehenen zu gewinnen. Nach geraumer Zeit fühlte er etwas, ein finsteres, brütendes, uraltes Ding von gewaltiger Kraft. Er konnte es atmen hören. Er konnte beinahe seine Augen sehen.

Eine Gestalt tauchte vor ihnen aus dem Nebel, mit Umhang und Kapuze wie sie selbst und beunruhigend nah. Walker stellte sich vor Quickening und blieb stehen. Die Gestalt hielt ebenfalls an. Wortlos standen sie einander gegenüber. Dann verschoben sich die Wolken und veränderten den Einfall des Lichts, die Schatten gestalteten sich um, und eine Stimme rief unsicher: »Quickening?«

Walker Boh atmete auf. Es war Morgan Leah.

Sie schüttelten sich die Hände zur Begrüßung. Quickening umarmte den durchnäßten, zerzausten Hochländer und küßte leidenschaftlich sein Gesicht ab. Walker schaute zu, ohne etwas zu sagen, längst der Zuneigung der beiden zueinander gewahr, und doch überrascht, daß Quickening es zuließ. Er sah, wie sie die Augen schloß, als Morgan sie im Arm hielt, und glaubte zu verstehen. Sie erlaubte sich zu fühlen, denn es war alles noch neu für sie. Sie war nicht älter als die Zeit seit ihrer Erschaffung, und selbst wenn ihr Vater ihr menschliche Gefühle eingegeben hatte, so hatte sie sie doch bisher noch nicht selber erlebt. Walker empfand eine seltsame Traurigkeit für sie. Sie gab sich so schreckliche Mühe zu leben.

»Walker.« Morgan kam auf ihn zu, einen Arm noch immer um das Mädchen geschlungen. »Ich habe überall gesucht. Ich dachte, euch sei auch etwas zugestoßen.«

Er berichtete ihnen, was Horner Dees und ihm widerfahren war, wie sie durch die Falltüre auf die Rutsche gestürzt waren und zu ihrem Entsetzen mit dem schlafenden Malmschlund direkt unter sich konfrontiert gewesen waren. Seine Augen waren wild und leuchtend, als er beschrieb, wie es ihm irgendwie gelungen war, die Magie des Schwertes von Leah, die er für verloren gehalten hatte, noch einmal freizusetzen.

Mit ihrer Hilfe waren sie entkommen. Für die Nacht hatten sie Zuflucht in der Nähe gesucht, und bei Tagesanbruch waren sie an die Stelle zurückgekehrt, wo sie die Gefährten verlassen hatten. Doch sie hatten das Gebäude leer gefunden und keinerlei Hinweis darauf, daß irgendwer zurückgekommen war. In Sorge um Quickening – um sie alle, beeilte er sich, hinzuzufügen – hatte er Dees zurückgelassen, um auf sie zu warten, und war allein auf die Suche gegangen.

»Horner Dees war bereit, ebenfalls mitzukommen, aber ich habe es nicht zugelassen. Die Wahrheit ist, daß er sich nie wieder bewegen würde, wenn das möglich wäre – zumindest bis es Zeit ist, von hier fortzugehen.« Der Hochländer grinste breit. »Er hat die Nase voll von Eldwist und den Falltüren; er wünscht sich in das Bierhaus in Rampling Steep zurück!« Dann hielt er inne und schaute suchend an ihnen vorbei. »Wo ist Carisman?«

Jetzt waren sie an der Reihe, und Quickening berichtete mit ruhiger und seltsam tröstender Stimme die Ereignisse, die zum Tod des Sängers geführt hatten. Aber Morgan Leahs Gesicht war dennoch von Kummer und Zorn gezeichnet, als sie endete.

»Er hat nie irgendwas begriffen, nicht wahr?« sagte der Hochländer; die Emotion, die er im Inneren zurückhielt, drohte ihn zu ersticken. »Er verstand es einfach nie! Er glaubte, seine Musik sei ein Heilmittel für alles! So ein Unsinn!«

Er schaute einen Moment weg, um seinen Ausdruck zu verbergen, stützte die Hände herausfordernd in die Hüften, als ob Starrsinn irgend etwas an dem Geschehenen ändern könnte. »Wo gehen wir jetzt hin?« fragte er schließlich.

Walker schaute zu Quickening. »Wir glauben, daß Uhl Belk sich in der Kuppel verbirgt«, sagte das Mädchen. »Wir waren dabei, einen Eingang zu suchen, als die Urdas auftauchten. Wir sind auf dem Weg dorthin, um die Suche fortzusetzen.«

Morgan drehte sich um, sein Gesicht wieder gefaßt. »Dann komme ich mit. Horner ist besser dran, wenn er bleibt, wo er ist. Am Abend können wir dann wieder zu ihm gehen.« Der Blick, den er ihnen zuwarf, wirkte beinahe herausfordernd. »So sollte es ohnehin sein. Nur wir drei.«

»Komm mit, wenn du möchtest«, willigte Quickening ein und Walker nickte ohne Kommentar.

Sie machten sich wieder auf, drei vom Regen durchnäßte Gestalten, verloren in Nebel und Schatten. Walker ging voran, ein magerer, weißgesichtiger Geist in der Düsternis und der Anführer, weil Quickening einen Schritt hinter ihm blieb, um bei Morgan zu sein. Er krümmte seine schmalen Schultern gegen das Wetter, spürte den beißenden Wind, der in Böen fegte, und fühlte, wie die Leere in seinem Inneren ihn zu verschlingen drohte. Er fühlte in diese Leere und versuchte, einen Teil seiner Magie zu erfassen, eine Kraft, auf die er sich verlassen könnte. Sie entzog sich ihm wie eine Schlange auf der Flucht. Er spähte nach vorn durch den dünnen Regenschleier und beobachtete die Schatten, die hinter dem Licht herjagten. Das Gespenst seines Schicksals lauerte auf ihn, ein schwacher Schimmer in einer Pfütze, ein Nebelfetzen in einem Eingang, ein Dunkeln des Steins, wo die Nässe wie ein Spiegel wirkte. Und immer trug es Allanons Gesicht.

Die Straße endete, und die dunkle Wölbung der Kuppel erhob sich vor ihnen wie die Schale eines schlafenden Krebses. Die drei traten vom Gehsteig und standen vor dem Bauwerk, winzig vor seiner Größe. Walker starrte wortlos auf die Kuppel. Ihm war bewußt, das Quickening und Morgan auf ihn warteten, bewußt, daß auch etwas anderes auf ihn wartete. Es. Die Präsenz, die er zuvor wahrgenommen hatte, war wieder da, hier stärker, bereiter, sicherer. Und beobachtend. Walker rührte sich nicht. Er fühlte Augen von überall her auf sich gerichtet, als gäbe es keinen Ort, an den er ungesehen fliehen könnte. Der Stein der Stadt trug ihn, doch vermochte sich auch ohne Vorwarnung um ihn schließen und ihm sein Leben herausquetschen. Die Präsenz wollte, daß er das wußte. Sie wollte, daß er wußte, wie unbedeutend er war, wie unnütz seine Suche und wie überflüssig sein Leben. Es fiel über ihn her, drückte auf ihn nieder wie der Nebel und der Regen. Geh nach Hause, hörte er es sagen. Geh, solange du es noch kannst.

Er ging nicht. Er trat nicht einmal zurück. Er war in seinem Leben oft genug bedroht worden, hatte genügend Finsteres gesehen, das durchs Land streifte, um zu erkennen, wann er getestet wurde. Es war nicht ein Versuch, ihn zu zerschmettern; es war hänselnd und vorgetäuscht, als sei es dazu gedacht, den gegenteiligen Effekt zu erzielen. Geh nicht wirklich fort, schien es zu sagen. Aber denk daran, daß man es dir geraten hat.

Walker Boh trat vor eine Stelle, wo die Wand zwischen den Steinbändern am breitesten war. Der Tod strich an ihm vorbei, ein leichtes Sprühen, von Regen und Wind getragen. Es war absurd, doch er fühlte Cogline dicht neben sich. Der Geist des alten Mannes war aus der Asche von Hearthstone auferstanden und gekommen, um seinen Schüler beim Praktizieren des Handwerks, das er ihn gelehrt hatte, zu beobachten, gekommen vielleicht, um zu urteilen, wie gut er es handhabte. Du wirst nie frei sein von der Magie, hörte Walker ihn sagen. Er betrachtete eine Weile die zerklüftete, verwitterte Oberfläche der Mauer, beobachtete das Regenwasser, das sich in unregelmäßigen, silbrigen Rinnsalen, glitzernd wie Quickenings Haarsträhnen, nach unten schlängelte. Noch einmal tauchte er in sein Inneres nach der Magie, und diesmal bekam er sie zu fassen. Er zog ihre Kraft um sich wie eine Rüstung, panzerte sich mit ihr, als wolle er der steinernen Mauer ebenbürtig sein, und dann streckte er seine Hand aus und drückte mit den Fingern gegen den Stein.

Er fühlte, wie die Magie m ihm aufstieg, wie sie heiß wie Feuer aus seiner Brust in seinen Arm flutete, in seine Finger, in …

Es gab ein Beben, und der Stein vor ihm wich, zuckte zurück, als sei es menschliches Fleisch, das gebrannt wurde. Es gab ein langgezogenes, dumpfes Knirschen, das Geräusch von Stein, der über Stein schabt, und einen schrillen Schrei, als sei Leben dazwischengeklemmt. Quickening kauerte sich nieder wie ein erschreckter Vogel, ihr Silberhaar nach hinten geworfen, ihre Augen leuchtend und seltsam lebhaft. Morgan Leah zog in einer einzigen, schnellen Geste sein Breitschwert, das er über den Rücken geschnallt trug.

Die Mauer vor ihnen öffnete sich – nicht wie eine Tür, die aufschwang, oder ein Paneel, das sich hob, sondern wie ein Lappen, der entzweigerissen wird. Sie öffnete sich weit vom Fundament bis zum Scheitel wie ein Maul, das gefüttert werden will. Als die Öffnung sieben Meter breit war, stoppte sie, unbeweglich, mit einem glatten steinernen Rahmen, der aussah, als sei er schon immer dort gewesen und gehöre eindeutig hierher.

Ein Eingang, dachte Walker Boh. Genau das, was sie gesucht hatten.

Quickening und Morgan Leah standen erwartungsvoll neben ihm. Er sah keinen der beiden an. Er hielt seinen Blick in die Öffnung gerichtet, in die Finsternis und das Meer undurchdringlicher Schatten. Er suchte und lauschte, doch nichts gab sich preis.

Doch wußte er, was dort wartete.

Carismans Stimme sang leise in seinem Geiste. Komm nur herein, sagte die Spinne zur Fliege. Mit dem Mädchen und dem Hochländer an seiner Seite nahm er die Einladung an.

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