20

Mit der Vernichtung der Ratten waren sie in der Lage, durch den Tunnel, der sie in die unterirdische Höhle gebracht hatte, zurückzugehen, wieder in das Abwassernetz von Eldwist zu klettern, von dort in die Tunnel darüber, um schließlich wieder auf die Straßen der Stadt zu gelangen. Es begann schon dunkel zu werden, und sie hasteten eilig durch die einbrechende Dämmerung in den Schutz ihres Nachtquartiers. Sie schafften es im allerletzten Moment. Der Kratzer erschien fast sofort vor den Mauern des Gebäudes, seine Panzerbeine kratzten über den Stein, und er suchte noch immer nach ihnen. Sie saßen schweigend im Dunkeln und lauschten, bis er schließlich abzog. Walker meinte, das Geschöpf könne ihre Spur mit seinem Geruchssinn verfolgen. Nur der Regen und die vielen Spuren, die sie hinterlassen hatten, verwirrten ihn. Früher oder später würde er sie finden.

Erschöpft und angeschlagen und erschüttert von den Erlebnissen verzehrten sie ihr Nachtmahl schweigend und zogen sich schnell zum Schlafen zurück.

Am nächsten Morgen verkündete Pe Ell, der seit ihrer Flucht aus den Tunneln in eine so finstere Laune verfallen war, daß keiner sich ihm zu nähern wagte, er mache sich alleine auf.

»Wir sind zu viele, die da rumstolpern, um je irgendwas zu finden«, erklärte er mit ruhiger, ausdrucksloser Stimme und undurchdringlichem Gesicht. Er sprach zu Quickening, so als zähle nur sie. »Falls es tatsächlich einen Steinkönig gibt, dann weiß er inzwischen, daß wir hier sind. Es ist seine Stadt; wenn er will, kann er sich unauffindbar verstecken. Der einzige Weg, ihn zu finden, ist, indem man ihn erwischt, wenn er nicht damit rechnet, sich anschleicht und ihn überrascht. Das ist ausgeschlossen, wenn wir weiterhin wie eine Hundemeute hinter ihm herjagen.«

Morgan setzte zum Widerspruch an, doch Walkers Finger schlossen sich mit eisernem Griff um seinen Arm.

Pe Ell schaute um sich. »Ihr könnt meinetwegen weiter rumpoltern, wenn ihr wollt. Aber ohne mich. Ich habe genug Zeit mit eurer Herde verbracht. Ich hätte von Anfang an alleine losziehen sollen, dann wäre diese Angelegenheit längst erledigt.« Er wandte sich wieder zu Quickening. »Wenn ich Uhl Belk und den schwarzen Elfenstein gefunden habe, komme ich dich holen.« Er hielt inne und schaute ihr fest in die Augen. »Falls du noch am Leben bist.«

Er stolzierte verächtlich an ihnen vorbei und verschwand. Seine Stiefel hallten dumpf aus dem Treppenhaus, dann wurde es still.

Horner Dees spuckte aus. »Den sind wir los«, murmelte er.

»Aber er hat recht«, sagte Walker Boh, und alle drehten sich zu ihm um. »In einem Punkt zumindest. Wir müssen uns in Gruppen aufteilen, wenn diese Suche Erfolg haben soll. Die Stadt ist zu groß, und wir sind zu leicht zu umgehen, wenn wir zusammenbleiben.«

»Also zwei Gruppen«, stimmte Dees zu und nickte. »Niemand darf allein losziehen.«

»Pe Ell schien sich nicht zu scheuen, allein loszugehen«, bemerkte Morgan.

»Der ist wie ein Raubtier, daran besteht kein Zweifel«, erwiderte Dees. Er sah Quickening nachdenklich an. »Was hältst du davon, Mädchen? Hat er irgendeine Chance, Belk und den Elfenstein allein zu finden?«

Aber Quickening sagte nur: »Er wird wiederkommen.«

Sie setzten sich hin, um eine Strategie auszuhecken, um die Stadt von einem Ende bis zum anderen methodisch abzusuchen. Von ihrem Unterschlupf aus erstreckte sich Eldwist vor allem nach Norden, also wurde beschlossen, die Stadt in zwei Hälften zu teilen, und daß eine Gruppe den Osten, die andere den Westen übernehmen sollte. Die Suche sollte sich auf die Häuser und die Straßen konzentrieren, nicht die Tunnel. Wenn sie überirdisch nichts fänden, würden sie weitersehen.

»Pe Ell mag sich irren, wenn er sagt, daß der Steinkönig längst wissen muß, daß wir hier sind«, sagte Quickening zum Abschluß. Sie hob ihre schlanken Finger mit der Behendigkeit eines Vogels. »Wir sind in seinen Augen unbedeutend, und er hat uns vielleicht nicht einmal bemerkt. Dafür hat er den Kratzer. Und ansonsten füllt der Malmschlund seine Zeit.«

»Wie verteilen wir uns?« fragte Carisman.

»Du kommst mit mir«, antwortete Quickening sofort, »und Walker Boh.«

Morgan war überrascht. Er hatte erwartet, daß sie ihn wählen würde. Seine Enttäuschung traf ihn tief. Er setzte an, um ihrer Entscheidung zu widersprechen, doch ihre schwarzen Augen fixierten ihn mit solcher Eindringlichkeit, daß er sofort verstummte. Welche Gründe sie auch immer für ihre Entscheidung hatte, sie wollte sie nicht in Frage gestellt sehen.

»Damit bleiben wir zwei übrig, Hochländer«, brummte Horner Dees und schlug Morgan mit seiner schweren Hand auf die Schulter. »Meinst du, wir können Pe Ell enttäuschen und mit heiler Haut davonkommen?«

Sein unerwartetes Lachen war so ansteckend, daß Morgan lächeln mußte. »Wetten, daß?« gab er zurück.

Sie sammelten ihre Habe zusammen und gingen auf die Straße hinunter. Es war düster und nebelig zwischen den Gebäuden, dicke Wolken hingen tief am Himmel. Die Luft war feucht und frostig, und ihr Atem bildete weiße Fahnen. Sie wünschten einander Glück und gingen in verschiedene Richtungen davon, Morgan und Dees nach Westen, Quickening, Walker und Carisman nach Osten.

»Paß auf dich auf, Morgan«, flüsterte Quickening. Ihr edles Gesicht lag halb im Schatten unter ihrer Silbermähne. Sie berührte ihn sanft an der Schulter und eilte dann hinter Walker Boh her.

»Wir gehen auf die Jagd, tralali, tralala!« sang Carisman fröhlich, als sie verschwanden.

Es begann zu nieseln. Morgan und Horner Dees stapften mit gesenkten Köpfen, die Umhänge fest um die Schultern gezogen, voran. Sie hatten sich darauf geeinigt, der Straße bis zum Ende zu folgen, bis zum Stadtrand, und dann der Küste entlang nach Norden zu gehen. Im Stadtkern war wenig genug zu finden gewesen, vielleicht gab es weiter draußen etwas – insbesondere, wenn die Magie des Steinkönigs gegen Wasser nichts ausrichten konnte. Sie hielten sich auf den Gehsteigen und prüften aufmerksam die finsteren Schluchten der Seitenstraßen, die sie überquerten. Regenwasser sammelte sich auf der steinernen Haut der Stadt in dunkel schimmernden Pfützen und Rinnsalen. Seevögel warteten in Spalten und Nischen den Regen ab. In den Schatten rührte sich nichts.

Im Laufe des frühen Vormittags erreichten sie den Gezeitenstrom, das Land endete mit Klippen, die tief ins Meer abfielen. Felsbrocken ragten aus den schäumenden Wellen, erodiert und zerklüftet. Wogen brachen sich an den Klippen, ihr Tosen mischte sich mit dem Heulen des Sturms. Morgan und Dees zogen sich wieder in den Schutz der äußeren Bauwerke zurück. Regen und Sprühwasser hatten sie schnell durchweicht, und sie schlotterten unter ihren nassen Kleidern. Zwei Stunden lang folgten sie der westlichen Stadtgrenze, ohne etwas zu finden. Gegen Mittag, als sie anhielten, um etwas zu essen, waren sie mürrisch und erschöpft.

»Hier draußen gibt’s nichts, Hochländer«, bemerkte Dees, während er auf einem Stück getrockneten Rindfleischs kaute – seinem letzten Stück. »Nur das Meer und den Wind und diese verfluchten Vögel, die schreien und rufen wie verrückte Weiber.«

Morgan nickte, ohne zu antworten. Er fragte sich, ob er imstande wäre, einen dieser Seevögel zu essen, wenn es sein mußte. Ihre Nahrungsreserven waren fast aufgebraucht. Bald wären sie gezwungen zu jagen. Was außer den Vögeln gab es denn? Fisch, entschied er. Die Vögel sahen zu mager und zäh aus.

»Vermißt du das Hochland?« fragte Dees ihn plötzlich.

»Manchmal.« Er dachte an seine Heimat. »Immerzu.«

»Ich auch, und ich habe es seit Jahren nicht mehr gesehen. Es ist das schönste Stück Arbeit, das die Natur je hervorgebracht hat. Ich mochte, wie ich mich dort fühlte, wenn ich dort war.«

»Carisman sagte, auch er sei gern dort gewesen. Er sagte, er liebte die Stille dort.«

»Die Stille. Ja, ich erinnere mich, wie friedlich es auf jenen Hügeln ist.« Sie hatten Schutz in einem dämmrigen Hauseingang gefunden. Der große Mann rückte von einer wachsenden Pfütze ab, wo das Wasser, das an den Wänden herunterrieselte, sich auf den Stufen sammelte, während sie mit dem Rücken an der Wand saßen und in den Regen hinausschauten.

Er beugte sich vor. »Ich will dir was sagen«, meinte er leise. »Ich kenne diesen Kerl, diesen Pe Ell.«

Morgan schaute ihn neugierig an. »Woher?«

»Von früher. Lange her. Fast zwanzig Jahre. Er war fast noch ein Kind damals; ich war schon alt.« Dees kicherte. »Und was für ein Kind. Schon damals ein Killer. Von Anfang an ein Mörder – als sei er dazu geboren und könne nie etwas anderes sein.« Er schüttelte sein ergrautes Haupt. »Ich kannte ihn. Ich wußte, daß es gefährlich war, ihm in die Quere zu kommen.«

»Und bist du das?«

»Ihm in die Quere gekommen? Ich? Nein, nicht ich. Ich weiß sehr genau, wem ich mich stelle und wem ich aus dem Weg gehe. Hab’ ich immer gewußt. Darum bin ich noch am Leben. Pe Ell gehört zu der Sorte, die, wenn sie dich mal auf dem Kieker haben, nicht nachlassen, bis du tot bist. Er läßt einfach nicht locker.« Er zeigte auf Morgan. »Eins solltest du begreifen. Ich weiß nicht, was er hier tut. Ich weiß nicht, warum das Mädchen ihn mitgenommen hat. Aber er ist für keinen von euch ein Freund. Weißt du, was er ist? Er ist ein Mörder der Föderation. Ihr bester übrigens. Er ist Felsen-Dalls Liebling.«

Morgan erstarrte. Alles Blut wich aus seinem Gesicht. »Das kann doch nicht wahr sein!«

»Kann und ist«, sagte Dees nachdrücklich, »es sei denn, es hat sich was geändert, und das bezweifle ich.«

Morgan schüttelte ungläubig den Kopf. »Woher weißt du das alles, Horner Dees?«

Horner Dees grinste ein breites, hämisches Grinsen. »Seltsame Sache das. Ich erinnere mich an ihn, auch wenn er sich nicht mehr an mich erinnert. Ich kann es in seinen Augen lesen. Er versucht zu erfahren, was es ist, das ich weiß und er nicht. Hast du nicht bemerkt, wie er mich mustert? Versucht, es rauszufinden. Ist zu lange her, nehme ich an. Er hat zu viele Menschen ermordet, hat zu viele Gesichter in seiner Vergangenheit, um sich an alle erinnern zu können. Ich habe nicht so viele Gespenster, über die ich mich sorgen muß.« Er machte eine Pause. »Die Wahrheit ist, Hochländer, daß ich selbst einer von ihnen war.«

»Einer von ihnen?« fragte Morgan leise.

Der andere stieß ein scharfes Lachen aus, das wie ein Bellen klang. »Ich war bei der Föderation! Ich habe für sie spioniert!«

Im gleichen Moment schlug Morgan Leahs Bild von Horner Dees um. Der große, bärenhafte Kerl war nicht länger ein mürrischer, alter Fährtensucher, dessen beste Zeiten hinter ihm lagen; er war nicht einmal mehr ein Freund. Morgan wich zurück und erkannte dann, daß es keine Fluchtmöglichkeit gab. Er faßte nach seinem Breitschwert.

»Hochländer!« fauchte Dees und ließ ihn erstarren. Der große Mann ballte eine Faust und entspannte sich wieder. »Wie gesagt, das ist lange her. Ich bin schon seit zwanzig Jahren nicht mehr dabei. Setz dich ruhig wieder hin. Von mir hast du nichts zu befürchten.«

Er legte die Hände mit den Handflächen nach oben auf den Schoß. »So jedenfalls habe ich das Hochland kennengelernt, ob du’s glaubst oder nicht – im Dienst der Föderation. Ich war Zwergenrebellen auf der Spur, beim Regenbogensee und beim Silberflußland. Hab’ nicht viel gefunden. Zwerge sind wie Füchse; sie verschwinden im Nu, wenn sie wissen, daß man sie jagt.« Er lächelte in unerwarteter Weise. »Hab´ mich auch nicht besonders angestrengt. War ein sinnloses Unterfangen.«

Morgan ließ den Griff seines Breitschwerts los und setzte sich wieder hin.

»Jedenfalls war ich lange genug dabei, um herauszufinden, wer Pe Ell ist«, fuhr der andere fort. Sein Blick war jetzt sorgenvoll in die Ferne gerichtet. »Damals wußte ich so ziemlich alles, was vorging. Felsen-Dall wollte mich zum Sucher machen. Kannst du dir das vorstellen? Mich? Ich hielt diesen Wolfschädelkram für Kokolores. Aber ich erfuhr von Pe Ell, während Dall mich bearbeitete. Sah ihn einmal kommen und gehen, ohne daß er es wußte. Dall sorgte dafür, daß ich es sah, denn er liebte es, einen mit Pe Ell zu beeindrucken. Es war so was wie ein Spiel zwischen den beiden, jeder versuchte, den anderen vorzuführen. Wie auch immer, ich sah ihn und hörte, was er tat. Und ein paar andere hörten auch Sachen über ihn. Jeder wußte sich von ihm fernzuhalten.«

Er seufzte. »Nicht lange danach hab’ ich mich von dem Haufen abgesetzt. Bin abgehauen, als es niemand sah, ging durch das Ostland nach Norden und wanderte herum, bis ich nach Rampling Steep kam und beschloß, dort zu leben. Fern von dem Wahnsinn im Süden, der Föderation, den Suchern, allem.«

»Allem?« wiederholte Morgan zweifelnd. »Sogar den Schattenwesen?«

Dees blinzelte. »Was weißt du über die Schattenwesen, Morgan Leah?«

Morgan lehnte sich vor. Der Wind hatte Nebel in Homers Gesicht geblasen, das feucht glänzte. Wassertropfen hingen in seinem Haar und seinem Bart. »Eins will ich vorher von dir wissen: Warum erzählst du mir das alles?«

Horner Dees Lächeln war ungewöhnlich freundlich. »Weil ich will, daß du über Pe Ell unterrichtet bist, und das kannst du nur sein, wenn du über mich Bescheid weißt. Ich mag dich, Hochländer. Du erinnerst mich ein bißchen an mich selbst, als ich dein Alter hatte – unbekümmert und dickköpfig und furchtlos. Ich will nicht, daß es Geheimnisse über mich gibt, die auf die falsche Weise ans Tageslicht kommen. Zum Beispiel, wenn Pe Ell sich erinnern sollte, wer ich bin. Ich möchte dich als Freund und Verbündeten haben. Ich traue sonst keinem der anderen.«

Morgan musterte ihn eine Weile wortlos. »Mit einem anderen würdest du vielleicht besser fahren.«

»Darauf laß’ ich’s ankommen. Nun, wie ist das also? Ich habe deine Frage beantwortet. Jetzt sag du mir, wie du von den Schattenwesen erfahren hast.«

Morgan zog die Knie vor die Brust und legte die Arme darum, während er nachdachte. »Mein bester Freund«, sagte er schließlich, »war ein Zwerg namens Steff. Er gehörte zum Widerstand. Die Frau, die er liebte, war ein Schattenwesen, und sie brachte ihn um. Dann habe ich sie getötet.«

Hornes Dees zog seine Brauen fragend in die Höhe. »Ich meinte verstanden zu haben, daß nur Magie diese Wesen töten kann.«

Morgan bückte sich und zog das zersplitterte Ende des Schwerts von Leah hervor. »In diesem Schwert war einst Magie«, erläuterte er. »Allanon selbst hat sie hineingegeben – vor dreihundert Jahren. Ich zerbrach es im Kampf mit den Schattenwesen in Tyrsis, bevor das alles losging. Dennoch war noch genug Magie übrig, um Steff zu rächen und mich selbst zu retten.« Er prüfte die Klinge nachdenklich, steckte sie in die Scheide zurück und wartete vergeblich, seine Wärme zu fühlen, dann schaute er Dees wieder an. »Vielleicht ist noch immer ein wenig davon da. Wie auch immer, das ist der Grund, warum Quickening mich mitgenommen hat. Dieses Schwert. Sie sagte, es bestünde eine Chance, daß es wiederhergestellt werde.«

Homers Dees runzelte die Stirn. »Wirst du es dann gegen Belk einsetzen?«

»Keine Ahnung«, gab Morgan zu. »Ich weiß nichts, als daß es wieder heilgemacht werden kann.« Er schob das Schwert wieder unter seine Kleider. »Versprechungen«, sagte er und seufzte.

»Sie scheint zu jenen zu gehören, die ihre Versprechen halten«, bemerkte der Alte nach einigem Nachdenken. »Magie, um Magie zu finden. Magie, um andere Magie zu übertrumpfen. Wir gegen den Steinkönig.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu kompliziert. Sorg nur dafür, daß du an das denkst, was ich dir über Pe Ell gesagt habe. Du darfst ihm nicht den Rücken kehren. Und du darfst genausowenig gegen ihn vorgehen. Überlaß das mir.«

»Dir?« rief Morgan überrascht aus.

»Genau. Mir. Oder Walker Boh. Einarmig oder nicht, er ist Pe Ell gewachsen, oder ich habe ihn völlig fehleingeschätzt. Du konzentrierst dich darauf, dafür zu sorgen, daß dem Mädchen nichts passiert.« Er machte eine Pause. »Das dürfte dir nicht schwerfallen, wenn man bedenkt, was ihr füreinander empfindet.«

Morgan errötete gegen seinen Willen. »Ich bin es vor allem, der etwas empfindet«, murmelte er verlegen.

»Sie ist das hübscheste Ding, das ich je gesehen habe«, sagte der alte Mann und lächelte über Morgans Verlegenheit. »Ich weiß nicht, was sie ist, Mensch oder Elementarwesen oder was, aber sie kann dich glatt vom Sockel zaubern. Wenn sie dich anschaut mit ihrem sanften Gesicht, und wenn sie so redet, wie sie das tut, dann bist du bereit, alles für sie zu tun. Ich kann ein Lied davon singen. Ich wollte nie wieder hierherkommen, und hier bin ich. Sie hat uns allesamt um den Finger gewickelt.«

Morgan nickte. »Sogar Pe Ell. Er ist ebenso in ihrem Bann wie wir alle.«

Doch Dees schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht so sicher, Hochländer. Schau bei der nächsten Gelegenheit mal ganz genau hin. Er ist in ihrem Bann und ist es auch nicht. Mit dem da geht sie haarscharf bis an die Grenze. Er kann sich so schnell umdrehen wie eine Katze. Darum sag’ ich dir, du sollst auf sie aufpassen. Denk daran, was er ist. Er ist nicht hier, um uns irgendeinen Gefallen zu tun. Er ist um seiner selbst willen hier. Früher oder später wird er rückfällig werden.«

»Das nehme ich auch an«, gab Morgan zu.

Dees grinste zufrieden. »Aber so ohne weiteres wird ihm das nun nicht gelingen, nicht wahr? Weil wir ihn im Auge behalten werden.«

Sie packten ihre Sachen zusammen, zogen die Umhänge gegen das Wetter fest um die Schultern und traten wieder hinaus in den Regen. Sie folgten während des Nachmittags weiterhin der Küste, erreichten die Nordspitze der Halbinsel, ohne etwas zu finden, und gingen wieder zurück in die Stadt. Der Regen hörte endlich auf, und ein feiner Nebel hing wie Rauch vor dem Grau des Himmels und der Gebäude. Die Luft wärmte sich auf. Schatten gähnten aus Seitengassen und Nischen wie erwachende Geister, und Dampf stieg vom Straßenpflaster auf.

Von irgendwo unter dem Boden tönte das Rumpeln des Malmschlunds, ein fernes Donnern, das die Erde beben ließ.

»Ich beginne langsam zu glauben, daß wir überhaupt nichts finden werden«, brummte Horner Dees irgendwann.

Sie folgten den düsteren Straßenschluchten und durchsuchten den Dunst, der über allem lag, Tore und Fenster, die offenstanden wie Mäuler, die Nahrung suchen, glatte, glänzende Wege und Durchgänge. Überall lag die Stadt verlassen und tot, bar jeglichen Lebens, voller hohler, leerer Geräusche. Sie ummauerte sie mit ihren Steinen und ihrer Stille; sie umschloß sie mit solcher Unnachgiebigkeit, daß es ihnen trotz der Erinnerungen und besseren Wissens so vorkam, als sei die ganze Welt rundum untergegangen und nur Eldwist allein übriggeblieben.

Als der Abend näherrückte, wurden sie müde; die Unveränderlichkeit ihrer Umgebung stumpfte ihre Sinne ab und nagte an ihrer Widerstandskraft. Sie fingen an, ein wenig abzuschweifen, gingen näher am Rand des Gehsteigs, schauten öfter an den Steinmauern hoch und gaben sich dem gefährlichen und bohrenden Wunsch hin, daß etwas – irgendwas – geschehen würde. Ihr Überdruß war bedenklich, das Gefühl, die Dinge um sie herum weder beeinflussen noch verändern zu können, machte sie wahnsinnig. Sie waren jetzt schon seit fast einer Woche in Eldwist. Wieviel länger würden sie noch zu bleiben gezwungen sein?

Vor ihnen endete die Straße. Sie bogen um die Ecke des Gebäudes, an dem sie entlanggingen, und entdeckten, daß die Straße sich zu einem Platz erweiterte. In der Mitte des Platzes war eine seltsame Vertiefung mit Stufen, die von allen Seiten in eine Mulde führten, aus der eine Statue emporragte, eine geflügelte Figur, an deren Leib Bänder und Fähnchen hingen. Fast ohne zu denken bogen sie auf den Platz, verleitet von dem Anblick, der so anders war als alles, was sie bislang gesehen hatten. Ein Park, dachten sie wortlos. Was hatte der hier zu suchen?

Sie hatten die Straße zur Hälfte überquert, als sie den Riegel schnappen hörten, der die Falltüre unter ihren Füßen sicherte.

Sie hatten keine Gelegenheit, sich in Sicherheit zu bringen. Sie standen in der Mitte der Tür, als sie unter ihnen nachgab, und sie stürzten ins Leere. Sie fielen lange, dann rammten sie eine steile Rinne und rutschten kopfüber weiter hinunter. Die Rinne war rauh, die Oberfläche mit lockerem Geröll übersät, das ihnen Hände und Gesicht zerschrammte. Verzweifelt versuchten sie sich, ohne die Schmerzen zu beachten, festzukrallen, um ihre Geschwindigkeit zu bremsen. Mit den Stiefeln und den Knien stemmten sie sich gegen die Rinne und suchten mit Händen und Fingern Halt. Die Rinne wurde breiter und weniger steil. Sie rutschten nicht mehr und blieben mit ausgestreckten Armen und Beinen liegen.

Morgan hob vorsichtig den Kopf und schaute sich um. Er lag mit dem Kopf nach unten auf einer Steinplatte, die zu beiden Seiten so weit in die Schatten reichte, daß er die Enden nicht sehen konnte. Lockeres Gestein bedeckte sie wie ein Teppich, und einiges kullerte noch immer hinunter. Ein schwacher Lichtschimmer von irgendwo in der Höhe versuchte vergeblich, die Finsternis zu durchdringen, und war so schwach, daß er kaum bis zu Morgan reichte. Morgan zwang sich, nach unten zu schauen. Horner Dees lag ungefähr sechs Meter weiter unten auf dem Rücken, Arme und Beine ausgestreckt, und rührte sich nicht. Noch weiter unten gähnte ein Loch von undurchdringlicher Schwärze wie ein riesiges, hungriges Maul.

Morgan schluckte gegen den Staub in seiner Kehle an. »Horner?« krächzte er mühsam.

»Hier«, klang es rauh zurück.

»Bist du heil geblieben?«

»Nichts gebrochen, glaube ich«, grunzte er.

Morgan nahm sich Zeit, die Umgebung anzuschauen. Alles, was er sehen konnte, war die Rutsche, der schwache Lichtschacht von oben und der Abgrund unten. »Kannst du dich bewegen?« rief er leise hinunter.

Eine Weile herrschte Stille, dann hörte man Geröll durchs Dunkel prasseln. »Nein«, kam die Antwort. »Ich bin zu fett und zu alt, Hochländer. Wenn ich versuche, zu dir raufzukommen, gerate ich wieder ins Rutschen, und dann kann ich nicht mehr stoppen.«

Morgan hörte die Anspannung in seiner Stimme. Dees lag hilflos auf dem lockeren Gestein wie ein Blatt auf Glasscherben; auch nur die kleinste Bewegung würde ihn ins Leere abgleiten lassen.

Und mich auch, wenn ich mich zu bewegen versuche, dachte der Hochländer düster.

Und doch mußte er es versuchen.

Er holte tief Luft und hob langsam seine Hand bis an den Mund. Eine Geröllawine polterte abwärts, doch sein Körper blieb auf der Rutschbahn liegen. Er strich sich den Dreck von den Lippen und schloß die Augen, um nachzudenken. In seinem Rucksack war ein Seil, dünn, aber stark, eine Rolle von ungefähr fünfzehn Metern. Er machte die Augen wieder auf. Würde er etwas finden, woran er es befestigen konnte, um sich daran hochzuziehen?

Ein vertrautes Rumpeln erschütterte die Erde, es kam von unten und brachte die Geröllschicht um ihn herum ins Rutschen, so daß kleine Lawinen in den Abgrund rutschten. Ein gewaltiges Keuchen und dann ein langer Seufzer, als würde eine riesige Menge Luft ausgestoßen.

Morgan äugte nach unten, eiskalt bis auf die Knochen. Sein Atem ging in kurzen, hektischen Stößen, und er mußte einen fast unbezähmbaren Drang unterdrücken, so schnell wie möglich fortzuklettern. Der Malmschlund. So nahe. Er war über jede Vorstellung hinaus riesig; der kurze Blick, den er darauf geworfen hatten, reichte, um ihm das zu sagen. Es war unmöglich abzuschätzen, wieviel davon dort unten war, wo er anfing und aufhörte und wie weit er reichte.

Morgan klammerte sich an den Fels, bis ihm die Hände schmerzten, und kämpfte gegen Angst und Übelkeit an. Er mußte hier raus! Er mußte eine Möglichkeit finden!

Fast ohne zu denken, schob er seine Hand unter den Bauch und begann, die Überreste des Schwertes von Leah herauszugraben. Es war ein langwieriger, qualvoller Prozeß, denn er konnte sich nicht aufrichten, ohne fürchten zu müssen, daß er wieder ins Rutschen käme. Und jetzt wollte er das noch weit weniger riskieren.

»Versuch nicht, dich zu bewegen, Horner!« rief er leise mit trockener, rauher Stimme. »Bleib, wo du bist!«

Es kam keine Antwort. Morgan zog das Schwert von Leah zentimeterweise aus der Scheide und unter seinem Leib hervor und brachte es auf die Höhe seines Gesichts. Die polierte Metalloberfläche der zerbrochenen Klinge glänzte im fahlen Licht hell auf. Er hob sie mit einer Hand über seinen Kopf, dann schob er vorsichtig die andere Hand hinauf, bis er den Griff fest mit beiden Händen packen konnte. Mit dem ausgezackten Ende der Klinge nach unten, begann er den Stein zu ritzen. Er spürte, wie es sich in die Steinplatte fraß.

Bitte! flehte er.

Er rammte das Schwert von Leah in den Stein und zog sich hoch. Die Klinge hielt, und er brachte sein Gesicht bis auf die Höhe des Griffs. Geröll löste sich unter ihm und kullerte und rutschte ins Leere. Der Malmschlund rührte sich nicht.

Morgan zog die Klinge heraus, hob sie hoch, rammte sie weiter oben wieder in den Stein und brachte sich mit all seiner Kraft wieder ein Stück höher. Er schloß die Augen und blieb keuchend liegen. Er fühlte, wie ihn eine Hitzewelle durchflutete. Die Magie? Schnell schlug er die Augen auf und betrachtete die Schwertklinge. Nichts.

Mit einer Hand hielt er sich fest, mit der anderen suchte er das Seil und einen Enterhaken in seinem Sack. Ein paar Kochgeräte und eine Decke kamen dabei mit heraus und rutschten ein Stück nach unten. Ohne darauf zu achten schlang der Hochländer das Seil um seine Taille und verknotete es.

»Horner!« flüsterte er.

Der alte Fährtensucher schaute auf, und Morgan warf ihm das Seilende zu. Es landete quer über seinem Leib, und er packte es mit beiden Händen. Augenblicklich geriet er ins Rutschen, bis er sich direkt unter Morgan befand. Dann straffte sich das Seil und hielt ihn auf. Der Ruck erschütterte Morgan und drohte, ihn mitzuzerren, doch er hielt sich mit beiden Händen am Schwert von Leah fest, und die Klinge hielt stand.

»Kletter zu mir rauf!« flüsterte er barsch.

Horner Dees begann, sich an dem Seil hochzuziehen, mühsam und qualvoll eine Hand über die andere setzend. Als er an den Kochgeräten und der Decke, die aus Morgans Rucksack gefallen waren, vorbeikam, stieß er dagegen, und sie polterten in einer Geröllawine weiter nach unten.

Diesmal hustete der Malmschlund und wachte auf.

Er grunzte und schnaufte, und die Töne hallten durch die Steinhöhle. Er richtete sich auf, sein enormer Leib krachte gegen die Felswände seines Schlaftunnels und ließ die Erde heftig zittern. Er rollte und streckte sich und begann sich vorwärts zu bewegen. Morgan umklammerte den Griff seines Schwerts. Dees hing an dem dünnen Seil, und beide bissen die Zähne gegen die gewaltige Belastung ihrer Muskeln und Knochen zusammen. Der Malmschlund schüttelte sich, und der Fährtensucher und der Hochländer konnten ein spritzendes Geräusch hören und dann das Zischen von Dampf.

Der Malmschlund glitt in die Dunkelheit davon, und der Krach, den er verursachte, entfernte sich. Morgan und Dees schauten vorsichtig nach unten.

In dem fahlen Lichtschimmer war ein merkwürdiger grünlicher Fleck zu erkennen, der mehrere Meter unterhalb von Dees vom unteren Ende der Steinrutsche heraufwuchs. Er glitzerte dunkel und qualmte wie ein Buschfeuer. Sie beobachteten, wie er die Decke erreichte, die aus Morgans Rucksack gefallen war. Als er sie berührte, verwandelte sich die grobe Wolle augenblicklich in Stein.

Horner Dees fing sofort in wilder Hast an, auf dem losen Geröll der Rutsche weiter nach oben zu klettern. Als er beinahe auf Morgans Höhe angekommen war, stoppte ihn der Hochländer, ließ ihn das Seil lockern und begann seinerseits wieder die Schwertklinge in den Fels zu rammen, sich daran hochzuziehen – einrammen, hochziehen, einrammen, hochziehen, wieder und wieder.

So fuhren sie während einer endlos erscheinenden Weile fort. Das Tageslicht winkte ihnen, lockte sie wie ein Leuchtturm an die Oberfläche der Stadt in Sicherheit. Schweiß rann Morgan über Gesicht und Leib, und bald war er völlig durchnäßt. Sein Atem ging schwer, und sein ganzer Körper schmerzte. Es wurde so schlimm, daß er dachte, er müsse aufgeben. Aber er durfte nicht aufgeben. Unten rückte der schleimige Fleck immer weiter vor, das Gift, das der Malmschlund ausgeschieden hatte und das alles auf seinem Weg versteinerte. Zuerst die Wolldecke, dann die Küchengeräte, die hinuntergefallen waren. Bald waren nur noch Morgan und Horner Dees übrig.

Und es rückte immer näher.

Sie kämpften sich weiter, hievten sich Stückchen für Stückchen hinauf. Morgans Bewußtsein verschloß sich gegen alles Denken, wie mit einem eisernen Deckel eine Truhe voll unnützen Plunders, und seine ganze Anstrengung konzentrierte sich auf den Aufstieg. Während er arbeitete, fühlte er noch einmal, wie die Hitze ihn durchflutete, stärker diesmal, beharrlicher. Er fühlte, wie sie sich in seinem Inneren drehte wie ein Bohrer, sich im Kern seines Seins drillte und drehte. Es reichte vom Kopf zu den Füßen und wieder zurück, von den Fingern bis zu den Zehenspitzen, durch Muskeln und Knochen und Blut, bis er nichts anderes mehr wußte. Irgendwann – er wußte nicht mehr genau, wann es war – sah er das Schwert von Leah an, und es leuchtete so hell wie der Tag, das weiße Feuer der Magie glühte durch die Schatten. Sie ist noch da, dachte er in wilder Entschlossenheit. Sie ist noch mein!

Und dann war da plötzlich eine Leiter, Sprossen ragten aus der Wand der Rutsche über ihm, führten aus der Dunkelheit ihrer Falle in das schwächer werdende Tageslicht der Stadt. Das Licht, das er sah, drang durch einen schmalen Luftschacht. Er strampelte darauf zu, einrammen, hochzerren, loslassen, wieder und wieder. Er hörte, wie Horner von unten her nach ihm rief, seine rauhe Stimme klang fast wie ein Schluchzen. Er schaute lange genug nach unten, um zu sehen, daß das Gift des Malmschlundes bis auf wenige Zentimeter zu den Stiefeln des alten Fährtensuchers herangekrochen war. Impulsiv faßte er mit einer Hand das Seil, und mit einer Kraft, von der er nicht wußte, daß er sie besaß, zog er Horner Dees an dem Seil herauf. Der andere strampelte auf ihn zu, sein bärtiges Gesicht unter einer Maske aus Schweiß und Staub. Morgan ließ das Seil los und packte die unterste Sprosse der Leiter. Dees kletterte weiter, indem er seine Stiefel in das lose Geröll grub. Das Tageslicht schwand jetzt schnell, war schon grau geworden, wich schon der Dunkelheit. In der Tiefe erschütterte das Brüllen des Malmschlunds die Erde.

Dann waren sie beide auf der Leiter, strampelten sich mit Händen und Füßen hinauf, die Leiber dicht an den Stein gepreßt. Morgan steckte das Schwert von Leah wieder sicher in seine Scheide. Nach wie vor magisch!

Sie brachen aus dem Lichtschacht auf die Straße und sackten erschöpft auf den Gehsteig. Gemeinsam krochen sie in den Eingang des nächststehenden Hauses und brachen in dem kühlen Schatten zusammen.

»Ich wußte … ich hatte recht … als ich dich zum Freund wollte«, keuchte Horner Dees.

Er streckte die Hand aus, dieser bärenstarke Mann, und zog den Hochländer an sich. Morgan Leah konnte fühlen, wie er zitterte.

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