25

Schatten umfingen sie fast augenblicklich, Schichten von Finsternis, die wenige Meter innerhalb der Kuppel begannen und alles, was jenseits lag, vollständig umhüllten. Unter Walkers Führung wurden sie langsamer, warteten, daß ihre Augen sich gewöhnten, und lauschten dem hohlen Echo ihrer Schritte, das in der Ferne verklang. Dann blieb nur noch das Geräusch ihres Atems. Hinter ihnen bildete das fahle, graue Tageslicht einen dünnen Faden, der sie mit der Außenwelt verband, und kurz darauf war auch er zerrissen. Wieder schabte Stein auf Stein, und die Öffnung, die ihnen den Eintritt erlaubt hatte, verschloß sich wieder. Niemand rührte sich, um es zu verhindern; sie hatten es in der Tat alle drei erwartet. In der darauffolgenden Stille standen sie zusammen, jeder der beruhigenden Gegenwart der anderen gewahr, jeder bemüht, irgendein Geräusch zu vernehmen, das eine Bewegung verraten hätte, jeder wartend, daß ein Mindestmaß an Sicht zurückkam. Das Gefühl von Leere war absolut. Das Innere der Kuppel fühlte sich an wie ein gigantisches Grab, in dem sich seit Jahrhunderten nichts Lebendes mehr bewegt hatte. Die Luft roch abgestanden und modrig ohne irgendwelche vertrauten Gerüche, und es war kalt, ein eisiger Frost, der durch Mund und Nase drang und sich sofort bis in die Magengrube fortsetzte und dort blieb. Sie begannen fast augenblicklich zu zittern. Selbst in der undurchdringlichen Finsternis kam es Walker Boh vor, als könne er die Wolken seines Atems sehen.

Die Sekunden verstrichen, Herzschläge in der ungebrochenen Stille. Die drei Gefährten wartete geduldig. Irgend etwas würde geschehen. Irgendwer würde erscheinen, es sei denn, sie seien in die Kuppel gelockt worden, um getötet zu werden, spekulierte Walker in der Stille seiner Gedanken. Aber er glaubte nicht, daß das der Fall sei. Nein, er glaubte nicht mehr wie zu Beginn, daß irgendeine Anstrengung gemacht würde, sie zu eliminieren. Der Charakter ihrer Beziehung zu Eldwist legte bei näherer Betrachtung nahe, daß die Stadt sich auf unpersönliche Weise von Eindringlingen befreite, doch daß sie keine besonderen Anstrengungen machte, falls das nicht sofort klappte. Eldwist verließ sich nicht auf Geschwindigkeit, es baute auf das Gesetz der Wahrscheinlichkeit. Früher oder später würden Eindringlinge einen Fehler machen. Sie würden unvorsichtig werden, und entweder die Falltüren oder der Kratzer würde sie erledigen. Walker war zu wetten bereit, daß Quickening mit ihrer Annahme, der Steinkönig sei sich ihrer Anwesenheit in der Stadt nicht einmal bewußt gewesen, recht gehabt hatte – und selbst wenn er es gewußt hatte, so hatte er sich nicht darum geschert. Erst als Walker Magie gegen die Mauern seiner Behausung eingesetzt hatte, hatte er sich aufgerafft. Nicht einmal das Einsetzen von Magie gegen den Kratzer hatte ihn interessiert. Aber nun, glaubte Walker, war er neugierig geworden, und das war der Grund, warum sie hereingelassen worden waren..

Walker riß sich zusammen. Ihm war etwas entgangen. Nichts würde geschehen, wenn sie einfach nur dort in der Finsternis stehenblieben, nichts, wenn sie den ganzen Tag und auch den nächsten einfach nur warteten. Der Steinkönig hatte sie aus einem bestimmten Grund hereingelassen. Er hatte sie eingelassen, um zu sehen, was sie tun würden.

Oder vielleicht auch, was sie tun konnten.

Er streckte seinen Arm aus und faßte erst Morgan und dann Quickening an und beugte ihre Köpfe sanft an seinen eigenen. »Was immer geschieht, Quickening«, flüsterte er dem Mädchen zu, so leise, daß seine Stimme fast nicht zu hören war. »Denk daran, daß du geschworen hast, nichts zu tun, das erkennen lassen könnte, daß du über irgendwelche Magie verfügst.«

Dann ließ er sie los, trat zur Seite, hob die Hand, schnippte mit den Fingern und ließ eine silberne Flamme aufleuchten.

Sie schauten sich um. Sie befanden sich in einem Gang, der ein kleines Stück weit zu einer Öffnung führte. Die Flamme in die Höhe haltend, führte Walker sie voran. Als sie das Ende des Ganges erreichten, löschte er die Flamme, rief seine Magie ein zweites Mal an und sandte ein silbriges Feuerwerk in die Finsternis.

Walker atmete heftig ein. Der Lichterregen sprühte ins Unbekannte, brannte durch die Schatten, jagte sie vor sich her und stieg in die Höhe, bis alles rundum erhellt war. Sie standen am Eingang zu einer weitläufigen Rotunde, einer Arena, von Reihe über Reihe von Sitzen umgeben, die sich nach oben ins Dunkel fortsetzten. Die Decke der Kuppel wölbte sich über ihren Köpfen, ihre steinernen Sparren bogen sich von ihrem Scheitel hinauf, und ein Geländer umfaßte die Arena. Die Arena und die Ränge waren wie die Sparren aus Stein, alt und abgenutzt von der Zeit, hart und glatt vor der Dunkelheit, die sie einhüllte. Mehrere Gänge, ähnlich dem, durch den sie gekommen waren, öffneten sich zwischen den Rängen, schwarze Löcher, die ins Schwarze führten.

Genau in der Mitte der Arena stand eine steinerne Statue, ein in Gedanken versunkener Mann, roh gehauen und kaum als solcher erkennbar.

Walker wartete ab, bis das Licht sich niedergelassen hatte und alles aufhellte. Die Kuppel war weit und leer, still, abgesehen von ihren Schritten, scheinbar ohne jegliches Leben außer dem ihren. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Morgan vorwärtsstürmen wollte, und er streckte eilig die Hand aus, um ihn zurückzuhalten. Quickening trat hinzu und faßte den Hochländer schützend am Arm. Walker ließ seinen Blick durch die Arena gleiten, über die schwarzen Tunnellöcher, die Ränge, die sie umrahmten, die Sparren und die Kuppeldecke und dann wieder die Arena. Als er wieder bei der Statue angekommen war, hielt er still. Nichts rührte sich. Doch etwas war da. Er konnte es fühlen, stärker als vorher, die gleiche Präsenz, die er wahrgenommen hatte, als sie noch draußen waren.

Langsam und vorsichtig trat er vor. Morgan und Quickening folgten ihm. Er hatte im Augenblick das Kommando, und Quickenings Unterwerfung war irgendwie ein Eingeständnis ihrer Not. Sie durfte ihre Magie nicht einsetzen. Sie mußte sich auf ihn verlassen. Er empfand eine ungeahnte Willenskraft aufgrund der Tatsache, daß sie sich von ihm abhängig gemacht hatte. Da war jetzt keine Zeit für ein Abgleiten, für Selbstzweifel oder für die Ungewißheit, wer oder was er zu sein bestimmt war. Eine wilde Entschlußkraft loderte in ihm auf. Es war besser so, erkannte er, besser, das Kommando zu haben, die Verantwortung für das zu tragen, was geschehen würde. So war es immer gewesen. Und in diesem Augenblick erkannte er zum ersten Mal in seinem Leben, daß es auch immer so sein würde.

Die Statue ragte direkt über ihnen in die Höhe, ein massiver Steinblock, der dem Licht, das Walker heraufbeschworen hatte, um die Dunkelheit zu vertreiben, zu trotzen schien. Der Denker war von ihnen abgewandt, eine knorrige, plumpe Gestalt, halb kniend, halb sitzend, einen Arm über den Bauch gelegt, der andere war zu einer Faust geballt und stützte das Kinn. Es mochte die Absicht bestanden haben, daß er einen Umhang übergeworfen hatte, oder er mochte einfach von Haaren bedeckt sein; es war unmöglich, es zu unterscheiden. Es gab keine Inschrift auf dem Sockel, auf dem er ruhte; überhaupt war es ein seltsamer Sockel, der mit den Beinen der Statue verbunden war, als sei der Stein vor langer Zeit einfach zusammengeschmolzen.

Sie erreichten die Statue und begannen, sie zu umkreisen. Das Gesicht kam langsam in Sicht. Es war das Gesicht eines Monsters, verwüstet und zernarbt, eine Masse aus Knoten und Wucherungen, völlig mißgestaltet wie eine halbvollendete und dann aufgegebene Skulptur. Steinerne Augen glotzten starr unter grimmigen Brauen hervor. Grauen stand in dem Ausdruck des Monsters geschrieben; Dämonen waren in seinen Zügen gefangen, die sich nie mehr entfernen ließen. Walker wandte sich unbehaglich ab und spähte prüfend in die Schatten der Kuppel. Stille blinzelte ihm entgegen.

Plötzlich blieb Quickening stehen, erstarrte auf der Stelle wie ein erschrecktes Reh. »Walker«, hauchte sie leise.

Sie schaute zu der Statue hinauf. Walker schnellte herum wie eine Katze und folgte ihrem Blick.

Die Augen der Statue hatten sich ihm zugewandt und fixierten ihn.

Er hörte das metallene Geräusch von Morgans Klinge, als sie aus der Scheide glitt.

Der ungestalte Kopf der Statue begann sich zu bewegen, der Stein knirschte gespenstisch, er brach nicht und splitterte auch nicht, sondern gestaltete sich um, als wäre er gleichzeitig fest und flüssig. Das Knirschen hallte durch die hohle Schale der Kuppel wie das Donnern von Felsbrocken in einer Lawine. Die Arme bewegten sich, dann die Schultern. Der Torso schwenkte herum, der Stein knirschte und malmte, bis Walker die Härchen im Nacken steil zu Berge standen.

Dann begann er zu sprechen. Der Mund öffnete sich, und Stein rieb auf Stein.

– Wer seid ihr –

Walker antwortete nicht. So erstaunt war er über das, was er sah, daß er keine Antwort zustande brachte. Er stand nur völlig verblüfft da. Die Statue lebte, ein steinernes Ding, grauenvoll gestaltet von der Hand eines Wahnsinnigen, bar jeglichen Fleisches und ohne Blut, und dennoch irgendwie lebendig.

Im nächsten Moment begriff er, wen er vor sich hatte, und selbst dann brachte er den Namen der Kreatur nicht über die Lippen. Es war Quickening, die das Wort ergriff.

»Uhl Belk«, flüsterte sie.

– Wer bist du –

Quickening trat vor und sah winzig und unbedeutend aus im Schatten des Steinkönigs, ihr Silberhaar nach hinten gestrichen.

»Ich heiße Quickening«, gab sie zur Antwort. Ihre Stimme, erstaunlich stark und ruhig, hallte durch die Stille. »Und dies sind meine Gefährten Walker Boh und Morgan Leah. Wir sind nach Eldwist gekommen, um dich zu bitten, den schwarzen Elfenstein zurückzugeben.«

Der Kopf drehte sich leicht, der Stein knirschte und malmte.

– Der schwarze Elfenstein ist mein Eigentum –

Es entstand eine lange Pause, ehe der Steinkönig wieder sprach.

– Wer bist du –


»Ich bin niemand.«

– Verfügst du über Magie gegen mich –

»Nein.«

– Und die anderen. Haben sie Magie –

»Nur ein wenig. Morgan Leah besaß einst ein Schwert, das ihm die Druiden gegeben hatten und das die Magie des Hadeshorns enthielt. Doch es ist zerbrochen, die Klinge zersplittert und die Magie verloren. Walker Boh besaß einst die Magie, die er von seinen Vorfahren ererbt hatte, von den Elfen aus dem Hause Shannara. Doch er verlor den größten Teil dieser Magie, als er Schaden an seinem Arm und an seinem Geist erlitt. Er muß sie erst wiedergewinnen. Nein, sie verfügen über keine Magie, die dir Schaden zufügen könnte.«

Walker Boh war so erstaunt, daß er kaum zu glauben wagte, was er da hörte. In wenigen Sekunden hatte Quickening sie vollständig bloßgestellt. Sie hatte nicht nur offenbart, mit welcher Absicht sie hierhergekommen waren, sondern auch, daß sie jeglicher Möglichkeit entbehrten, den Stein gewaltsam in ihren Besitz zu bekommen. Sie hatte eingestanden, daß sie gegenüber dieser Geisterkreatur absolut machtlos waren, daß sie nicht imstande waren, ihn zu zwingen, ihrem Begehren nachzugeben. Sie hatte sogar jeglicher Möglichkeit zu bluffen einen Riegel vorgeschoben. Was dachte sie sich eigentlich dabei? Uhl Belk stellte sich offenbar die gleiche Frage.

– Ich soll den schwarzen Elfenstein hergeben, nur weil du mich darum bittest, soll ihn drei Sterblichen mit begrenzter Lebenserwartung überlassen, einem Mädchen ohne Magie, einem Einarmigen und einem Fechter mit einer zerbrochenen Klinge –

»Es muß sein, Uhl Belk.«

– Ich bestimme im Königreich von Eldwist, was sein muß; ich bin das Gesetz und die Macht, die das Gesetz durchsetzt; es gibt kein anderes Recht als meines und daher auch kein Muß als meines; wer würde es wagen, mir zu widersprechen; keiner von euch; ihr seid so unbedeutend wie der Staub, der über meine Haut weht und ins Meer gespült wird –

Er machte eine Pause.

– Der schwarze Elfenstein gehört mir –

Quickening antwortete diesmal nicht, sondern starrte nur in die vernarbten Augen des Steinkönigs. Uhl Belks massige Gestalt bewegte sich wieder, verschob sich, als sei er von Treibsand bedrängt, der Stein knirschte standhaft, ein Rad der Zeit und der Gewißheit mit einer Haut aus Dauer.

– Du –

Er zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Walker.

– Der Asphinx hat ein Stück von dir genommen; ich kann seinen Gestank an deinem Körper riechen; trotzdem lebst du irgendwie noch; bist du ein Druide –

»Nein«, widersprach Quickening sofort. »Er ist ein Bote der Druiden, hergesandt, den schwarzen Elfenstein zurückzuholen. Seine Elfenmagie rettete ihn vor dem Gift des Asphinx. Sein Anspruch auf den Elfenstein ist rechtmäßig, er wurde ihm von den Druiden verliehen.«

– Die Druiden sind alle tot –

Wieder sagte Quickening nichts, wartete auf den Steinkönig, stand furchtlos unter ihm. Eine plötzliche Bewegung seines Armes, und sie wäre zermalmt worden. Sie schien unbekümmert. Walker warf einen schnellen Blick auf Morgan, doch die Augen des Hochländers waren auf das Gesicht von Uhl Belk gerichtet, gebannt von seiner Häßlichkeit, hypnotisiert von der Gewalt, die er dort sah. Er fragte sich, was man von ihm erwartete. Irgendwas? Er fragte sich plötzlich, was er hier überhaupt zu suchen hatte.

Dann sprach der Steinkönig wieder, ein träges Raspeln in der Stille.

– Ich lebe schon immer, und ich werde leben, wenn ihr längst zu Staub zerfallen seid; ich wurde erschaffen von dem Wort, und ich habe alle jene überlebt, denen mit mir zusammen das Leben gegeben wurde, bis auf einen, und auch der wird bald gegangen sein; ich schere mich kein bißchen um die Welt, in der ich existiere, außer um die Erhaltung dessen, was mir als Domäne zugeteilt wurde – ewiger Stein. Es ist der Stein, der allem trotzt, der unwandelbar und beständig ist und daher so nahe der Vollendung wie Leben nur sein kann; ich bin der Steinmetz der Welt und der Architekt dessen, was sein wird; ich setze alle nötigen Mittel ein, um dafür zu sorgen, daß meine Aufgabe erfüllt wird; daher nahm ich den schwarzen Elfenstein und machte ihn zu meinem Eigentum –

Die Kuppel hallte von seinen Worten wider, und dann verklang das Echo, und es wurde still. Die Schatten wuchsen schon. Walkers Licht begann langsam zu verlöschen. Walker fühlte die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens. Morgans Schwertarm hing schlaff an seiner Seite; was hatte es für einen Sinn, mit einer eisernen Waffe gegen etwas so Uraltes und Unwandelbares angehen zu wollen? Nur Quickening schien zu glauben, daß es noch irgendwelche Hoffnung gab.

– Die Druiden waren nichts im Vergleich zu mir; ihre Vorsichtsmaßnahmen, ihre Magie zu verstecken und zu schützen, waren sinnlos; ich hinterließ den Asphinx, um meiner Verachtung für ihre Absichten Ausdruck zu verleihen; sie glaubten an die Gesetze von Natur und Evolution, törichte Überbringer des Glaubens an Wandel; sie starben und hinterließen gar nichts; Stein ist das einzige Element des Körpers der Erde, das überdauert, und ich werde in diesem Stein bis in alle Ewigkeit leben –

»Beständig«, flüsterte Quickening.

– Ja –

»Ewig.«

– Ja –

»Doch wie steht es mit deinem Auftrag, Uhl Belk? Was ist damit? Du hast das zu sein verachtet, als was du erschaffen wurdest – eine ausgleichende Kraft, ein Erhalter der Welt, so wie sie erschaffen wurde.« Ihre Stimme war leise und eindringlich, webte ein Netz aus Bildern, die in der toten Luft vor ihr Gestalt anzunehmen und zu schimmern schienen. »Man hat mir deine Geschichte erzählt. Dir wurde das Leben gegeben, damit du Leben beschützt; das war der Auftrag, den das Wort dir gab. Stein bewahrt nichts Lebendes. Dir war nicht aufgetragen zu transformieren, dennoch hast du eigenmächtig alles umgestürzt, hast Lebendiges in Stein verwandelt – dies alles, um eine Ausweitung dessen zu schaffen, was und wer du bist. Und schau, was das aus dir gemacht hat.«

Sie wappnete sich gegen den Zorn, der sich schon auf der Stirn des Steinkönigs ankündigte. »Gib den schwarzen Elfenstein wieder her, Uhl Belk. Laß uns dir helfen, wieder frei zu werden.«

Die gewaltige Steinkreatur bewegte sich auf seinem Felsenlager, seine Gelenke knirschten, die Geräusche krachten durch die Arena, als antwortete eine unsichtbare Zuschauermenge. Uhl Belk sprach mit einem neuen, furchteinflößenden Unterton.

– Du bist mehr, als du zu sein vorgibst; ich lasse mich nicht täuschen; doch es spielt keine Rolle; mir ist egal, wer oder was du bist oder was du willst; ich habe dich vorgelassen, um dich zu prüfen; die Magie, mit der du mich angerührt hast, machte mich aufmerksam und neugierig, wer du sein mochtest; aber ich brauche nichts von dir; ich brauche nichts von irgendeinem lebendigen Ding; ich bin vollständig; stelle mich dir als das Land vor, auf dem du gehst, und dich selbst als den winzigsten aller Flöhe, der auf mir lebt; wenn du lästig wirst, werde ich dich auf der Stelle eliminieren; wenn du den heutigen Tag überlebst, so wirst du voraussichtlich den nächsten nicht überleben –

Er runzelte die gewaltige Stirn, und sein knotiges Gesicht formte neue Kluften und Falten.

– Was bin ich, wenn nicht die Gesamtheit deiner Existenz; schau um dich, und ich bin alles, was du siehst; schau, wo auch immer in Eldwist du stehst, und ich bin alles, was du berührst; ich habe mich selbst so gemacht; ich habe mich eins gemacht mit dem Land, das ich erschaffe; ich bin frei von allem anderen und werde es immer sein –

Plötzlich ging Walker Boh ein Licht auf. Uhl Belk war kein Lebewesen im üblichen Sinne. Er war nicht einmal ein Geist wie der König vom Silberfluß. Uhl Belk war mehr als die Statue, die vor ihnen kauerte. Er war alles, auf dem sie gingen; er war das gesamte Königreich von Eldwist. Der Stein war seine Haut, hatte er gesagt – ein Stück seines lebendigen Ichs. Er hatte einen Weg gefunden, sich selbst in alles, was er erschuf, einzuflößen, und damit eine Beständigkeit zu gewährleisten, die ihm nichts anderes bieten konnte.

Doch das hieß gleichzeitig, daß er ein Gefangener war. Deshalb war er nicht aufgestanden, um sie zu begrüßen oder sie zu jagen oder in irgendeiner Weise selbst in das, was sie taten, einzugreifen. Das war der Grund, warum seine Beine tief in den Stein gesunken waren. Er war jenseits von Bewegung. Bewegung war etwas für niedere Geschöpfe. Er hatte sich zu etwas Großartigem entwickelt; er war seine eigene Welt geworden. Und die hielt ihn gefangen.

»Aber du bist nicht frei, oder?« fragte Quickening mutig. »Wenn du frei wärest, würdest du uns den schwarzen Elfenstein geben, denn dann würdest du ihn nicht wirklich brauchen.« Ihre Stimme war hart und beharrlich. »Aber das kannst du nicht riskieren, Uhl Belk, nicht wahr? Du brauchst den schwarzen Elfenstein, um am Leben zu bleiben. Ohne ihn würde der Malmschlund dich kriegen.«

– Nein –

»Ohne ihn würde der Malmschlund dich zerstören.«

– Nein –

»Ohne ihn …«

– Nein –

Eine steinerne Faust krachte nieder, haarscharf an dem Mädchen vorbei, zerschmetterte den Boden neben ihr und ließ ausgezackte Risse hundert Meter weit in alle Richtungen entstehen. Der Steinkönig bebte.

»Der Malmschlund ist dein Kind, Uhl Belk«, fuhr Quickening fort, aufrecht vor ihm stehend, als sei sie diejenige, die die Größe und die Macht hatte, und nicht der Steinkönig. »Aber dein Kind gehorcht dir nicht.«

– Du weißt gar nichts; der Malmschlund ist eine Ausdehnung meiner selbst wie alles in Eldwist; er hat kein Leben außer dem, welches ich ihm gebe; er dient meinen Absichten und keinen anderen, indem er das angrenzende Land und alles, was darauf wächst, in Stein verwandelt, die Beständigkeit meiner selbst –

Die schwarzen Augen des Mädchens glänzten. »Und der schwarze Elfenstein?«

In der Stimme des Steinkönigs schwang eine seltsame Mischung von Gefühlen mit, die sich nicht identifizieren lassen wollten.

– Der schwarze Elfenstein ermöglicht –

Das riesige Maul schloß sich knirschend, und der Steinkönig kauerte sich zusammen, faltete die Gliedmaßen um den Leib, als würden sie zu einem einzigen Felsblock.

»Ermöglicht?« hauchte Quickening leise.

Die toten, leeren Augen hoben sich.

– Schau –

Das Wort klang wie ein Splittern von des Steinkönigs Seele. Fels knirschte und malmte wieder, und die Kuppelwand hinter ihnen teilte sich. Graues, diesiges Tageslicht drang herein, als flüchte es vor dem gleichförmigen Regenvorhang, der draußen niederging. Wolken und Nebel trieben vorbei, wanden und schlängelten sich um die Gebäude, die sich im Hintergrund auftürmten, umhüllten sie wie eine Versammlung erstarrter Riesen, die geduldig Wache hielten. Ein grauenvoller Klagelaut drang aus dem Mund des Steinkönigs und füllte die Leere der Stadt mit dem Klang eines Blechs, das im Wind vibriert. Er stieg an und verklang schnell, doch sein Echo schien nie mehr aufhören zu wollen.

– Schau –

Sie hörten den Malmschlund, ehe sie ihn sahen. Sein Kommen kündigte sich mit einem Rumpeln tief unter den Straßen der Stadt an und wurde stetig lauter, je näher die Kreatur rückte, ein dumpfes Grollen, das sich zu wildem Getöse steigerte, alles erschütterte und die drei aus Rampling Steep in die Knie zwang. Der Malmschlund brach durch den Stein – Uhl Belks Haut – stieß direkt vor der der Kuppel ein riesiges Loch in den Boden, und sie starrten mit weit aufgerissenen Augen fassungslos durch die Öffnung. Sie sahen, wie der Steinkönig vor Schmerz zusammenzuckte. Der Malmschlund stieg auf, ein Koloß von ungeheuren Ausmaßen, der sogar die Gebäude spielzeugklein erscheinen ließ, wand sich wie eine Schlange, eine widerwärtige Kreuzung zwischen einem Regenwurm und einer Giftschlange, schleimige Flüssigkeit quoll aus seinem pechschwarzen, steinverkrusteten Leib, ohne Augen, ohne Kopf, sein Maul ein Saugschlund, der zuerst den Regen und dann auch die Luft zu trinken schien. Er füllte die Kuppelöffnung wie eine finstere Woge, die alles zu überrollen drohte.

Walker Boh überlief es eiskalt in fassungslosem Entsetzen. Der Malmschlund war nicht real; es war unmöglich, sich ein solches Wesen überhaupt auch nur auszudenken. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er fortrennen. Er sah Morgan Leah zurücktaumeln und auf die Knie fallen. Er sah Quickening erstarren. Er fühlte, wie seine eigene Kraft ihn verließ, und konnte sich kaum aufrechthalten. Der Malmschlund krümmte sich vor dem Himmel, eine riesige, rückgratlose, schwarze, schleimige Masse, der nichts standhalten konnte.

Doch der Steinkönig schwankte nicht. Er hob eine knotige Faust, die, mit der er sein Kinn gestützt und damit den Eindruck einer Statue vermittelt hatte, und langsam öffneten sich die Finger. Licht sprang hervor – doch es war ein Licht, wie es keiner von ihnen je gesehen hatte. Es strahlte zunächst in alle Richtungen, doch es erhellte nicht wie gewöhnliches Licht, sondern ließ alles, was es berührte, dunkel werden.

Das ist kein Licht, stellte Walker Boh fest und kämpfte gegen die Flut von Empfindungen an, die ihn zu überwältigen drohten. Das ist das Fehlen von Licht! Dann spreizte der Steinkönig die Finger weit, und sie konnten sehen, was er in der Hand hielt. Es war ein perfekt geformter Edelstein, so schwarz und undurchdringlich wie die Nacht. Der Stein glitzerte mit den dünnen Strahlen des sich darin spiegelnden, grauen Tageslichts und ließ auch nicht die mindeste Spur davon ins Innere dringen. Er sah winzig aus in Uhl Belks gewaltiger Steinhand, doch die Dunkelheit, die er ausstrahlte, reichte bis in die hintersten Ecken der Kuppel, in ihre verborgensten Winkel, und umhüllte die Gesamtheit des von Walker ausgesandten Leuchtens, so daß innerhalb von Sekunden das einzige Licht durch den Spalt in der steinernen Haut der Kuppel einfiel.

Walker Boh fühlte, wie seine eigene Magie sich in ihm erkennend rührte.

Sie hatten den schwarzen Elfenstein gefunden.

Da stieß Uhl Belk einen Schrei aus, der sogar das Getöse des Malmschlunds, von Wind und Regen und Ozeanbrechern übertönte, und er streckte den schwarzen Elfenstein vor sich. Die Schwärze sammelte sich und bündelte sich zu einem einzigen Strahl, der hervorschoß und den Malmschlund traf. Der Malmschlund wehrte sich nicht. Er hing einfach dort. Wie festgenagelt. Ein Schaudern durchlief ihn – schmerzhaft und lustvoll gleichzeitig, geschüttelt von Gefühlen, die die Menschen, die vor ihm kauerten, nur ahnen konnten. Er wand sich, und die Schwärze wirbelte zur Antwort. Die Schwärze breitete sich aus, weitete sich, flutete über und wieder zurück, bis sie auch den Steinkönig umhüllte. Sie konnten ihn aufstöhnen hören, dann schluchzen, wieder mit Gefühlen, die in verschleierter Weise gemischt waren, nicht klar definiert und auch nicht so gedacht. Die Magie des Elfensteins vereinte sie, Vater und Sohn, jeder ein Monster, verbunden durch ein substanzloses Schloß, das sie fester verband als eine eiserne Kette.

Was geht vor? fragte sich Walker Boh. Was macht die Magie mit ihnen?

Dann schwand das Nichtlicht; wie ein Schattenstreifen, der verklang, löste es sich langsam wie ein Tintenklecks, der durch ein weißes Netz sickert, bis das Tageslicht wiederkehrte und die Verbindung zwischen dem Steinkönig und dem Malmschlund verschwunden war. Der Malmschlund versank, triefte in die Erde zurück. Das Loch, das er gestoßen hatte, verschloß sich wieder hinter ihm, der Stein rückte an seinen Platz zurück, glatt und hart wie zuvor, und hinterließ die Straße so intakt, als sei nichts geschehen. Der Regen spülte sämtliche Spuren der Kreatur, den grünlichen Giftschleim, den sein Körper ausgeschieden hatte, davon.

Uhl Belks Finger schlossen sich wieder um den schwarzen Elfenstein, seine Augenlider schlossen sich, und sein Gesicht hatte sich in einer Weise verändert, die Walker nicht zu beschreiben in der Lage war, als hätte er es irgendwie neugemacht, neu geschaffen. Er sah noch furchteinflößender aus als zuvor, seine Züge noch weniger menschlich, noch mehr ein Teil des Felsgesteins, das ihn umgab. Er zog den Elfenstein zurück und drückte ihn fest an seinen Leib. Seine Stimme donnerte.

– Seht ihr –

Sie sahen es nicht. Nicht einmal Quickening. Die Verwirrung in ihren dunklen Augen war offenkundig. Schweigend standen sie alle drei vor dem Steinkönig und fühlten sich winzig und unsicher.

»Was ist dir widerfahren, Uhl Belk?« fragte das Mädchen schließlich.

Regen prasselte hernieder, der Wind fegte durch die Kuppelöffnung.

– Geht –

Der gigantische, zerklüftete Schädel begann sich abzuwenden. Der Stein knirschte bedrohlich.

»Du mußt uns den schwarzen Elfenstein geben!« rief Quickening.

– Der schwarze Elfenstein gehört mir –

»Die Schattenwesen werden ihn dir nehmen – wie du ihn den Druiden genommen hast!«

Uhl Belks Stimme klang müde und desinteressiert.

– Die Schattenwesen sind Kinder; ihr seid alle Kinder, ihr geht mich nichts an; nichts, was ihr tut, kann mir schaden oder mich berühren; schaut mich an; ich bin so alt wie die Welt, und ich werde so lange überdauern wie sie; ihr werdet mit dem Zwinkern eines Auges nicht mehr sein; verlaßt meine Stadt; wenn ihr bleibt, wenn ihr wieder herkommt, wenn ihr mich in irgendeiner Weise stört, rufe ich den Kratzer, um euch zu beseitigen, und ihr werdet auf der Stelle weggefegt –

Der Fußboden unter ihnen begann zu beben, ein Rütteln, das sie rücklings zu der Öffnung in der Mauer stolpern ließ. Der Steinkönig hatte gezuckt, wie ein Tier es tut, das ein lästiges Insekt abschütteln will. Walker Boh stand auf, half Quickening auf die Füße und winkte Morgan zu. Sie gewannen nichts, wenn sie hierblieben. Heute würden sie den schwarzen Elfenstein nicht bekommen – wenn überhaupt je. Uhl Belk war ein weit über alle Kreaturen entwickeltes Geschöpf. Er hatte recht; was konnten sie tun, das ihm schaden oder ihn berühren würde?

Doch Quickening schien nicht überzeugt. »Du bist es, der weggefegt werden wird!« schrie sie, während sie durch die Öffnung in der Mauer auf die Straße zurückwichen. Sie zitterte. »Hör auf mich, Uhl Belk!«

Das zerklüftete Gesicht war wieder in den Schatten gekehrt, die massigen Schultern gebeugt, die Denkerposition wieder eingenommen. Es kam keine Antwort.

Sie standen draußen im Regen und sahen zu, wie die Wand sich wieder verschloß, die Fugen sich versiegelten und die Öffnung verschwand, als sei sie nie dort gewesen. Nach wenigen Augenblicken war die Kuppel wieder so unzugänglich wie zuvor.

Morgan trat neben Quickening und legte ihr die Hände auf die Schultern. Das Mädchen schien ihn nicht wahrzunehmen, als sei sie selbst aus Stein. Der Hochländer beugte sich zu ihr und flüsterte auf sie ein.

Walker Boh entfernte sich von ihnen. Als er allein war, drehte er sich noch einmal um und betrachtete Uhl Belks Heim. Ein Feuer brannte in ihm, und gleichzeitig fühlte er sich unbeteiligt. Er war da und doch nicht da. Walker wurde klar, daß er sich selbst nicht mehr kannte. Er war ein Rätsel, das er nicht zu lösen verstand. Seine Gedanken spannten sich wie ein strammes Seil. Der Steinkönig war ein Feind, den keiner von ihnen besiegen konnte. Er war nicht einfach der Herrscher einer Stadt; er war die Stadt selbst. Uhl Belk war Eldwist geworden. Er war eine ganze Welt, und niemand konnte eine ganze Welt verändern. Allanon nicht und Cogline nicht und alle Druiden zusammen auch nicht.

Regen strömte ihm über das Gesicht. Niemand.

Aber er wußte schon, daß er es versuchen würde.

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