Weniger als eine Stunde später gelangten die letzten drei Überlebenden der Gruppe aus Rampling Steep zur Knochensenke und fanden Pe Ells Leiche. Er lag auf halbem Wege, ausgespreizt und ungeschützt auf der Erde, den leblosen Blick in den Himmel gerichtet. Eine Hand umklammerte den Lederbeutel mit den blauen Runen, der den schwarzen Elfenstein enthielt. Der Stiehl steckte noch in der Scheide.
Walker Boh schaute sich neugierig um. Quickenings Magie hatte sich über die Knochensenke hinaus ausgebreitet und so verwandelt, daß sie nicht mehr wiederzuerkennen war. Sägegras und Springkraut wucherte in Büscheln überall und polsterte die harte Oberfläche des Gesteins. Gelbe und purpurne Wildblumen neigten sich der Sonne entgegen, und die Knochen der Toten waren im Erdboden verschwunden. Alles, was übriggeblieben war, war Pe Ell.
»Nicht die geringste Wunde«, murmelte Horner Dees. Sein zerklüftetes Gesicht war noch runzliger, und seine Stimme war voller Staunen. Er trat näher, beugte sich hinunter, um genauer hinzuschauen, und richtete sich wieder auf. »Vielleicht der Hals gebrochen. Rippen eingedrückt. Irgend so was. Aber nichts, was ich so sehen könnte. Etwas Blut an seinen Händen, aber das stammt von dem Mädchen. Und schaut doch mal. Spuren vom Koden überall. Er muß ihn erwischt haben. Aber an seiner Leiche sind keine Zeichen. Wie gefällt euch das?«
Nirgendwo war ein Hinweis darauf, daß der Koden noch da war. Er war fort, verschwunden, als habe es ihn nie gegeben. Walker prüfte die Luft, testete die Stille, schloß die Augen, um zu prüfen, ob er den Koden in seinem Bewußtsein finden könnte. Nein. Quickenings Magie hatte ihn befreit. Sobald die Ketten, die ihn fesselten, zerbrochen waren, war er in seine eigene Welt zurückgekehrt, wieder er selbst, nichts als ein Bär. Und die Erinnerungen an das, was ihm angetan worden war, verblaßten schon. Walker fühlte, wie sich tiefe Befriedigung in ihm ausbreitete. Am Ende hatte er sein Versprechen halten können.
»Schaut euch doch mal seine Augen an«, sagte Horner Dees. »Seht mal, wieviel Angst darin steht. Er starb nicht als glücklicher Mann, was immer es war, das ihn getötet hat. Er starb voller Angst.«
»Es muß der Koden gewesen sein«, beharrte Morgan Leah. Er hielt sich von der Leiche fern, wollte sich ihr nicht nähern.
Dees musterte ihn kritisch: »Meinst du? Wie denn? Was hat er gemacht? Ihn zu Tode umarmt? Muß ziemlich schnell gegangen sein, wenn es das war. Sein komisches Messer steckt noch immer in der Scheide. Schau dir’s an, Hochländer. Was siehst du?«
Morgan kam widerwillig näher. »Nichts«, gab er zu.
»Wie ich gesagt habe«, schnaufte Dees. »Soll ich ihn umdrehen, damit du die andere Seite sehen kannst?«
Morgan schüttelte den Kopf. »Nein.« Er betrachtete Pe Ells Gesicht eine Weile, ohne etwas zu sagen. »Es spielt keine Rolle.« Dann schaute er auf und suchte Walkers Blick. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ist das nicht seltsam? Ich wünschte ihn tot, aber ich wollte derjenige sein, der ihn tötete. Ich weiß, es ist egal, wer ihn umgebracht hat oder wie es geschehen ist, aber irgendwie fühle ich mich betrogen. Als wäre mir die Chance gestohlen worden, die Dinge auszugleichen.«
»Ich glaube nicht, daß es so ist, Morgan«, erwiderte der Dunkle Onkel leise. »Ich glaube, diese Chance war dir nie zugedacht.«
Der Hochländer und der alte Fährtensucher schauten ihn überrascht an. »Was willst du damit sagen?« knurrte Dees.
Walker zuckte mit den Achseln. »Wäre ich der König vom Silberfluß und gezwungen, das Leben meines Kindes der Klinge eines Meuchelmörders zu opfern, dann würde ich dafür sorgen, daß der Mörder nicht mit heiler Haut davonkommt.« Er schaute von einem zum anderen. »Vielleicht sollte die Magie, die Quickening in ihrem Körper trug, mehr als nur einer Sache dienen. Vielleicht tat sie das.«
Es entstand ein langes Schweigen, während die drei diese Möglichkeit erwogen. »Das Blut an seinen Händen vielleicht?« sagte Horner Dees nach einiger Zeit. »Als wäre es Gift?« Er schüttelte den Kopf. »Erscheint ebenso wahrscheinlich wie irgendwas anderes.«
Walker Boh bückte sich und befreite den Beutel mit dem schwarzen Elfenstein vorsichtig aus Pe Ells starren Fingern. Er wischte ihn sauber, hielt ihn einen Moment auf der Handfläche und dachte bei sich, welche Ironie des Schicksals es war, daß der Elfenstein dem Mörder nichts genützt hatte. So viel Mühe, um in den Besitz seiner Magie zu gelangen, und alles umsonst. Quickening hatte es gewußt. Der König vom Silberfluß hatte es gewußt. Wenn Pe Ell es auch gewußt hätte, hätte er das Mädchen auf der Stelle getötet und damit der Sache ein für alle Male ein Ende gesetzt. Oder wäre er dennoch geblieben, so gefangen von ihr, daß er selbst dann nicht hätte entkommen können? Walker Boh war sich nicht sicher.
»Und was ist hiermit?« Horner Dees löste den Stiehl von Pe Ells Hüfte. »Was machen wir hiermit?«
»In den Ozean werfen«, gab Morgan sofort zurück. »Oder in das tiefste Loch, das du finden kannst.«
Walker kam es vor, als höre er jemand anderen sprechen, als ob die Worte ihm in unangenehmer Weise nicht unbekannt seien. Dann merkte er, daß er an sich selbst dachte und sich an das erinnerte, was er gesagt hatte, als Cogline ihm die Druidengeschichte aus Paranor gebracht hatte. Andere Zeiten, andere Magie, dachte er, aber die Gefahren blieben immer die gleichen.
»Morgan«, sagte er, und der junge Mann drehte sich zu ihm um. »Wenn wir es fortwerfen, riskieren wir, daß es wiedergefunden wird – vielleicht von jemandem, der so verderbt und übel ist wie Pe Ell. Vielleicht von jemandem, der noch schlimmer ist. Die Waffe muß irgendwo eingeschlossen werden, wo niemand sie mehr erreichen kann.« Er wandte sich an Horner Dees. »Wenn du sie mir überlassen willst, dann werde ich dafür sorgen, daß das geschieht.«
Ohne sich zu rühren, standen sie eine Weile da, drei erschöpfte, zerlumpte Gestalten in einem Gelände zerborstenen Gesteins und frischen Grüns, und maßen einander ab. Dees warf einmal einen Blick auf Morgan, dann reichte er Walker das Messer. »Ich nehme an, wir können uns darauf verlassen, daß du dein Wort so gut hältst wie sonst irgendwer«, meinte er.
Walker verstaute den Stiehl und den Elfenstein in den tiefen Taschen seines Umhangs und hoffte, daß es so sei.
Für den Rest des Tages wanderten sie nach Süden und verbrachten ihre erste Nacht fern von Eldwist auf einer kargen, mit Gestrüpp bewachsenen Ebene. Einen Tag zuvor war die Ebene noch ein Teil von Uhl Belks Königreich gewesen, infiziert vom Gift des Malmschlunds, ein zerklüfteter steinerner Teppich. Selbst mit nichts als dem Gestrüpp zu ihrem Schmuck, wirkte die Ebene wohltuend üppig nach der Leblosigkeit der Stadt. Es gab nach wie vor nicht viel zu essen, ein paar Wurzeln und Wildgemüse, doch es gab wieder frisches Wasser, der Himmel war voller Sterne und die Luft sauber und frisch. Sie entfachten ein Feuer und saßen bis spät in die Nacht davor, sprachen leise über ihre Empfindungen und verbrachten lange Zeit schweigend mit ihren Erinnerungen an das Geschehene.
Als der Morgen anbrach, erwachten sie mit der Sonne im Gesicht, ganz einfach dankbar, noch am Leben zu sein.
Sie zogen wieder durch die hohen Wälder auf das Charnalgebirge zu.
Horner Dees führte sie einen anderen Weg diesmal, östlich an den Stacheln vorbei und sorgfältig das Gebiet von Carismans Stamm der Urdas meidend. Das Wetter blieb mild, selbst im Gebirge, und weder Stürme noch Lawinen verursachten ihnen weitere Probleme. Nahrung war wieder in Hülle und Fülle zu finden, und sie kamen langsam wieder zu Kräften. Auch ein Wohlgefühl stellte sich langsam wieder ein, und die grausamsten der Erinnerungen verblaßten ein wenig.
Morgan Leah sprach häufig von Quickening. Es schien ihm gut zu tun, von ihr zu reden, und sowohl Walker als auch Horner Dees ermutigten ihn dazu. Manchmal redete der Hochländer, als wäre sie noch am Leben, berührte dabei das Schwert von Leah und gestikulierte zurück zu dem Land, das sie hinter sich ließen. Sie war dort, behauptete er beharrlich, und es war besser, daß sie dort war, als ganz und gar verschwunden. Manchmal konnte er ihre Gegenwart fühlen, dessen war er sicher. Er lächelte und scherzte und kam langsam wieder zu sich.
Horner Dees wurde fast ebensoschnell wieder der alte; der geplagte Ausdruck verschwand aus seinem Blick, die Anspannung seines Gesichts löste sich, die Schroffheit seiner Stimme verlor ihre Schärfe, und zum ersten Mal seit Wochen tauchte seine Liebe zu den Bergen wieder in seinen Gesprächen auf.
Walker Boh erholte sich langsamer. Er steckte in einem eisernen Panzer fatalistischer Resignation, die seine Gefühle fast gänzlich umschlossen hielt. Er hatte seinen Arm in der Halle der Könige verloren. Er hatte Cogline und Ondit in Hearthstone verloren. Er hatte unzählige Male beinahe sein Leben verloren. Carisman war tot. Quickening hatte recht gehabt. Es gab immer Alternativen. Aber die Wahl wurde manchmal für einen getroffen, ob man es wollte oder nicht. Er mochte vorgehabt haben, sich nicht in die Machenschaften der Druiden verstricken zu lassen und sein Leben von Brin Ohmsford und ihrem Vermächtnis der Magie abzuwenden. Aber die Umstände und das Gewissen machten es einfach unmöglich. Sein Schicksal war mit Fäden gewoben, die Hunderte, ja Tausende von Jahren zurückreichten, und er konnte sich nicht von ihnen befreien, jedenfalls nicht vollständig. Er hatte die Sache immer wieder durchdacht, seit er sich in jener Nacht in Eldwist bereiterklärt hatte, mit Quickening in den Unterschlupf des Steinkönigs zurückzukehren und den schwarzen Elfenstein zu holen. Er wußte in dem Augenblick, daß er, indem er sich dazu bereit erklärte, den Talisman, falls sie Erfolg hätten, in die Vier Länder tragen und versuchen würde, das verschwundene Paranor und die Druiden zurückzubringen – ganz wie Allanon ihm aufgetragen hatte.
Er wußte, ohne die Worte auszusprechen, was das bedeutete.
Triff die Wahl, die du willst, hatte Quickening ihm geraten.
Aber welche Alternativen blieben ihm denn? Er hatte schon vor langer Zeit beschlossen, nach dem schwarzen Elfenstein zu suchen – vielleicht seit dem Moment, als er von seiner Existenz in der Druidengeschichte las; gewiß seit Coglines Tod. Er hatte ebenfalls entschieden, herauszufinden, was seine Magie leisten würde – und das bedeutete, daß er Allanons Behauptung, Paranor und die Druiden könnten zurückgebracht werden, testete. Er konnte sich sagen, daß er die Sache bis zu dem Moment erwogen hätte, als die Stadt Eldwist ihr Ende fand. Aber er wußte, daß die Wahrheit anders war. Er wußte ebensogut, daß Paranor, wenn die Magie des schwarzen Elfensteins alldem entsprach, was versprochen war, wenn sie wirkte, wie er glaubte, wiederhergestellt werden würde. Und wenn das geschah, würden die Druiden in die Vier Länder zurückkommen.
Durch ihn.
Mit ihm angefangen.
Und diese Tatsache gab ihm die einzige Wahl, die ihm blieb, jene, die zu treffen Quickening von ihm gewollt hatte – die Wahl, wer er sein würde. Wenn es stimmte, daß Paranor wiederhergestellt werden konnte und er der erste Druide sein mußte, der die Festung übernahm, dann mußte er dafür sorgen, daß er sich in dem Prozeß nicht selbst verlor. Er mußte dafür sorgen, daß Walker Boh überlebte – sein Herz, seine Ideen, seine Überzeugungen, seine Zweifel – alles, was er war und glaubte. Er mußte alles tun, nicht genau zu dem zu werden, dem zu entrinnen er so hart gekämpft hatte. Mit anderen Worten, er durfte nicht ein Allanon werden. Er durfte nicht wie die Druiden der alten Zeit werden – Manipulatoren, Ausbeuter, finstere, heimlichtuerische Verschwörer und Verschleierer von Wahrheiten. Wenn die Druiden zurückkommen mußten, um die Rassen zu erhalten, um ihr Überleben gegen die finsteren Mächte der Welt, Schattenwesen oder was immer, zu gewährleisten, dann mußte er sie zu dem machen, was sie sein sollten – eine bessere Sorte von Menschen, Lehrer und Verteiler der Macht der Magie.
Diese Wahl konnte er noch immer treffen – eine Wahl, die er treffen mußte, wenn er seinen gesunden Verstand bewahren wollte.
Sie brauchten fast zwei Wochen bis Rampling Steep, wählten die längeren, aber sichereren Wege, vermieden alle Risiken, verkrochen sich, wenn es dunkel wurde, und zogen weiter, wenn es wieder hell war. Sie erreichten die Gebirgsstadt gegen Mittag. Der Himmel war von grauen Wolkenschleiern überdeckt, die ein Sommerregen zurückgelassen hatte und die an hastig zerzupfte Baumwollflocken denken ließen. Es war ein warmer, feuchter Tag, und die Häuser der Stadt glänzten wie nasse, fette Kröten, die zwischen den Steinen hockten. Die drei Reisenden näherten sich der Stadt wie Fremde, sahen sie mit neuen Augen, die erste Stadt seit Eldwist. Gleichzeitig verlangsamten sie alle drei ihre Schritte, als sie die Hauptstraße erreichten, die zwischen den Tavernen, Scheunen und Läden entlangführte. Sie blieben stehen und schauten noch einmal auf die Berge zurück, von denen sie gekommen waren, und beobachteten für ein Weilchen, wie das Wasser des Gewitterregens in Sturzbächen von den Felsen plätscherte, und lauschten auf das ferne Rauschen.
»Zeit zum Abschied«, verkündete Horner Dees unvermittelt und streckte Morgan seine Hand hin.
Morgan riß die Augen auf. Kein Wort war bisher darüber gefallen, daß er sich von ihnen trennen würde. »Du kommst nicht mit?«
Der alte Fährtensucher schnaubte. »Ich bin froh, daß ich noch lebe, Hochländer. Jetzt willst du, daß ich mit nach Süden gehe? Wie weit erwartest du, daß ich die Dinge treiben soll?«
»Ich meine nicht …«, stammelte Morgan.
»Die Sache ist«, unterbrach ihn der andere mit einer kurzen Bewegung seiner großen Hand, »ich hätte gar nicht mitgehen sollen. Es war das Mädchen, das mich überredet hat. Konnte es ihr nicht abschlagen. Und vielleicht war es auch das Gefühl, daß ich was zurückgelassen hatte, als ich vor zehn Jahren vor dem Steinkönig und seinen Monstern davongerannt bin. Ich mußte noch mal hingehen und es wiederfinden. Und da bin ich nun. Der einzige Mensch, der Eldwist und Uhl Belk zweimal entkommen ist. Mir scheint, das ist genug für einen alten Mann.«
»Du wärest herzlich willkommen, wenn du mit uns gehen wolltest, Horner Dees«, versicherte ihm an Morgans Statt Walker Boh. »Du bist weniger alt, als du behauptest, und doppelt so fähig. Der Hochländer und seine Freunde könnten deine Erfahrungen brauchen.«
»Ja, Horner«, stimmte Morgan eilig zu. »Wie ist das mit den Schattenwesen? Wir brauchen deine Hilfe, um gegen sie zu kämpfen. Komm doch mit.«
Aber der alte Fährtensucher schüttelte starrsinnig seinen Bärenkopf. »Ich werde dich vermissen, Hochländer. Ich verdanke dir mein Leben. Ich schaue dich an und sehe den Sohn, den ich unter anderen Umständen vielleicht hätte haben können. Na, ist das nicht ein Geständnis? Aber ich habe in meinem Leben genug Aufregung gehabt, und ich bin nicht scharf auf mehr. Ich sehne mich nach der Ruhe und der Dunkelheit der Bierhäuser. Ich brauche die Annehmlichkeiten meines eigenen Heims.« Er streckte wieder die Hand aus. »Aber wer sagt denn, daß sich das nicht wieder ändern kann? Also, ein andermal vielleicht.«
Morgan ergriff die Hand. »Jederzeit, Horner.« Dann ließ er die Hand los und umarmte den alten Mann. Horner Dees drückte ihn an sich.
Danach ging die Reise schnell, die Zeit verstrich fast magisch, die Tage und Nächte verflossen wie Quecksilber. Walker und Morgan gelangten aus den Charnalbergen in das Vorgebirge im Süden und folgten ihnen dann westwärts zum Rabb. Sie überquerten den Nordarm des Flusses und gelangten in das offene Grasland, das sich bis zu den fernen Gipfeln der Drachenzähne erstreckte. Die Tage waren lang und heiß, die Sonne brannte aus einem wolkenlosen Himmel, kaum hatten sie das unbeständige Wetter des Gebirges hinter sich gelassen. Die Sonne ging früh auf und ging spät unter. Selbst die Nächte waren warm und hell. Die beiden begegneten nur wenigen Reisenden und keiner einzigen Föderationspatrouille. Das Land war zunehmend von der Schattenwesenkrankheit befallen, dunkle Flecken, die die Verbreitung der Krankheit andeuteten, aber es gab keine Zeichen der Überträger.
Am Ende der Woche erreichten der Dunkle Onkel und der Hochländer den südlichen Zugang zum Jannissonpaß. Es war schon fast Mittag, und der Paß erstreckte sich vor ihnen durch die Verbindung der felsigen Drachenzähne mit dem Charnalgebirge, ein breiter, leerer Korridor, der nordwärts nach Streleheim führte. Hier hatte Padishar Creel gehofft, die Truppen der Südlandbewegung, des Zwergenwiderstandes und der Trolle von Axhind und seines Kelctischen Vogels Rock zu vereinigen, um die Armeen der Föderation zu bekämpfen und zu besiegen. Der Wind wehte sanft über die Ebene und über den Paß; sonst regte sich nichts.
Morgan schaute sich trübsinnig und resigniert um. Walker stand schweigend eine Weile neben ihm, dann legte er ihm die Hand auf die Schulter. »Wohin nun, Hochländer?« fragte er leise.
Morgan zuckte mit den Schultern und lächelte tapfer. »Nach Süden, denke ich, nach Varfleet. Ich werde versuchen, Kontakt mit Padishar aufzunehmen. Ich hoffe, daß er Par und Coll gefunden hat. Wenn das nicht der Fall ist, werde ich selber nach den Talbewohnern suchen gehen.« Er hielt inne und musterte das harte, bleiche Gesicht des anderen. »Ich kann mir denken, wo du hingehen wirst.«
Walker nickte. »Paranor suchen.«
Morgan holte tief Luft. »Ich weiß, daß du genau das nicht tun wolltest, Walker.«
»Allerdings.«
»Ich kann mitgehen, wenn du willst.«
»Nein, Hochländer, du hast genug für andere getan. Es ist Zeit, daß du etwas für dich selbst tust.«
Morgan nickte. »Nun, ich habe keine Angst, falls du das denkst. Ich habe die Magie des Schwertes von Leah wieder. Ich könnte etwas nützen.«
Walkers Finger drückten Morgans Schulter kräftig und ließen dann los. »Ich glaube nicht, daß irgendwer mir helfen kann, wo ich hingehe. Ich glaube, ich werde mir selbst helfen müssen, so gut ich kann. Der Elfenstein wird vermutlich mein bester Schutz sein.« Er seufzte. »Seltsam, wie die Dinge sich entwickeln. Ohne Quickening würde keiner von uns tun, was er tut, oder sein, was er ist, nicht wahr? Sie hat uns beiden ein neues Ziel, ein neues Gesicht und vielleicht sogar neue Kraft gegeben. Vergiß nicht, was sie für dich aufgegeben hat, Morgan. Sie liebte dich. Und ich glaube, daß sie dich – in welcher Weise auch immer sie kann – immer lieben wird.«
»Ich weiß.«
»Horner Dees sagte, daß du ihm das Leben gerettet hast. Du hast auch meines gerettet. Hättest du nicht das Schwert benutzt, so zersplittert, wie es war, hätte Uhl Belk mich getötet. Ich glaube, Par und Col Ohmsford können sich keinen besseren Beschützer wünschen. Geh sie suchen. Sorg dafür, daß sie wohlauf sind. Hilf ihnen, wo immer du kannst.«
»Das werde ich.«
Sie schüttelten sich die Hände, hielten sie einen Moment fest und schauten sich in die Augen.
»Sei vorsichtig, Walker«, sagte Morgan.
Walker lächelte schwach und ein wenig ironisch. »Bis zum nächsten Mal, Morgan Leah.«
Dann drehte Walker sich um und machte sich auf den Weg über den Paß. Er gelangte aus der Sonne in den Schatten der Felsen und schaute nicht mehr zurück.
Für den Rest des Tages und auch noch den ganzen nächsten zog Walker Boh westwärts über die Streleheimebenen, entlang der dunklen, alten, von den Drachenzähnen umgebenen Wälder im Süden. Am dritten Tag schlug er den Weg in den schattigen Wald ein und ließ die Ebene und den Sonnenschein hinter sich. Die Bäume standen da wie riesige, hohe Wachposten, die darauf warteten, in den Kampf geschickt zu werden, ihre dicken Stämme kameradschaftlich dicht beieinander, und die Äste zu einem Baldachin verflochten. Es waren die Wälder, die vor vierhundert Jahren die Druidenfestung vor der übrigen Welt abgeschirmt hatten. Zu Shea Ohmsfords Zeiten waren Wölfe zur Bewachung eingesetzt worden. Und selbst später hatte es noch eine Dornenhecke gegeben, die niemand außer Allanon persönlich überwinden konnte. Die Wölfe waren nicht mehr da, auch die Dornenhecke war verschwunden und sogar die Festung selbst. Nur die Bäume waren geblieben, in tiefes, allgegenwärtiges Schweigen gehüllt.
Walker folgte den Pfaden, als wäre er ein Schatten, glitt lautlos zwischen den Stämmen über den Teppich toter Nadeln, verloren in der Trübsal seiner wachsenden Unentschlossenheit. Die Gedanken an das, was er auf dem Wege zu tun war, waren wirr und nervenzehrend, und die Ungewißheit, die er sorgfältig überwunden zu haben glaubte, suchte ihn erneut heim. Sein ganzes Leben lang hatte er sich bemüht, Brin Ohmsfords Vermächtnis zu entkommen; und jetzt beeilte er sich freiwillig, es zu umarmen. Die Entscheidung, es zu tun, hatte lange gebraucht, und er hatte sie oft in Frage gestellt. Sie war das Ereignis einer seltsamen Mischung aus Umständen, Gewissen und Überlegung. Er hatte so viel darüber nachgedacht, wie er imstande war, und er war überzeugt, daß er die richtige Wahl getroffen hatte. Und dennoch war die Aussicht auf die Konsequenzen beängstigend, und je näher der Moment rückte, da er sie erkennen würde, desto mehr nahmen die bösen Vorahnungen überhand.
Als er schließlich im Herzen des Waldes bei der Anhöhe, auf der Paranor einst gethront hatte, ankam, waren seine Gefühle in wildem Aufruhr. Lange Zeit stand er da und starrte zu den wenigen Steinblöcken hinauf, die von den Außenmauern übriggeblieben waren, auf die roten Streifen, die der Sonnenuntergang mit heißem, schwindendem Leuchten über die Hügelkuppe warf. Im Schein des verblassenden Lichts konnte er sich vorstellen, daß es möglich wäre, Paranor vor der hereinbrechenden Nacht in die Höhe ragen zu sehen, seine Zinnen scharf umrissen, mit Türmen, die wie Speere in das Blau des Himmels stachen. Er konnte die ungeheure Größe der Präsenz der Festung, die trotzende Masse ihrer Steine fühlen. Er konnte das Leben ihrer Magie anrühren, die auf ihre Wiedergeburt wartete.
Er machte ein Feuer, saß davor und wartete auf den Einbruch der Nacht. Als es vollständig dunkel war, stand er auf und ging an den Fuß des Hügels zurück. Über ihm glitzerten die Sterne, und die Wälder rundum waren voller nächtlicher Geräusche. Er fühlte sich fremd und einsam. Er starrte noch einmal auf die Hügelkuppe hinauf und suchte von innen her mit seiner Magie einen Hinweis auf das zu finden, was dort wartete. Nichts gab sich zu erkennen. Dennoch war die Festung dort; er konnte ihre Gegenwart in einer Weise fühlen, die er nicht zu erklären imstande war. Die Tatsache, daß seine Magie versagte, das zu bekräftigen, was er ohnehin wußte, verursachte ihm zusätzliches Unbehagen. Bring das verlorene Paranor und die Druiden zurück, hatte Allanon gesagt. Was würde es brauchen, um es zu tun? Was, über den bloßen Besitz des schwarzen Elfensteins hinaus? Es brauchte noch mehr, das wußte er. Da mußte noch mehr sein.
Er schlief ein paar Stunden, obwohl der Schlaf nicht leicht kommen wollte, eine schwache Notwendigkeit gegen das Gewisper seiner Ängste. Er lag lange wach, seine Entschlossenheit entglitt ihm, zersetzte sich und bekam Risse. Die Fallen eines lebenslänglichen Mißtrauens verstrickten ihn, befreiten sich aus den Winkeln, in die er sie verbannt hatte, und drohten, erneut die Oberhand zu gewinnen. Er zwang sich, an Quickening zu denken. Wie mußte es für sie gewesen sein, da sie doch wußte, was ihr bevorstand? Welche Ängste sie ausgestanden haben mußte! Und doch opferte sie sich selbst, weil es nötig war, um dem Land das Leben zurückzugeben. Es gab ihm Kraft, wenn er an ihren Mut dachte, und nach einer Weile ließ das Gewisper nach, und er schlief ein.
Der Tag brach schon an, als er wieder erwachte. Er wusch sich und aß eilig etwas hölzern und nervös im Schatten dessen, was ihn erwartete. Als er fertig war, ging er wieder zum Fuß des Hügels und schaute hinauf. Die Sonne war hinter ihm und schien auf die kahle Kuppe des Hügels. Nichts hatte sich verändert. Kein Hinweis auf das, was einst war oder was sein könnte, ließ sich entdecken. Paranor war und blieb in der Zeit, im Raum und in der Legende verschollen.
Walker wandte sich ab und kehrte wieder zum Waldrand zurück, in sichere Entfernung von der Anhöhe. Er faßte in die Tasche seines Umhangs und holte den Beutel mit dem schwarzen Elfenstein hervor. Er starrte darauf und fühlte das Gewicht der magischen Kraft in seiner Hand. Sein Körper war steif und müde, sein fehlender Arm schmerzte. Seine Kehle war so trocken wie Herbstblätter. Er merkte, wie die Unsicherheiten und Zweifel und Ängste wieder aufstiegen und sich zu einer Woge zusammenballten, die ihn fortzuschwemmen drohte.
Hastig ließ er den Elfenstein aus dem Beutel auf seine Handfläche gleiten.
Er schloß die Hand augenblicklich, zu furchtsam, in sein dunkles Licht zu schauen. Sein Kopf arbeitete rasend. Ein Stein, einer für alles, einer für Herz, Geist und Körper – so gemacht, glaubte er, weil er die Antithese aller anderen Elfensteine darstellte; ein Stein, von den Geschöpfen der Alten Welt der Feen geschaffen und mit einer Magie ausgestattet, die verschlang, statt auszustrahlen, die absorbierte, statt etwas freizusetzen. Die Elfensteine, die Allanon Shea Ohmsford gegeben hatte, waren ein Talisman, der seinen Besitzer gegen jegliche finstere Magie beschützte, die ihm drohen mochte. Aber der schwarze Elfenstein war aus einem völlig anderen Grund geschaffen worden – nicht zur Verteidigung, sondern zur Befähigung. Er war für einen einzigen Zweck gedacht – um der Magie entgegenzuwirken, die die Druidenfeste hatte verschwinden lassen, und um damit das verlorene Paranor aus der Vergessenheit zurückzuholen. Er würde das vollbringen, indem er jene Magie aufzehrte – und sie in den Körper dessen, der den Stein besaß, übertrug – ihn selbst. Was das bei ihm bewirken würde, konnte Walker sich nur ausmalen. Er wußte, daß der Schutz des Steins gegen Mißbrauch in der Tatsache lag, daß er in der gleichen Weise wirkte, gleich, wer ihn handhabte und zu welchem Zweck. Das war es, was Uhl Belk zerstört hatte. Seine Aufnahme der Magie des Malmschlunds hatte ihn zu Stein gemacht. Walkers eigenes Schicksal mochte ähnlich sein, glaubte er – wenn auch komplexer. Aber wie? Wenn das Benutzen des schwarzen Elfensteins Paranor wiederherstellte, was waren dann die Folgen, wenn die Magie, die die Festung verbannt hatte, auf ihn übertragen würde?
Wer auch immer den Grund und das Recht dazu hat, soll ihn zu seinem wahren, vorbestimmten Zweck verwenden.
Er selbst. Aber warum? Weil Allanon bestimmt hat, daß es so sei? Hatte Allanon die Wahrheit gesprochen? Oder nur einen Teil der Wahrheit? Oder spielte er wieder irgendwelche Spielchen? Was sollte Walker Boh glauben?
Er stand da, einsam und unentschlossen und furchtsam, und er fragte sich, was ihn dazu gebracht hatte. Er sah, daß seine Hand zu zittern begann.
Und dann durchbrach plötzlich das Gewisper in Strömen seine Abwehr und wurde zu Geschrei.
Nein! Fast ohne zu denken hob er den schwarzen Elfenstein in die Höhe und öffnete die Hand.
Der Elfenstein entflammte sofort zu Leben; seine Magie kitzelte heftig auf seiner Haut. Schwarzes Licht – das Unlicht, die verschlingende Finsternis. Wer auch immer. Er sah, wie sich das Licht vor ihm sammelte, sich aus sich selbst aufbaute. Den Grund und Recht dazu besitzt. Der Rückschlag der Magie zischte durch ihn hindurch, zerfetzte Zweifel und Furcht, ließ Gewisper und Schreie verstummen, füllte ihn mit unvorstellbarer Macht. Soll ihn zu seinem wahren, vorbestimmten Zweck verwenden.
Jetzt!
Er ließ das schwarze Licht vorwärtsströmen, ein gewaltiger Tunnel grub sich durch die Luft, verschluckte alles auf seinem Weg, verschlang Substanz und Raum und Zeit. Es prallte gegen die Kuppe des kahlen Hügels, und Walker wurde zurückgeworfen, als habe ihn der Schlag einer unsichtbaren Faust getroffen. Aber er stürzte nicht. Die Magie zischte durch ihn hindurch, stützte ihn, umgab ihn mit einem Panzer. Das schwarze Licht breitete sich vor dem Himmel aus wie Malfarbe, stieg auf, verbreitete sich, schwenkte hierhin und dorthin, zerteilte sich selbst, als folge es Tunneln und Rinnen, durch die es fließen mußte. Es begann, Form anzunehmen. Walker rang nach Luft. Das Licht des schwarzen Elfensteins begann die Umrisse einer gewaltigen Festung herauszuätzen, ihre Wälle und Zinnen, Burgfriede und Türme. Mauern erhoben sich, und Tore zeichneten sich ab. Das Licht breitete sich über den Himmel aus, und das Sonnenlicht wurde verdeckt. Schatten fielen von der Burg, und er fühlte, wie er selbst darin verschwand.
Irgend etwas begann sich in ihm zu verändern. Er wurde ausgesaugt. Nein, er wurde eher aufgefüllt! Etwas, die Magie, strömte hindurch. Die andere, dachte er, schwach unter ihrem Aufprall, hilflos, und plötzlich erschrocken. Es war die Magie, die Paranor festgehalten hatte und nun in den Elfenstein gesaugt wurde.
Und in ihn.
Er knirschte mit den Zähnen, und sein Körper versteifte sich. Ich werde nicht nachgeben. Das schwarze Licht durchflutete den leeren Raum des Bildes über der Hügelkuppe, färbte es, gab ihm zuerst Substanz und dann Leben – Paranor, die Druidenfeste, zurück in die Welt der Menschen gekommen, wiedergekehrt aus dem dunklen Halbraum, der sie während all der Jahre verborgen hatte. Sie erhob sich in den Himmel, riesig und abweisend. Der schwarze Elfenstein verblaßte in Walkers Hand. Das Unlicht wurde schwächer und verlosch.
Walker fiel auf die Knie, geschüttelt von Empfindungen, die er nicht benennen konnte, verstört durch die Magie, die er absorbiert hatte und die ihn durchströmte, als wäre es sein eigenes Blut. Er schloß die Augen und schlug sie langsam wieder auf. Er sah sich selbst in einem Dunst schimmern, der seine klaren Umrisse fortstahl. Ungläubig schaute er an sich hinunter, dann wurde ihm eiskalt. Er war nicht mehr wirklich da! Er war zu seinem Gespenst geworden!
Er verdrängte sein Entsetzen und stand wieder auf, seine Hand umklammerte noch immer den schwarzen Elfenstein. Er beobachtete sich selbst, als wäre er jemand anderes, beobachtete das Schimmern seines Körpers und seiner Glieder und die überlappenden Schattierungen, die den Anschein erweckten, er sei in einzelne Teile zerlegt. Himmel, was ist mit mir geschehen! Er taumelte vorwärts, stolperte den Hügel hinauf zu der Kuppe, weil er nicht wußte, was er sonst tun sollte. Er mußte Paranor erreichen. Er mußte hineingelangen.
Der Aufstieg war lang und mühsam, und als er die eisernen Tore der Festung erreichte, rang er nach Atem. Sein Körper bewegte sich als eine Fülle von Bildern, jedes ein bißchen außerhalb der anderen. Aber er konnte atmen wie ein normaler Mensch; und er konnte fühlen wie zuvor. Das machte ihm Mut, und er eilte durch Paranors Tore. Der Stein der Festung war nur allzu wirklich, hart und rauh anzufühlen – dennoch gleichzeitig auf eine Art abweisend, die er nicht sofort benennen konnte. Die Tore öffneten sich, als er sich dagegen lehnte, als besäße er die Kraft von tausend Männern und könnte alles bezwingen, das sich ihm entgegenstellte.
Vorsichtig trat er ein. Schatten hüllten ihn ein. Er stand in der Finsternis, und ein Wispern von Tod war überall.
Dann bewegte sich etwas im Dunkel, löste sich und nahm Gestalt an – eine vierbeinige Erscheinung, schwerfällig und bedrohlich. Es war eine Moorkatze, pechschwarz mit leuchtendgelben Augen, da und nicht da, genau wie Walker selbst.
Walker erstarrte. Die Moorkatze sah genauso aus wie …
Hinter der Katze kam ein Mann zum Vorschein, alt und gebeugt, ein durchscheinender Geist, der schimmerte. Als der Mann näher kam, wurden seine Züge erkennbar.
»Endlich bist du da, Walker«, flüsterte er mit eifriger, hohler Stimme. Der Dunkle Onkel fühlte, wie sich die letzten Überreste seines Zwiespalts auflösten. Der Mann war Cogline.