Cogline brachte Walker nach Storlock. Selbst zu Pferd, mit Walker auf dem Sattel festgebunden, brauchten sie bis zum Einbruch der Nacht. Sie kamen aus den Drachenzähnen hinunter in einen sonnenerfüllten, warmen Tag, wandten sich ostwärts über die Rabbebenen, in die Ostlandwälder von Zentral-Anar zu dem legendären Dorf der Stors. Von Schmerzen gepeinigt und von Gedanken an den Tod aufgezehrt, blieb Walker fast die ganze Zeit wach. Aber er war nie sicher, wo er sich befand oder was um ihn herum geschah, war sich nur des Schaukelns seines Pferdes bewußt und Coglines ständiger Versicherungen, daß alles gut werden würde.
Er glaubte nicht, daß Cogline ihm die Wahrheit sagte.
Storlock war still, kühl und trocken im Schatten der Bäume, eine Zuflucht vor der drückenden Hitze und dem Staub der Ebenen. Hände hoben Walker aus dem Sattel, aus dem Schweißgeruch und dem Geschaukel und fort von dem Gefühl, daß er jeden Augenblick dem Tod nachgeben müsse, der auf ihn wartete. Er wußte nicht, warum er noch lebte. Er konnte sich keinen Grund dafür geben. Weiß gewandete Gestalten waren um ihn herum, stützten ihn, hielten ihn – Stors, Heilergnome aus dem Dorf. Sie waren die fortschrittlichsten Heilkundigen in den Vier Ländern. Wil Ohmsford hatte einst bei ihnen studiert und war ein Heiler geworden, der einzige Südlander, der das je getan hatte. Shea Ohmsford war nach einem Angriff im Wolfsktaag geheilt worden. Vorher war Par auch zu ihnen gebracht worden, weil er vom Gift der Werbiester in Olden Moor infiziert war. Walker hatte ihn hingebracht. Jetzt war Walker selbst an der Reihe, um gerettet zu werden. Doch Walker glaubte nicht, daß das geschehen würde.
Eine Tasse wurde an seine Lippen gehalten, und eine unbekannte Flüssigkeit sickerte seine Kehle hinunter. Fast augenblicklich ließen die Schmerzen nach, und er wurde schläfrig. Schlaf würde ihm guttun, dachte er plötzlich und zu seiner eigenen Überraschung. Schlaf war ihm willkommen. Er wurde ins Zentralhaus getragen, das Hauptpflegequartier, und in einem der Hinterzimmer auf ein Bett gelegt, wo man den Wald durch das Gewebe der Vorhänge sehen konnte, eine Wand aus dunklen Stämmen, die dort wachten. Man zog ihm die Kleider aus, wickelte ihn in Decken und gab ihm noch etwas zu trinken, eine bittere, heiße Flüssigkeit, und dann wurde er zum Schlafen allein gelassen.
Er schlief fast augenblicklich ein.
Während er schlief, ließ das Fieber nach, und er erholte sich von der Erschöpfung. Der Schmerz war noch da, doch irgendwie fern und nicht Teil von ihm. Er versank in der Wärme und Behaglichkeit seines Betts, und selbst Träume konnten den Schild seiner Rast nicht durchbrechen. Er hatte keine Visionen, die ihn peinigten, keine finsteren Gedanken, die ihn weckten. Allanon und Cogline waren vergessen. Seine Verzweiflung über den Verlust seines Arms, der Kampf, um dem Asphinx und der Halle der Könige zu entkommen, und das grauenvolle Gefühl, nicht länger Herr seines eigenen Schicksals zu sein – alles war vergessen. Er hatte Frieden.
Er wußte nicht, wie lange er schlief, denn ihm war nicht bewußt, wie die Zeit verstrich, wie die Sonne über den Himmel wanderte, wie es Nacht und Tag und wieder Nacht wurde. Als er langsam wieder aufwachte, aus der Dunkelheit seiner Rast durch eine Welt des Halbschlafs schwebte, rührten sich unerwarteterweise Erinnerungen an seine Kindheit, Fetzen seines Lebens aus den Tagen, als er lernte, mit der Enttäuschung und dem Staunen der Entdeckung zurechtzukommen, wer und was er war.
Die Erinnerungen waren klar und deutlich.
Er war noch ein Kind, als er zum ersten Mal erkannte, daß er Magie besaß. Er nannte es damals nicht Magie, er nannte es überhaupt nicht. Er hielt solche Fähigkeiten für alltäglich, dachte damals, er sei wie jedermann. Er lebte mit seinem Vater Kenner und seiner Mutter Risse in Hearthstone in Darklin Reach, und dort gab es keine anderen Kinder, mit denen er sich hätte vergleichen können. Das kam später. Seine Mutter war es, die ihm sagte, daß das, was er vermochte, ungewöhnlich war, daß es ihn von anderen Kindern unterschied. Er konnte ihr Gesicht noch immer sehen, als sie es ihm zu erklären versuchte, ihre zarten Züge ernst und konzentriert, ihre weiße Haut und ihr kohlschwarzes Haar, das sie immer zu Zöpfen geflochten trug und mit Blüten schmückte. Er konnte ihre leise, dringliche Stimme noch immer hören. Risse. Er hatte seine Mutter innig geliebt. Sie hatte selbst keine Magie besessen; sie war eine Boh, und die Magie kam von seiten seines Vaters, von den Ohmsfords. Sie hatte ihn an einem strahlenden Herbsttag, an dem die Luft von den Düften welkender Blätter und brennenden Holzes erfüllt war, vor sich hin gesetzt und hatte es ihm lächelnd und vorsichtig mitgeteilt, hatte erfolglos versucht, das Unbehagen, das sie darüber empfand, vor ihm zu verbergen.
Das war eines von den Dingen, die die Magie ihm erlaubte. Sie ließ ihn manchmal sehen, was andere fühlten – nicht bei jedem, aber fast immer bei seiner Mutter.
»Walker«, sagte sie, »die Magie macht dich zu etwas Besonderem. Sie ist eine Gabe, die du pflegen und hegen mußt. Ich weiß, daß du eines Tages etwas Wunderbares damit tun wirst.«
Ein Jahr später starb sie an einem Fieber, gegen das selbst sie mit ihren außerordentlichen Heilkräften kein Mittel hatte finden können.
Dann lebte er mit seinem Vater allein, und die »Gabe«, mit der sie ihn gesegnet geglaubt hatte, entwickelte sich schnell. Die Magie gab ihm Fähigkeiten, gab ihm Einblick. Er entdeckte, daß er oft Dinge in Leuten spürte, ohne daß man es ihm gesagt hätte – Wandel ihrer Stimmung und ihres Charakters, Emotionen, die sie geheimhalten zu können glaubten, Meinungen und Ideen, Nöte und Hoffnungen, sogar die Hintergründe ihrer Taten. Es gab immer Besuch in Hearthstone – Durchreisende, Hausierer, Händler, Holzfäller, Jäger, Trapper, sogar Fährtensucher –, und Walker wußte genau über sie Bescheid, selbst wenn sie kein Wort sagten. Er offenbarte ihnen, was er wußte, ein Spiel, das er schrecklich gerne spielte. Manche unter ihnen verängstigte es, und sein Vater befahl ihm, damit aufzuhören. Walker tat, wie ihm geheißen. Er hatte inzwischen eine neue, interessantere Fähigkeit entdeckt. Er stellte fest, daß er mit den Tieren des Waldes kommunizieren konnte, mit den Vögeln und den Fischen und selbst mit den Pflanzen. Er konnte spüren, was sie dachten und fühlten, genauso wie bei den Menschen, auch wenn ihre Gedanken und Gefühle begrenzter und rudimentärer waren. Stundenlang verschwand er zu Lernausflügen, zu vorgeschützten Abenteuern und Reisen zum Auskundschaften und Erproben. Er betrachtete sich in sehr jungen Jahren schon als Erforscher des Lebens.
Während die Zeit verstrich, wurde deutlich, daß Walkers besondere Einsicht ihm auch bei seiner Ausbildung zugute kommen würde. Er begann, in der Bibliothek seines Vaters zu lesen, sobald er gelernt hatte, wie die Buchstaben des Alphabets auf den abgenutzten Seiten von seines Vaters Büchern Wörter bildeten. Mühelos meisterte er die Mathematik. Die Naturwissenschaften verstand er intuitiv. Kaum irgend etwas mußte ihm erklärt werden. Irgendwie schien er einfach zu begreifen, wie das alles funktionierte. Geschichte wurde seine besondere Leidenschaft, seine Erinnerungsfähigkeit an Orte und Ereignisse und Leute war erstaunlich. Er begann, eigene Aufzeichnungen zu machen, alles, was er lernte, niederzuschreiben und Lehren zu kompilieren, die er eines Tages anderen weitergeben wollte.
Je älter er wurde, desto mehr schien sich die Haltung seines Vaters ihm gegenüber zu verändern. Zunächst wehrte er den Verdacht ab, überzeugt, daß er sich irrte. Doch das Gefühl blieb. Schließlich fragte er seinen Vater danach, und Kenner – ein großer, schlanker Mann mit flinken Bewegungen und großen, intelligenten Augen, einem Stotterproblem, das er mit harter Anstrengung überwunden hatte, und einer handwerklichen Begabung – gab zu, daß es stimmte. Kenner hatte selbst keine Magie. Er hatte in seiner Jugend Spuren davon gehabt, doch kurz nachdem er aus dem Jungenalter gewachsen war, waren sie verschwunden. So war es auch seinem Vater und dem Vater seines Vaters und allen Ohmsfords, von denen er Kenntnis hatte, bis zurück zu Brin gegangen. Doch bei Walker schien es nicht der Fall zu sein. Walkers Magie schien sogar immer stärker zu werden. Kenner sagte ihm, daß er fürchtete, die Fähigkeiten seines Sohnes würden ihn irgendwann überwältigen und sich zu einem Punkt entwickeln, wo er ihre Wirkung nicht mehr vorhersehen und kontrollieren könne. Doch er sagte gleichzeitig, daß sie nicht unterdrückt werden dürfe, daß Magie eine Gabe sei, deren Vorhandensein immer einen bestimmten Sinn habe.
Wenig später erzählte er Walker die Geschichte der Hintergründe der Ohmsfordmagie, von dem Druiden Allanon und dem Talmädchen Brin und von dem mysteriösen Vermächtnis, das er ihr im Sterben überantwortet hatte. Walker war zwölf Jahre alt, als er die Legende hörte. Er hatte wissen wollen, worin denn das Vermächtnis bestanden habe. Sein Vater hatte es ihm nicht sagen können. Er hatte ihm nur die Geschichte berichten können, wie es durch die Blutlinie der Ohmsfords weitergegeben wurde.
»Es manifestiert sich in dir, Walker«, sagte er. »Du deinerseits wirst es deinen Kindern weitergeben und sie den ihren, bis es eines Tages gebraucht wird. Das ist das Vermächtnis, das du geerbt hast.«
»Aber wozu taugt denn ein Vermächtnis, das keinem Zweck dient?« hatte Walker gefragt. Und Kenner hatte wiederholt: »Die Magie hat immer einen Sinn – selbst wenn wir nicht erkennen, worin er liegt.«
Knapp ein Jahr später, als Walker in seine Jugendjahre kam und seine Kindheit hinter sich ließ, offenbarte die Magie eine andere, dunkle Seite. Walker fand heraus, das sie zerstörerisch sein konnte. Manchmal, vor allem, wenn er wütend war, verwandelten sich seine Gefühle in Energie. Wenn das geschah, konnte er Dinge von der Stelle bewegen und zerbrechen, ohne sie zu berühren. Manchmal konnte er eine Art Feuer auslösen. Es war kein gewöhnliches Feuer, es brannte nicht wie gewöhnliches Feuer, und es hatte eine andere Farbe, eine Art Kobaltblau. Es wollte nicht viel von dem tun, was er versuchte, es tun zu lassen, es machte so ziemlich das, was es wollte. Er brauchte Wochen, um zu lernen, es zu kontrollieren. Er versuchte, seine Entdeckung vor seinem Vater zu verbergen, doch sein Vater erfuhr trotzdem davon, so wie er irgendwann alles über seinen Sohn herausfand. Auch wenn er wenig sagte, fühlte Walker, wie sich der Abstand zwischen ihnen vergrößerte.
Walker war auf der Schwelle zum Mannesalter, als sein Vater sich entschloß, ihn aus Hearthstone fortzubringen. Kenner Ohmsfords Gesundheitszustand hatte sich seit mehreren Jahren immer mehr verschlechtert, sein einst starker Körper war von einer zermürbenden Krankheit befallen. Er verschloß die Hütte, die von Geburt an Walkers Heim gewesen war, und brachte den Jungen nach Shady Vale, um dort bei einer anderen Ohmsford-Familie zu leben, Jaralan und Mirianna mit ihren Söhnen Par und Coll.
Der Umzug wurde zu dem schlimmsten Ereignis, das Walker Boh je zugestoßen war. Shady Vale war kaum mehr als ein kleiner Weiler, doch nach Hearthstone bedeutete es große Einschränkungen. Vorher hatte er grenzenlose Freiheit genossen, hier gab es Grenzen, denen er nicht zu entkommen vermochte. Walker war nicht daran gewöhnt, von so vielen Leuten umgeben zu sein, und er konnte sich nicht einfügen. Er sollte zur Schule gehen, doch es gab dort nichts für ihn zu lernen. Der Lehrer und die Mitschüler mißtrauten ihm; er war ein Außenseiter und benahm sich anders als sie, er wußte bei weitem zu viel, und sie entschieden sehr schnell, daß sie nichts mit ihm zu tun haben wollten. Seine Magie wurde zu einer Falle, aus der er nicht entkommen konnte. Sie manifestierte sich in allem, was er tat, und als er schließlich erkannte, daß er sie hätte geheimhalten sollen, war es längst zu spät. Er wurde mehrfach zusammengeschlagen, weil er sich nicht zur Wehr setzte. Er war gefesselt von dem Gedanken, was geschehen würde, wenn er das Feuer ausbrechen ließ.
Er war weniger als ein Jahr in dem Dorf, als sein Vater starb. Walker hatte sich damals gewünscht, er könnte auch sterben.
Er lebte weiterhin bei Jaralan und Mirianna Ohmsford, die gut zu ihm waren und Verständnis für die Schwierigkeiten zeigten, mit denen er zu kämpfen hatte, denn bei ihrem eigenen Sohn Par machten sich gerade die ersten Zeichen bemerkbar, daß er selbst seine eigene Magie besaß. Par war ein Nachkomme von Jair Ohmsford, Brins Bruder. Beide Seiten der Familie hatten in den Jahren seit Allanons Tod die Magie ihrer Ahnen weitervererbt, so daß das Erscheinen von Pars Magie nicht völlig unerwartet kam. Pars Magie war weniger unvorhersehbar und weniger kompliziert und manifestierte sich in der Hauptsache in der Fähigkeit des Jungen, lebensähnliche Bilder mit seiner Stimme zu erzeugen. Par war damals noch klein, gerade fünf oder sechs Jahre alt, und er verstand kaum, was ihm geschah. Coll war noch nicht kräftig genug, um seinen Bruder zu beschützen, also nahm Walker den Knaben schließlich unter seine Fittiche. Das schien völlig natürlich zu sein. Schließlich verstand nur Walker wirklich, was Par erlebte.
Seine Beziehung zu Par änderte alles. Sie gab ihm eine Richtung und einen Sinn jenseits der Sorge um sein eigenes Überleben. Er verbrachte viel Zeit mit Par, um ihm zu helfen, mit der Anwesenheit von Magie in seinem Körper zurechtzukommen. Er beriet ihn in ihrer Anwendung und lehrte ihn die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen, die anzuwenden er ebenfalls lernen mußte. Er versuchte, ihn zu lehren, wie er mit der Angst und der Abneigung der Leute umgehen konnte, die es nicht verstehen wollten. Er wurde zu Pars Mentor.
Die Bewohner von Shady Vale begannen ihn »Dunkler Onkel« zu nennen. Es fing bei den Kindern an. Er war natürlich nicht Pars Onkel, er war niemandes Onkel. Aber in den Augen der Dorfleute hatte er keine klare Blutsverwandtschaft, und niemand verstand wirklich die Beziehung, die er zu Jaralan und Mirianna hatte, also bestand keine Festlegung, nach der sie ihn zuordnen konnten. »Dunkler Onkel« blieb hängen. Walker war inzwischen groß, blaßhäutig und mit schwarzem Haar wie seine Mutter und offenbar immun gegen die bräunende Wirkung der Sonne. Er sah gespensterhaft aus. Den Dorfkindern kam er wie ein Nachtgeschöpf vor, das nie das Tageslicht erblickt, und seine Beziehung zu dem Jungen Par erschien ihnen mysteriös. So wurde er der »Dunkle Onkel«, der Magie-Ratgeber, der seltsame, verlegene, in sich gekehrte junge Mann, dessen Einsicht und Verstehen ihn von jedermann absetzten.
Ungeachtet des Namens »Dunkler Onkel« verbesserte sich Walkers Stellung. Er begann zu lernen, mit Ablehnung und Mißtrauen umzugehen. Er wurde nicht mehr angegriffen. Er merkte, daß er diese Attacken durch nicht viel mehr als einen Blick oder auch nur eine gewisse Körperhaltung ablenken konnte. Er konnte die Magie dazu benutzen, sich abzuschirmen. Er merkte, daß er Vorsicht und Zurückhaltung in andere projizieren und sie damit daran hindern konnte, ihre gewalttätigen Absichten auszuführen. Er wurde sogar recht geschickt darin, Streit zwischen anderen zu stoppen. Unglücklicherweise isolierte ihn das alles noch weiter. Die Erwachsenen und älteren Jugendlichen ließen ihn ganz und gar in Ruhe, nur die kleineren Kinder wurden zaghaft freundlicher.
Walker war in Shady Vale nie glücklich. Mißtrauen und Furcht blieben bestehen, nur ungenügend versteckt unter erzwungenem Lächeln, beiläufigem Kopfnicken und Höflichkeiten der Dorfleute, die es ihm ermöglichten, unter ihnen zu leben, ohne jemals akzeptiert zu werden. Walker wußte, daß die Magie Ursache seines Problems war. Sein Vater und seine Mutter mochten es als eine erfreuliche Gabe betrachtet haben, er nicht. Und er würde es auch nie können. Für ihn war es ein Fluch, der ihn bis ins Grab verfolgen würde, dessen war er sicher.
Als Walker das Mannesalter erreicht hatte, hatte er sich entschlossen, nach Hearthstone zurückzukehren, in sein Heim, an das er sich so gerne zurückerinnerte, fort von den Leuten in Vale, fort von Mißtrauen und Verdacht, von der Fremdheit, die sie ihn fühlen ließen. Der Junge Par hatte sich gut genug angepaßt, so daß Walker sich um ihn keine Sorgen mehr machte. Zunächst war Par in Vale geboren und wurde in einer Weise akzeptiert, die für Walker ausgeschlossen war. Darüber hinaus war Pars Einstellung zur Verwendung der Magie anders als Walkers. Par zögerte nie, er wollte alles kennen, was die Magie tun konnte. Was andere dachten, betraf ihn nicht. Die beiden hatten sich einander entfremdet, je älter sie wurden. Walker wußte, daß das unvermeidlich war. Es war Zeit, daß er ging. Jaralan und Mirianna drängten ihn zu bleiben, doch sie verstanden gleichzeitig, daß er das nicht konnte.
Sieben Jahre nach seiner Ankunft verließ Walker Boh Shady Vale. Er hatte inzwischen den Namen seiner Mutter angenommen, weil er den Namen Ohmsford, der ihn so eng mit dem inzwischen verhaßten Magievermächtnis verband, nicht leiden konnte. Er ging zurück nach Darklin Reach, zurück nach Hearthstone, und er kam sich vor, wie ein in einen Käfig gesperrtes, wildes Tier, das freigelassen worden war. Er brach mit dem Leben, das er hinter sich gelassen hatte. Er beschloß, nie wieder Magie zu benutzen. Er gab sich das Versprechen, für den Rest seines Lebens der Welt der Menschen fernzubleiben.
Fast ein Jahr lang tat er genau das, was er sich vorgenommen hatte. Und dann tauchte Cogline auf, und alles wurde anders …
Aus dem Halbschlaf erwachte Walker plötzlich, und die Erinnerungen verblaßten. Er bewegte sich in seinem warmen Bett und blinzelte. Für einen Augenblick konnte er sich nicht erinnern, wo er sich befand. Das Zimmer, in dem er lag, war taghell, trotz der massigen Waldbäume direkt vor dem Fenster. Das Zimmer war klein und sauber und fast ohne Möbel. Neben dem Bett standen ein kleiner Tisch und ein Stuhl, sonst nichts. Eine Vase mit Blumen, eine Schüssel Wasser und ein paar Kleider befanden sich auf dem Tisch, die einzige Tür war geschlossen.
Storlock. Da war er. Da hatte Cogline ihn hingebracht.
Dann erinnerte er sich, was geschehen war.
Er zog seinen zerstörten Arm unter der Bettdecke hervor. Er hatte wenig Schmerzen, doch der Stein war noch immer schwer, und er hatte kein Gefühl. Vor Wut und Enttäuschung biß er sich auf die Lippe, als sein Arm freikam. Außer dem Nachlassen der Schmerzen hatte sich nichts geändert. Der steinerne Stumpf, wo sein Unterarm zerschmettert worden war, war noch immer da. Die grauen Streifen, wo das Gift sich nach oben zu seiner Schulter arbeitete, waren ebenfalls noch da.
Er schob den Arm wieder aus seinem Blickfeld. Die Stors waren nicht in der Lage gewesen, ihn zu heilen. Was auch immer die Natur des Giftes war, das der Asphinx ihm eingespritzt hatte, die Stors konnten es nicht behandeln. Und wenn die Stors es nicht behandeln konnten – die Stors, die die besten Heilkundigen in den Vier Ländern waren …
Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Er schob ihn beiseite, schloß die Augen und versuchte, wieder einzuschlafen, doch es ging nicht. Das einzige, was er sehen konnte, war, wie sein Arm unter der Wucht der Steinaxt zersplitterte.
Verzweiflung überfiel ihn, und er weinte.
Eine Stunde war verstrichen, als die Tür aufging und Cogline ins Zimmer trat, ein Eindringling, dessen Anwesenheit die Stille noch unbehaglicher machte.
»Walker«, grüßte er leise.
»Sie können mich nicht retten, nicht wahr?« fragte Walker ohne Umschweife. Seine Verzweiflung verdrängte alles andere.
Der alte Mann wurde zu einer Statue neben seinem Bett. »Du lebst, nicht wahr?« erwiderte er.
»Mach keine Wortspiele mit mir. Was immer getan worden ist, es hat das Gift nicht rausgetrieben. Ich kann es spüren. Ich mag noch leben, aber nur für den Augenblick. Sag mir, ob ich mich irre.«
Cogline machte eine Pause. »Du irrst dich nicht. Das Gift ist noch immer in dir. Selbst die Stors haben keine Mittel, es zu entfernen oder seine Ausbreitung aufzuhalten. Doch sie haben den Prozeß verlangsamt, den Schmerz gelindert und dir Zeit gegeben. Das ist mehr, als ich erwartet hätte, in Anbetracht der Art und des Umfangs der Verletzung. Wie fühlst du dich?«
Walkers Lächeln war zögernd und bitter. »So, wie man sich fühlt, wenn man im Sterben liegt natürlich. Aber auf angenehme Weise.« Sie schauten einander einen Augenblick wortlos an. Dann ging Cogline zu dem Stuhl und ließ sich darauf nieder, ein Bündel aus alten Knochen, schmerzenden Gelenken und runzliger, brauner Haut. »Erzähl mir, was dir geschehen ist, Walker«, sagte er.
Walker tat es. Er berichtete ihm, wie er die alte, ledergebundene Druidengeschichte gelesen hatte, die Cogline ihm gegeben hatte; wie er da von dem schwarzen Elfenstein erfahren und den Entschluß gefaßt hatte, den Rat des Finsterweihers einzuholen; wie er dessen Rätsel angehört und die Visionen angeschaut, wie er daraus geschlossen hatte, daß er zur Halle der Könige gehen müsse, wo er das geheime, mit Runen markierte Fach auf dem Boden der Gruft gefunden hatte und schließlich vom Asphinx gebissen und vergiftet worden war, der dort hingebracht worden war, um ihm aufzulauern.
»Um jemandem aufzulauern jedenfalls, vielleicht irgendwem«, bemerkte Cogline.
Walker sah ihn scharf an, Mißtrauen und Zorn blitzten aus seinen Augen. »Was weißt du darüber, Cogline? Spielst du jetzt die gleichen Spiele wie die Druiden? Und was ist mit Allanon? Wußte Allanon …?«
»Allanon wußte gar nichts«, unterbrach ihn Cogline und wischte den Vorwurf beiseite, ehe er ausgesprochen werden konnte. Seine alten Augen funkelten unter den zusammengezogenen Brauen. »Du hast es unternommen, die Rätsel des Finsterweihers allein zu lösen – eine törichte Entscheidung von dir. Ich habe dich wiederholt gewarnt, daß der Geist einen Weg finden würde, dich zu vernichten. Wie sollte Allanon von deiner mißlichen Lage wissen? Du unterstellst einem Mann, der seit dreihundert Jahren tot ist, zu viel. Selbst wenn er noch lebte, könnte seine Magie niemals jenen Zauber, der die Halle der Könige abschirmt, durchdringen. Sobald du im Inneren warst, warst du für ihn verloren. Und für mich auch. Erst als du wieder herauskamst und am Hadeshorn zusammenbrachst, war er wieder in der Lage, zu erkennen, was geschehen war, und mich zu rufen, um dir zu helfen. Ich kam, so schnell ich konnte, und auch das brauchte drei Tage.«
Er hob eine Hand und stieß ihn mit seinem knochigen Finger an. »Hast du dir mal die Mühe gemacht, dich zu fragen, warum du nicht tot bist? Du bist nicht tot, weil Allanon einen Weg gefunden hat, dich am Leben zu halten, zuerst, bis ich ankam, und dann, bis die Stors dich behandeln konnten! Denk mal ein bißchen daran, ehe du anfängst, so leichthin Vorwürfe auszuteilen!«
Er funkelte ihn an, und Walker funkelte zurück. Es war Walker, der als erster den Blick abwandte, zu krank im Herzen, um die Konfrontation fortzusetzen. »Mir fällt es schwer, gerade jetzt irgendwem zu glauben«, bot er jämmerlich an.
»Dir fällt es schwer, irgendwem irgendwann zu glauben«, erwiderte Cogline schnippisch und unversöhnt. »Du hast dein Herz vor langer Zeit mit Eisen gepanzert, Walker. Du hast aufgehört, an irgendwas zu glauben. Ich erinnere mich an Zeiten, als das nicht der Fall war.«
Er versank in Gedanken, und es wurde still im Zimmer. Walker mußte unwillkürlich an die Zeit denken, die der alte Mann meinte, damals, als er zum ersten Mal bei Walker erschienen war und ihm angeboten hatte, ihm Wege zu zeigen, wie er die Magie nutzen konnte. Cogline hatte recht. Damals war er voller Hoffnung gewesen.
Er mußte beinahe lachen. Das lag schon so lange zurück.
»Vielleicht kann ich meine eigene Magie dazu verwenden, das Gift aus meinem Körper zu vertreiben«, erkühnte er sich leise. »Wenn ich erst wieder in Hearthstone bin und mich erholt habe. Brin Ohmsford hatte einst so große Macht.«
Cogline senkte den Blick und schaute nachdenklich drein. Seine knochigen Hände lagen lose auf den Falten seines Gewandes. Er sah aus, als versuche er, sich zu einer Entscheidung durchzuringen.
Walker wartete ein Weilchen, dann fragte er: »Was ist aus den anderen geworden – aus Par und Coll und Wren?«
Cogline hielt seinen Blick gesenkt. »Par ist auf die Suche nach dem Schwert gegangen, der junge Coll begleitet ihn. Das Mädchen sucht nach den Elfen. Sie haben die Aufträge, die Allanon ihnen gegeben hat, angenommen.« Er schaute auf. »Und du, Walker?«
Walker starrte zu ihm auf. Er fand die Frage gleichzeitig absurd und beunruhigend, war hin- und hergerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen von Unglauben und Ungewißheit. Einst hätte er nicht gezögert, die Antwort zu geben. Er dachte wieder an das, was Allanon ihn zu tun gebeten hatte: Bring das untergegangene Paranor und die Druiden zurück. Ein lächerliches, unmögliches Unterfangen, hatte er damals gedacht. Als alberne Spielchen hatte er es verdammt. Er wollte an solcher Dummheit nicht teilhaben, hatte er Par, Coll, Wren und den anderen der kleinen Gruppe verkündet, die mit ihm ins Tal von Shade gekommen waren. Er verachtete die Druiden wegen ihrer Manipulationen der Ohmsfords. Er würde sich nicht zu ihrer Marionette machen lassen. Er war so verwegen gewesen, so gewiß. Eher würde er sich eine Hand abhacken, als die Druiden wiederkommen sehen, hatte er verkündet.
Und der Verlust seiner Hand war der Preis, der gefordert worden war, so schien es.
Doch hatte der Verlust wirklich jeglicher Rückkehr von Paranor und den Druiden ein Ende gesetzt: Genauer gesagt, war das das, was er jetzt beabsichtigte?
Ihm war bewußt, daß Cogline ihn musterte und ungeduldig auf Walker Bohs Antwort auf seine Frage wartete. Walker hielt seinen Blick fest auf den alten Mann gerichtet, ohne ihn zu sehen. Er mußte plötzlich an die Druidengeschichte und die Legende von dem schwarzen Elfenstein denken. Wäre er nicht auf die Suche nach dem Elfenstein gegangen, hätte er seinen Arm nicht eingebüßt. Warum war er gegangen? Aus Neugierde, dachte er. Aber das war eine zu simple Antwort, und er wußte, daß es nicht so einfach war. Wie auch immer, war nicht allein die Tatsache, daß er trotz seines Protests gegangen war, ein Beweis dafür, daß er tatsächlich Allanons Auftrag angenommen hatte?
Und wenn nicht, was war es dann, was er getan hatte?
Er sah den alten Mann wieder an. »Sag mal, Cogline. Wo hast du das Buch der Druidengeschichte herbekommen? Wie hast du es gefunden? Als du es mir gebracht hast, sagtest du, daß du es aus Paranor geholt habest. Doch das stimmt gewiß nicht.«
Coglines Lächeln war dünn und ironisch. »Warum ›gewiß nicht‹, Walker?«
»Weil Paranor vor dreihundert Jahren von Allanon aus der Menschenwelt fortgeschickt worden ist. Es existiert nicht mehr.«
Coglines Gesicht runzelte sich wie zerknittertes Pergament. »Existiert nicht? Oh, doch, das tut es, Walker. Und du irrst dich. Jeder kann es erreichen, wenn er über die richtige Magie verfügt, die ihm dabei hilft. Selbst du.«
Walker zögerte plötzlich verunsichert.
»Allanon hat Paranor aus der Menschenwelt geschickt, doch es existiert nach wie vor«, sagte Cogline leise. »Es braucht nur die Magie des schwarzen Elfensteins, um es wieder herzuholen. Bis dahin bleibt es für die Vier Länder verloren. Doch es kann von denen, die die Mittel und den Mut haben, es zu versuchen, betreten werden. Es braucht Mut, Walker. Soll ich dir sagen, warum? Möchtest du die Hintergrundgeschichte meiner Reise nach Paranor hören?«
Walker zögerte wieder. Er fragte sich, ob er jemals wieder irgend etwas über die Druiden und ihre Magie hören wollte. »Ja.«
»Aber du bist nicht bereit, das, was ich dir erzählen werde, zu glauben, Walker, oder?«
»Ja.«
Der alte Mann lehnte sich vor. »Weißt du was? Ich lasse dich das selbst beurteilen.«
Er hielt inne und sammelte seine Gedanken. Das Tageslicht umrahmte ihn strahlend und zeigte die Bürden des Alters, die seine magere Gestalt zu Kanten und Höhlen geätzt und sein Haar und seinen Bart schütter gemacht hatten und die seine Hände zittern ließen, die er fest gefaltet hielt.
»Es war nach deiner Begegnung mit Allanon. Er fühlte, genau wie ich, daß du den Auftrag, der dir erteilt worden war, nicht annehmen würdest, daß du dich jeglicher Beteiligung widersetzen würdest, wenn du nicht eine gewisse Zusicherung dafür, daß es dir gelingen könnte, bekämest. Und daß du einen Grund brauchtest, um es zu wollen. Du unterscheidest dich in deiner Haltung von den anderen – du zweifelst an allem, was man dir sagt. Als du zu Allanon gekommen bist, plantest du schon im voraus, alles abzulehnen, was du hören würdest.«
Walker setzte zum Protest an, doch Cogline hob eilig die Hände und schüttelte mit dem Kopf. »Nein, Walker. Widersprich nicht. Ich kenne dich besser als du dich selbst. Hör mir jetzt einfach mal zu. Ich ging auf Allanons Bitte nach Norden, schien zu verschwinden und überließ es euch, miteinander zu debattieren, welchen Aktionskurs ihr einschlagen würdet. Deine Entscheidung lag schon im voraus fest. Du wolltest nicht tun, um was man dich bat. Und da das so war, beschloß ich, dich umzustimmen. Siehst du, Walker, ich glaube an die Träume; ich sehe die Wahrheit darin, die du noch nicht siehst. Ich wäre nicht Allanons Bote, wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, es zu umgehen. Meine Zeit als Druide ist seit langem abgelaufen, und ich suche nicht danach, wieder zu werden, was ich einmal war. Aber ich bin alles, was noch übrig ist, und da das so ist, werde ich tun, was ich für notwendig halte. Dich von deiner Weigerung, in die Angelegenheit verwickelt zu werden, abzubringen, erachte ich als lebensnotwendig.«
Der alte Mann zitterte vor Überzeugung, und der Blick, den er Walker schenkte, war einer, der versuchte, ihm Wahrheiten mitzuteilen, die er nicht aussprechen konnte.
»Ich ging, wie gesagt nach Norden, Walker. Ich verließ das Tal von Shale, überquerte die Drachenzähne und gelangte in das Tal des Druidenturms. Von Paranor sind nurmehr ein paar verfallene Nebengebäude auf einer kahlen Anhöhe übrig. Die Wälder umschließen noch immer die Stelle, wo es einst stand, doch in der Erde will nichts wachsen, nicht einmal der kleinste Grashalm. Die Dornenhecke, die die Burg einst schützte, ist verschwunden. Alles ist verschwunden – als habe ein Riese sich hinuntergebeugt und alles aufgeklaubt.
Ich stand dort kurz vor der Dämmerung und schaute auf die Leere, führte mir vor Augen, was dort einmal gewesen war. Ich konnte die Gegenwart der Burg spüren. Ich konnte sie beinahe aus den Schatten lauern sehen, wie sie sich vor dem dunkel werdenden östlichen Himmel erhob. Ich konnte fast die Form ihrer steinernen Türme und Mauern ausmachen. Ich wartete, denn Allanon wußte, was gebraucht wurde und wann die Zeit gekommen war.«
Die alten Augen starrten in die Ferne. »Ich schlief, als ich müde wurde, und Allanon erschien mir im Traum, wie er es jetzt mit allen von uns tut. Er bestätigte mir, daß Paranor tatsächlich noch immer dort sei, durch Zauber in eine andere Zeit an einen anderen Ort versetzt, doch trotzdem gleichzeitig dort. Er fragte mich, ob ich hineingehen und ein bestimmtes Buch mit der Druidengeschichte herausholen wolle, in dem die Mittel und Wege, mit denen Paranor den Vier Ländern wiedergebracht werden könne, beschrieben seien. Und er fragte, ob ich das Buch zu dir bringen würde.«
Er zögerte, überlegte, ob er noch mehr enthüllen sollte, und sagte dann einfach: »Ich stimmte zu. Da streckte er den Arm aus und nahm mich bei der Hand. Er hob mich von mir selbst fort, meinen Geist aus meinem Körper. Er hüllte mich in seine Magie. Ich wurde zeitweilig etwas anderes als der Mann, der ich bin – aber ich weiß nicht einmal jetzt, was dieses Etwas war. Er erklärte mir, was ich zu tun hätte. Ich ging allein an die Stelle, wo einst die Mauern der Burg gestanden hatten, schloß meine Augen, so daß sie mich nicht täuschen konnten, und tastete in Welten, die jenseits unserer eigenen liegen, nach der Form, die einst gewesen war. Ich stellte fest, daß ich das tun konnte. Stell dir mein Erstaunen vor, als Paranors Mauern sich plötzlich unter meinen Fingern materialisierten. Ich wagte einen schnellen Blick, doch es war nichts zu sehen. Ich mußte wieder von vorn beginnen. Selbst als Geist konnte ich die Magie nicht durchdringen, wenn ich ihre Regeln brach. Diesmal hielt ich meine Augen fest geschlossen, tastete wieder nach den Mauern, entdeckte die verborgene Falltür im Fundament, drückte auf den Riegel, der das Schloß aufschnappen ließ, und trat ein.«
Cogline preßte die Lippen zusammen. »Dann durfte ich die Augen öffnen und mich umschauen. Walker, es war das alte Paranor, eine großartige, weitläufige Festung mit Türmen, die in den Nebel hinaufragten, und Befestigungsmauern, die in ewige Ferne reichten. Es kam mir endlos vor, als ich die Treppen hinaufstieg und durch die Säle wanderte. Ich war wie eine Ratte im Labyrinth. Die Burg roch und schmeckte nach Tod. Die Luft hatte eine seltsam grünliche Färbung, alles war davon umhüllt. Hätte ich versucht, in meinen Körper aus Fleisch und Blut zurückzukehren, wäre ich auf der Stelle zerstört worden. Ich konnte fühlen, wie der Zauber noch immer an der Arbeit war und die steinernen Flure nach irgendwelchen Lebenszeichen absuchte. Die Öfen, die einst von den Feuern im Erdkern gespeist wurden, waren stumm, und Paranor war kalt und leblos. Als ich in die oberen Säle gelangte, fand ich Haufen von Knochen, grotesk und mißgebildet, die Überreste der Mordgeister und Gnomen, die Allanon dort eingefangen hatte, als er die Magie angerufen hatte, um Paranor zu verzaubern. Nichts lebte in der Druidenfestung außer mir selbst.«
Er schwieg ein Weilchen in Erinnerungen versunken. »Ich suchte das Gewölbe auf, wo die Druidengeschichte versteckt war. Ich hatte ein Gespür dafür, wo sie war, unterstützt zum Teil durch die Zeit, die ich in Paranor studiert hatte, zum Teil durch Allanons Magie. Ich suchte die Bibliothek auf, durch die man in das Gewölbe gelangte und stellte dabei fest, daß ich Dinge berühren konnte, als sei ich noch immer ein Geschöpf aus Substanz und nicht aus Geist. Ich tastete an den staubigen, abgenutzten Bücherregalen entlang, bis ich den Riegel fand, der die Türen öffnete, die hineinführten. Sie schwangen weit auf, und der Zauber wich vor mir zurück. Ich trat ein, fand die Druidengeschichte und nahm den Band, der gebraucht wurde, von seinem Ruheplatz.«
Coglines Blick wanderte durch den sonnendurchfluteten Raum und suchte Visionen, die Walker verborgen waren. »Dann ging ich wieder. Ich nahm denselben Weg zurück, auf dem ich gekommen war, ein Geist aus der Vergangenheit wie jene, die dort gestorben waren, spürte das Frösteln ihres Todes und die unmittelbare Nähe meines eigenen. Im Halbschlaf stieg ich die Treppen hinunter und ging die Flure entlang und fühlte und sah gleichzeitig das Grauen dessen, was jetzt die Festung der Druiden beherrschte. Solche Kraft, Walker! Der Zauber, den Allanon heraufbeschwor, war auch jetzt noch schreckenerregend. Ich flüchtete davor, als ich fortging – nicht zu Fuß, verstehst du, sondern im Geiste. Ich war zu Tode verängstigt!«
Die Augen schwenkten zurück. »Also entkam ich. Und als ich erwachte, war ich im Besitz des Buches, das ich zu holen gesandt worden war, und brachte es zu dir.«
Er verstummte und wartete geduldig, während Walker seine Geschichte überdachte. Walkers Blick war in die Ferne gerichtet. »Es ist also möglich? Man kann Paranor also betreten, obwohl es in den Vier Ländern nicht mehr existiert?«
Cogline schüttelte langsam den Kopf. »Nicht die gewöhnlichen Menschen.« Er runzelte die Stirn. »Aber du vielleicht. Mit der Hilfe des schwarzen Elfensteins.«
»Mag sein«, stimmte Walker düster zu. »Was für eine Magie besitzt der Elfenstein?«
»Ich weiß nicht mehr darüber als du«, erwiderte Cogline ruhig.
»Nicht einmal, wo man ihn finden kann? Oder wer ihn hat?«
Cogline schüttelte den Kopf. »Gar nichts.«
»Gar nichts.« Walkers Stimme klang bitter. Er hielt die Augen eine Weile gegen das, was er fühlte, geschlossen. Als er sie öffnete, war er resigniert. »So sieht die Sache für mich aus. Du erwartest von mir, daß ich Allanons Auftrag, das verschwundene Paranor zurückzuholen und die Druiden wiederzubringen, annehme. Ich kann das nur tun, wenn ich mir zunächst den schwarzen Elfenstein beschaffe. Doch weder du noch ich wissen, wo er sich befindet oder wer ihn hat. Und außerdem bin ich von dem Gift des Asphinx infiziert und werde langsam in Stein verwandelt. Ich liege im Sterben! Und selbst wenn ich überzeugt wäre …« Seine Stimme krächzte, und er schüttelte den Kopf. »Siehst du das denn nicht? Die Zeit reicht nicht aus!«
Cogline schaute aus dem Fenster und kauerte sich in seinen Gewändern zusammen. »Und wenn sie doch reichte?«
Walkers Lachen klang hohl, seine Stimme müde. »Cogline, ich weiß es nicht.«
Der alte Mann erhob sich. Er schaute lange Zeit auf Walker hinunter, ohne etwas zu sagen. »Doch, du weißt es«, erklärte er dann und faltete seine Hände. »Walker, du beharrst auf deiner Weigerung, die Wahrheit dessen, was sein soll, zu akzeptieren. Du erkennst diese Wahrheit tief in deinem Herzen, doch du willst sie nicht beachten. Woran liegt das?«
Walker starrte ihn wortlos an.
Cogline zuckte mit den Achseln. »Das ist alles, was ich zu sagen habe. Ruhe dich aus, Walker. In ein oder zwei Tagen wirst du weit genug wiederhergestellt sein, daß du fortgehen kannst. Die Stors haben alles getan, was sie können; deine Heilung, falls es eine gibt, muß aus einer anderen Quelle kommen. Ich werde dich nach Hearthstone zurückbringen.«
»Ich werde mich selbst heilen«, flüsterte Walker. Seine Stimme klang plötzlich dringlich, voller Verzweiflung und Wut gleichzeitig.
Cogline reagierte nicht. Er raffte nur seine Gewänder zusammen und verließ das Zimmer. Die Tür schloß sich leise hinter ihm.
»Das werde ich«, schwor Walker Boh.