Die sechs Gefährten aus Rampling Steep verbrachten den Rest der Nacht im Schutz der Felsnische, schweigend in der Dunkelheit zusammengekauert, verborgen vor dem Malmschlund und was sonst an Schrecken in Eldwist wartete. Sie machten kein Feuer – es gab ja kein Holz –, und sie aßen sparsam von ihrer mageren Nahrung. Essen und Trinken würde in den kommenden Tagen zu einem Problem werden, weil in diesem Land aus Stein von beidem nur wenig zu finden war. Fisch würde der Hauptbestandteil ihrer Ernährung werden; ein kleiner Regenwasserbach, der hinter ihnen die Felsen herunterplätscherte, würde ihren Durst löschen. Wenn die Fische schwer zu fangen waren oder der Bach eintrocknete, wären sie in ernsten Schwierigkeiten.
Keiner von ihnen fand viel Schlaf nach dem Erscheinen des Malmschlunds. Lange Zeit versuchten sie es nicht einmal. Ihr Unbehagen war offenkundig, während sie die Nacht abwarteten. Quickening nutzte die Zeit, den anderen kundzutun, was sie über das Kind des Steinkönigs wußte. »Mein Vater erzählte mir von dem Malmschlund, als er mich aus den Gärten sandte«, begann sie. Ihre schwarzen Augen waren in die Ferne gerichtet, ihr Silberhaar schimmerte im Mondlicht. Sie saßen im Halbkreis, den Rücken an die Felswand gelehnt, und schauten hin und wieder furchtsam zu den abweisenden Schatten der Stadt. Alles war still. Der Malmschlund war ebenso mysteriös verschwunden, wie er aufgetaucht war, die Seevögel schliefen in ihren Horsten, und der Wind hatte sich gelegt.
Quickening sprach leise. »So wie ich das Kind des Königs vom Silberfluß bin, ist der Malmschlund das Kind von Uhl Belk. Beide sind wir durch Magie gemacht, beide, um unseren Vätern zu dienen. Wir sind Elementarwesen, Geschöpfe der Erde, geboren aus dem Boden, nicht aus dem Leib einer Frau. Wir sind weitgehend gleich, der Malmschlund und ich.«
Das war eine so abwegige Vorstellung, daß Morgan Leah große Mühe hatte, nicht zu widersprechen. Er hielt sich nur deshalb zurück, weil durch das Aussprechen eines Einwandes nichts zu gewinnen war und von dem Verlauf des eigentlichen Berichts abgelenkt worden wäre.
»Der Malmschlund wurde zu einem einzigen Zweck geschaffen«, fuhr Quickening fort. »Eldwist ist eine Stadt der Alten Welt, die der Zerstörung durch die Großen Kriege entgangen ist. Die Stadt und das Land, auf der sie steht, sind das Königreich Uhl Belks, seine Zuflucht, seine Festung gegen jeglichen Übergriff von der Welt draußen. Für einige Zeit war das ausreichend. Er war zufrieden damit, sich in seinem Gestein zu verkriechen und von allem anderen fernzuhalten. Doch sein Hunger nach Macht und seine Angst, sie zu verlieren, quälten ihn ohne Unterlaß. Schließlich gewannen sie die Oberhand. Er kam zu der Überzeugung, daß, wenn er die Welt außerhalb von Eldwist nicht veränderte, sie ihn irgendwann verändern würde. Er beschloß, sein Königreich nach Süden auszudehnen. Doch um das zu tun, mußte er den Schutz von Eldwist verlassen, und das war ausgeschlossen. Wie bei meinem Vater wird seine Magie schwächer, je weiter er sich von ihrer Quelle entfernt. Uhl Belk weigerte sich, ein solches Risiko einzugehen. Statt dessen schuf er den Malmschlund und sandte sein Kind statt seiner hinaus.«
»Der Malmschlund«, flüsterte sie, »sah einst aus wie ich. Er hatte Menschengestalt und bewegte sich wie ich. Er besaß einen Teil der Magie seines Vaters wie ich. Doch während ich die Kraft erhielt, das Land zu heilen, erhielt der Malmschlund die Kraft, es in Stein zu verwandeln. Seine bloße Berührung war alles, was es brauchte. Durch Berührung nährte er sich von der Erde und allem, was darauf wuchs, und alles wurde zu Stein.
Doch Uhl Belk wurde ungeduldig mit seinem Kind, denn die Versteinerung des umliegenden Landes ging ihm nicht schnell genug. Umschlossen vom Gezeitenstrom, den seine Magie nicht angreifen kann, saß er auf seinem Stückchen Land in der Falle, und nur die schmale Landenge bot ihm den Weg nach Süden, und nur der Malmschlund konnte diesen Zugang ausweiten. Der Steinkönig flößte seinem Kinde immer größere Mengen seiner eigenen Magie ein, gierig auf schnellere, weitreichendere Ergebnisse. Der Malmschlund fing als Folge der immer größeren Machtzugaben an, seine Gestalt zu verändern und sich in etwas zu transformieren, das dem, was sein Vater wünschte, angemessener war. Er wurde maulwurfartig. Er begann, Stollen in den Boden zu graben und stellte fest, daß der Wandel von unten her schneller ging als von oben. Er wuchs, während er fraß, und veränderte sich weiter. Er wurde zu einem Wühlwurm von gigantischen Ausmaßen.«
Sie machte eine Pause. Dann fuhr sie fort: »Und er verlor den Verstand. Zu viel Macht, zu schnell eingeflößt, machte ihn wahnsinnig. Aus dem denkenden, vernünftigen Geschöpf wurde ein so vernunftloses Wesen, das nichts anderes als Fressen konnte. Es ging nach Süden und grub sich tiefer und tiefer. Das Land wandelte sich schnell, doch der Malmschlund veränderte sich noch schneller. Und eines Tages verlor Uhl Belk alle Kontrolle über sein Kind.«
Sie schaute hinüber auf die dunkle Silhouette der Stadt und dann wieder auf ihre Gefährten. »Der Malmschlund begann seinen Vater zu verfolgen, wenn er sich nicht gerade durch das Land fraß. Ihm war die Macht bewußt geworden, die der Steinkönig besaß, und er war gierig darauf, sie an sich zu reißen. Uhl Belk begriff, daß er ein zweischneidiges Schwert erschaffen hatte. Auf der einen Seite untergrub der Malmschlund die Vier Länder und verwandelte sie zu Stein. Auf der anderen untergrub er auch Eldwist und suchte nach einem Weg, ihn zu zerstören. Der Malmschlund war so stark geworden, daß Vater und Sohn sich die Waage hielten. Der Steinkönig lief Gefahr, von seiner eigenen Waffe besiegt zu werden.«
»Konnte er nicht einfach seinen Sohn zurückverwandeln?« fragte Carisman mit weit aufgerissenen Augen.
Quickening schüttelte den Kopf. »Nicht mehr, als er daran dachte, etwas zu ändern. Da war es zu spät. Der Malmschlund wollte sich nicht verändern lassen – auch wenn, wie mein Vater mir sagte, ein Teil von ihm erkannte, was für ein Horrorwesen er geworden war, und sich nach Erlösung sehnte. Doch offenbar war dieser Teil zu schwach, um sich durchzusetzen.«
»Und so wühlt er unter der Erde und bejammert sein Schicksal«, murmelte der Sänger. Er begann zu singen:
»Gestaltet wie ein Menschenkind,
dem Steinkönig zu dienen,
wühlt Malmschlund sich durch Feld und Land.
Geschaffen von des Vaters Hand,
wurde ein Monster aus dem Kind,
ohn’ Hoffnung, frei zu fliehen.
Er jagt.«
»Er jagt allerdings« wiederholte Morgan Leah. »Uns jagt er voraussichtlich auch bald.«
Quickening schüttelte den Kopf. »Er merkt nicht einmal, daß es uns gibt, Morgan. Wir sind zu klein und viel zu unbedeutend, um seine Aufmerksamkeit zu erwecken. Bis zu dem Augenblick, in dem wir unsere Magie benutzen, heißt das. Dann merkt er es.«
Es herrschte nachdenkliche Stille. »Was tat er, als wir ihn vorhin sahen?« fragte Horner Dees schließlich.
»Schrie seine Gefühle heraus – seine Wut, seine Enttäuschung, seinen Haß und seinen Wahnsinn.« Sie machte eine Pause. »Seinen Schmerz.«
»Genau wie der Koden ist er ein Gefangener von des Steinkönigs Magie«, sagte Walker Boh. Seine scharfen Augen fixierten das Mädchen. »Und irgendwie ist es Uhl Belk gelungen, jene Magie in seinem Besitz zu halten, nicht wahr?«
»Er ist in den Besitz des schwarzen Elfensteines gelangt«, erwiderte sie. »Er verließ Eldwist gerade lange genug, um ihn aus der Halle der Könige zu stehlen und durch den Asphinx zu ersetzen. Er trug ihn in seine Feste zurück und setzte ihn gegen sein Kind ein. Der Besitz der Elfenmagie ließ die Waage der Kraft wieder zu Uhl Belks Gunsten ausschlagen. Nicht einmal der Malmschlund ist stark genug gegen den Stein.«
»Ein Zauber, der die Kraft anderer Zauber zunichte machen kann«, zitierte Pe Ell nachdenklich. »Ein Zauber, der sie zu seinem eigenen Vorteil umkehren kann.«
»Der Malmschlund bedroht seinen Vater noch immer, doch den Elfenstein kann er nicht besiegen. Er lebt noch, weil Uhl Belk will, daß er weiterhin das Land frißt, daß er fortfährt, alles Lebende in Stein zu verwandeln. Der Malmschlund ist ein nützlicher, wenn auch gefährlicher Sklave. Bei Nacht gräbt er Tunnel in den Boden. Bei Tag schläft er. Wie der Koden ist er blind – durch die Magie und durch die Natur seiner Tätigkeit – gräbt in der Finsternis und sieht selten das Licht.« Sie schaute wieder zur Stadt hinüber. »Er wird vermutlich nie erfahren, daß wir hier sind, wenn wir uns in acht nehmen.«
»Also haben wir nichts anderes zu tun, als den Elfenstein zu stehlen«, lächelte Pe Ell. »Den Elfenstein stehlen, und Vater und Sohn einander auffressen lassen. Nicht weiter kompliziert, oder?« Er sah Quickening scharf an. »Oder?«
Sie begegnete seinem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, doch sie gab ihm keine Antwort. Pe Ells Lächeln wurde eisig, als er sich in den Schatten zurücklehnte.
Eine Weile herrschte angespanntes Schweigen, dann wandte sich Morgan Leah an Horner Dees: »Was ist mit diesem Schleicher, von dem du gesprochen hast?«
Auch Dees schaute mürrisch drein. Er beugte sich schwerfällig nach vorn, und seine Augen verengten sich mißtrauisch. »Vielleicht kann das Mädchen dir mehr darüber sagen«, antwortete er leise. »Ich habe das Gefühl, sie weiß noch eine ganze Menge mehr und sagt es uns nicht.«
Quickenings Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck, kalt und perfekt sah sie den alten Fährtensucher an. »Ich weiß, was mein Vater mir erzählt hat, Horner Dees – sonst nichts.«
»König vom Silberfluß, Herr der Gärten des Lebens«, knurrte Pe Ell aus dem Schatten. »Hüter finsterer Geheimnisse.«
»Wie du gesagt hast, gibt es einen Schleicher in der Stadt Eldwist«, fuhr Quickening fort. Sie ignorierte Pe Ell, und ihr Blick war auf Dees gerichtet. »Uhl Belk nennt ihn den Kratzer. Der Kratzer ist schon seit vielen Jahren dort, ein Straßenkehrer für Lebewesen, der den Bedürfnissen seines Herrn dient. Er kommt in der Dunkelheit heraus und reinigt die Straßen und Gehsteige der Stadt. Wir werden uns sehr vor ihm hüten müssen, wenn wir hineingehen.«
»Ich hab’ ihn bei der Arbeit gesehen«, knurrte Dees. »Vor zehn Jahren nahm er ein halbes Dutzend von uns beim ersten Durchgang, und zwei weitere kurz darauf. Er ist groß und schnell.« Er erinnerte sich jetzt, und sein Zorn auf Quickening schien sich aufzulösen. Zweifelnd schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht, er stöbert dich auf, findet dich und bringt dich um. Wenn’s sein muß, geht er auch in die Gebäude. Tat er damals jedenfalls.«
»Dann wäre es also ratsam, den schwarzen Elfenstein so schnell wie möglich zu finden, nicht wahr?« flüsterte Pe Ell.
Dann verstummten sie, und nach einer Weile zog sich einer nach dem anderen in die Schatten zurück. Den Rest der Nacht versuchten sie zu schlafen. Morgan döste ein, doch nie lange. Walker saß am Felsrand und betrachtete die Stadt, als der Hochländer einnickte, und saß noch immer dort, als er wieder aufwachte. Sie waren alle müde und erschöpft – alle außer Quickening. Sie stand frisch und schön im schwachen Licht des Sonnenaufgangs, so hinreißend wie bei ihrer ersten Begegnung. Morgan störte das irgendwie. Sie war in dieser Hinsicht gewiß mehr als gewöhnlich. Er beobachtete sie und schaute schnell weg, als sie sich zu ihm umdrehte, weil er fürchtete, ertappt zu werden. Es störte ihn, daß es zwischen ihnen doch Unterschiede geben könnte, und schlimmer noch, daß diese Unterschiede beträchtlich sein könnten.
Sie frühstückten ebenso lustlos, wie sie am Vorabend zu Abend gegessen hatten. Das Land hatte eine öde, bedrohliche Ausstrahlung und beobachtete sie aus verborgenen Augen. Nebel hing über der Halbinsel, stieg von den Klippen, auf denen die Stadt ruhte, bis hinauf zu den Spitzen der höchsten Türme und ließ den Eindruck entstehen, Eldwist stünde in den Wolken. Die Seevögel waren wieder da, Möwen, Taucher und Seeschwalben, und segelten rufend über den schwarzen Wassern des Gezeitenstroms. Mit der Morgendämmerung war die Luft feucht geworden, und Wassertröpfchen perlten auf der Haut der sechs Gefährten.
Nachdem Dees sie vor dem gewarnt hatte, was ihnen bevorstand, sammelten sie Regenwasser aus Pfützen hoch in den Felsen, verpackten die wenigen Nahrungsmittel, die ihnen blieben, gegen die Nässe und machten sich auf, die Landenge zu überqueren.
Sie brauchten länger, als sie gedacht hatten. Die Entfernung war nicht groß, aber der Weg war trügerisch. Der Felsen war kreuz und quer von Spalten durchzogen, die Oberfläche durch frühere Umwälzungen aufgebrochen, feucht und glitschig unter ihren Füßen vom Sprühwasser der stetigen Wellenbrecher des Ozeans. Der Wind blies in scharfen Böen und schleuderte ihnen eisiges Wasser ins Gesicht. Sie kamen nur langsam voran. Die Sonne hing als diesiger weißer Ball hinter niedrigen Wolken, und das Land vor ihnen war voller Schatten. Eldwist erhob sich vor ihnen, eine Ansammlung undeutlicher Formen, dunkel, abweisend und still. Sie sahen die Stadt größer werden, als sie sich näherten, hoch in den dunklen Himmel ragen, und der Wind heulte durch die Straßenschluchten.
Manchmal fühlten sie ein Beben unter ihren Füßen, weit entfernt, doch bedrohlich vertraut. Offenbar schlief der Malmschlund doch nicht immer während der Tagesstunden.
Mittag rückte näher. Die Landenge, die an manchen Stellen so schmal war, daß sie zu beiden Seiten in dunkle strudelnde Hexenkessel abfielen, verbreiterte sich schließlich zu der Halbinsel und den Außenbezirken der Stadt. Vor ihnen erhoben sich die Klippen, auf denen Eldwist erbaut worden war, und die Gruppe war gezwungen, auf ein breites Schanzwerk zu klettern. Sie folgten einem gewundenen Pfad zwischen riesigen Steinblöcken hindurch, der voller Geröll war und sie ständig stolpern und ausrutschen ließ, doch sie strebten entschlossen weiter.
Sie brauchten fast zwei Stunden, bis sie schließlich oben angekommen waren. Die Sonne neigte sich schon deutlich dem westlichen Horizont zu.
Sie machten eine Verschnaufpause am Stadtrand am Ende einer gepflasterten Straße, die zwischen hochaufragenden Gebäuden mit hohlen Fensterlöchern verlief und sich stetig verengte, bis sie sich in nebligen Schatten verlor. Morgan Leah hatte noch nie eine Stadt wie diese gesehen. Die Gebäude waren alle aus Stein, glatt und ebenmäßig und symmetrisch angeordnet wie die Felder auf einem Schachbrett. Steinsplitter lagen über die Straße verstreut, doch unter dem Geröll konnte er die harte, glatte Oberfläche erkennen. Es sah aus, als führe sie immer weiter, als habe sie kein Ende, ein langer, enger Korridor, der erst verschwand, wo der Nebel zu dicht wurde, als daß das Auge ihn durchdringen konnte.
Sie gingen darauf entlang, langsam und vorsichtig, lauschend und beobachtend wie Katzen auf der Pirsch. Andere Straßen kreuzten zwischen den Gebäuden und verschwanden ihrerseits rechts und links im Schatten. Es gab keine schützenden Mauern um Eldwist herum, keine Wachtürme oder Befestigungsmauern oder Stadttore, nur die Bauwerke und die Straßen, die an ihnen entlangführten. Nichts schien hier zu leben. Straßen und Häuser kamen und gingen, während sie tiefer hineindrangen, und die einzigen Geräusche stammten vom Ozean, den Seevögeln und dem Wind. Die Vögel flogen über ihren Köpfen herum, die einzigen Anzeichen irgendeiner Bewegung, kreisten um die Gebäude, segelten die Straßen hinunter über die Querstraßen und die Laufstege. Manche hockten in Nestern auf den Fenstersimsen über ihren Köpfen. Nach einer Weile sah Morgan, daß einige von denen, die er in ihren Nestern hockend geglaubt hatte, versteinert waren.
Ein großer Teil des Schutts, der überall herumlag, war einst etwas anderes als Stein gewesen. Seltsame Pfosten standen an allen Straßenecken, und es ließ sich vermuten, daß es einst irgendwelche Laternen gewesen sein mochten. Das Skelett eines riesigen Wagens lehnte umgekippt an einer Hausmauer, eine Maschine, deren Gebein von ihrem Fleisch entblößt worden war. Motorteile, die Zeit und Wetter überdauert hatten, lagen überall verstreut, Lenkräder und Zylinder, Schwungräder und Tanks. Alles war zu Stein geworden. Es gab nichts Gewachsenes, weder Bäume noch Sträucher, nicht einmal den winzigsten Grashalm.
Sie schauten in einige der Häuser und fanden die Räume kellerartig und leer. Treppen führten in das steinerne Gehäuse hinauf, und sie stiegen in einem bis ganz nach oben, um von dort aus einen Ausblick über Eldwist zu haben und sich zu orientierten. Viel ließ sich auch von dort oben nicht erkennen, nicht einmal, wo die Stadt begann und endete. Wolken und Nebel verhüllten alles und ließen in dem wirbelnden grauen Nebelmeer nur hier und da einen Blick auf Fassaden und Dächer zu.
Sie sichteten allerdings eine merkwürdige Kuppel im Zentrum von Eldwist, eine Konstruktion, die sich von den großen Obelisken, die sonst das Stadtbild prägten, unterschied, und sie beschlossen, sie als nächstes zu erforschen.
Doch als sie wieder unten auf der Straße angelangt waren, verloren sie ihre Orientierung und gingen in die falsche Richtung. Sie marschierten fast eine Stunde lang, bis ihnen klar wurde, daß sie einen Fehler gemacht hatten, und waren gezwungen, in einem anderen Haus die Treppen hinaufzusteigen, um ihren Standort zu bestimmen.
Währenddessen ging die Sonne unter. Keiner von ihnen hatte darauf geachtet, wie schnell das Tageslicht schwand.
Als sie wieder unten ankamen, waren sie überrascht, die Stadt im Finstern vorzufinden.
»Wir sollten lieber sofort ein Versteck suchen«, warnte Homer Dees und schaute sich unbehaglich um. »Der Kratzer wird bald hervorkommen, falls er es nicht schon getan hat. Und wenn er uns ungeschützt findet …«
Er brauchte den Gedanken nicht zu Ende auszusprechen. Sie starrten einander einen Moment wortlos an. Keiner von ihnen hatte sich die Mühe gemacht, Ausschau nach einen Unterschlupf für die Nacht zu halten.
Dann meinte Walker Boh: »Ein paar Straßen zurück war ein kleineres Gebäude ohne Fenster in den Untergeschossen und mit einer kleinen Tür, einem Labyrinth von Fluren und Zimmern im Inneren – wie ein Kaninchenbau.«
»Das muß es tun«, murmelte Pe Ell und machte sich schon auf den Weg.
Sie gingen wieder zurück. Es war inzwischen so dunkel geworden, daß sie Schwierigkeiten hatten, den Weg zu finden. Die Gebäudemauern ragten zu beiden Seiten hoch auf, vom dichter werdenden Nebel noch solider gemacht. Die Seevögel waren wieder zu ihren Schlafplätzen geflogen und die Geräusche von Ozean und Wind zu einem fernen Rauschen abgeflaut. Die Stadt war unangenehm still.
Unter ihnen rumpelte und bebte die steinerne Hülse der Erde.
»Irgend etwas ist aufgewacht und hungrig«, murmelte Pe Ell und lächelte Carisman kalt an.
Der Sänger kicherte nervös. Sein hübsches Gesicht war weiß und angespannt.
Er begann zu singen:
»Verschwinde, beeil dich, lauf schnell nach Haus,
schlüpf unter die Decke, komm nicht mehr heraus.
Verbirg dich geschwind vor den Dingen der Nacht,
und bleib dort verborgen, bis der Morgen erwacht.«
Sie gingen über eine Querstraße, die von fahlem Mondlicht überflutet war, das eine Lücke in der Wolkendecke gefunden hatte und wie weißes Feuer herunterströmte. Pe Ell blieb abrupt stehen, ließ die anderen ebenfalls anhalten, lauschte, schüttelte den Kopf und ging weiter. Das Rumpeln unter ihnen kam und ging, manchmal ganz nah, manchmal fern, es entstand niemals an einer bestimmten Stelle, sondern schien überall rundum zu sein. Morgan Leah schaute angestrengt um sich, durch den Nebel und die Schatten. War das die gleiche Straße, die sie zuvor entlanggekommen waren? Sie sah irgendwie anders aus …
Plötzlich knackte es laut. Pe Ell, der noch immer vorneweg ging, sprang zurück und stieß mit Horner Dees und Quickening zusammen, die direkt hinter ihm waren, und beide stürzten übereinander, wenige Zentimeter vom Rand eines gähnenden Lochs, daß sich in der Straße aufgetan hatte.
»Zurück an die Hausmauer!« rief er, sprang auf die Füße, riß gleichzeitig Quickening mit hoch und floh mit ihr von dem Rand der Einbruchstelle.
Die anderen waren nur einen Schritt hinter ihnen. Ein anderer Teil der Straße brach ein, diesmal hinter ihnen, und sackte laut krachend in die Finsternis. Das Rumpeln unter ihnen steigerte sich ohrenbetäubend, und sie konnten hören, wie sich etwas Gigantisches unter ihnen bewegte. Morgan quetschte sich tief in eine Mauernische und unterdrückte einen Angstschrei. Der Malmschlund! Horner Dees war neben ihm, sein bärtiges Gesicht abgewandt. Das Donnern des Monsters, das sich unter ihnen bewegte, steigerte sich noch und wurde dann wieder leiser. Wenige Sekunden später war es fort.
Die Mitglieder der kleinen Gruppe kamen mit bleichen Gesichtern und weit aufgerissenen Augen einer nach dem anderen wieder aus ihren Verstecken. Vorsichtig betraten sie die Straße und fuhren heftig zusammen, als sich die Löcher in der Straße wieder schlossen. Die eingestürzten Teile hoben sich wieder an ihren Platz.
»Falltüren!« zischte Pe Ell. Furcht und Abscheu standen in seinem Gesicht. Morgan erhaschte einen Blick auf etwas Weißes in seiner Hand, irgendeine Art Messer aus glänzendem Metall. Dann war es wieder verschwunden.
Pe Ell ließ Quickening los, wandte sich von ihnen ab und ging wieder die Straße hinunter, diesmal jedoch auf dem Gehsteig nahe der Hausmauern. Wortlos folgten ihm die anderen. Ihre Blicke huschten wachsam umher. Im Gänsemarsch hasteten sie den Gehsteig entlang, überquerten eine Seitenstraße und eilten weiter. Das Donnern war wieder zu hören, doch diesmal weit entfernt. Die Straßen um sie herum waren wieder still und leer.
Morgan Leah zitterte noch. Die Falltüren waren entweder dazu eingerichtet, Eindringlinge zu fangen, oder dem Malmschlund den Zugang in die Stadt zu ermöglichen. Vermutlich beides. Er schluckte gegen die Trockenheit in seiner Kehle an. Sie waren unvorsichtig gewesen. Sie mußten wirklich besser aufpassen.
Eine dichte Nebelwand versperrte den Weg nach vorn. Pe Ell zögerte, als sie sich ihr näherten, und blieb dann stehen. Er sah sich nach Walker Boh um, den Blick hart und durchdringend. Eine wortlose Verständigung fand zwischen ihnen statt, ein Blickaustausch, der Morgan beinahe animalisch vorkam. Walker schaute nach rechts. Pe Ell zögerte einen Moment, dann wandte er sich in die Richtung.
Sie gingen jetzt langsamer weiter und lauschten wieder in die Stille. Der Nebel war überall, fiel aus den Wolken, stieg aus den Steinen auf von überall her und hüllte sie ein. Sie hielten die Arme ausgestreckt, um an den Mauern entlangzustreichen. Pe Ell untersuchte ihren Weg sorgfältig. Ihm war jetzt klar, daß die Stadt voll von solchen Fallen sein mußte und daß irgendein Teil des Steinpflasters ohne Vorwarnung unter ihnen nachgeben konnte.
Vor ihnen lichtete sich der Nebel etwas.
Morgan glaubte etwas gehört zu haben, dann entschied er, daß er es nicht gehört, sondern gespürt hatte. Aber was?
Sie tauchten aus dem Gebäudeschatten, und dort wartete die Antwort. Der Kratzer stand mitten auf der Straße, ein riesiges, breitbeiniges Metallmonster mit Dutzenden von Tentakeln und Fühlern, Zangen, die aus seinem Maul ragten, und einem Peitschenschwanz. Es war ein Schleicher wie jener, dem die Geächteten von der Bewegung beim Jut begegnet waren, aus Fleisch und Metall, ein hybrider Alptraum zwischen Maschine und Insekt. Nur, daß dieser hier viel größer war.
Und viel schneller. Er stürmte auf sie zu und hatte sie schon fast erreicht, ehe sie reagierten. Auf seinen breit abgewinkelten Beinen bewegte er sich wie ein Tausendfüßler. Die Tentakel peitschten, und das Metall, das über den Stein kratzte, machte ein Geräusch, das einem eine Gänsehaut verursachte. Die Tentakel bekamen Dees und Carisman zu fassen und wickelten sich um die beiden, als sie zu fliehen versuchten. Pe Ell stieß Quickening über den Gehsteig in einen Hauseingang, tat so, als würde er das Monster angreifen und rannte davon. Morgan zog sein Schwert und hätte es angegriffen. Der Gedanke, daß Quickening in Gefahr war, ließ ihn alle Vernunft verlieren. Doch Walker Boh bekam ihn zu fassen und schleuderte ihn zurück an die Hausmauer.
»Geh da rein!« rief der Dunkle Onkel und zeigte auf ein paar massive Steintore, die offen standen.
Dann schlug Walker Boh seinen Umhang zurück, und sein gesunder Arm kam zum Vorschein. Der Kratzer hatte ihn fast erreicht, als Walker den Arm senkte und ein weißes Feuer aufflammte. Morgan wich geblendet an die Mauer zurück. Er hörte einen schrillen Schrei und erkannte, daß er von dem Kratzer stammte. Sein Sehvermögen kehrte langsam zurück. Er sah die Kreatur wild mit den Metallarmen fuchteln und erhaschte einen Blick auf Carisman und Dees, die davonrannten. Dann wurde er hart gepackt und nach hinten in den offenen Toreingang gerissen.
Es war Pe Ell, der ihn hereingezerrt hatte. Quickening war schon dort. Das weiße Licht von Walkers Magie leuchtete draußen noch immer, und sie hörten, wie der Kratzer gegen das Gebäude schlug. Sein Angriff war so gewaltig, daß Steinsplitter in alle Richtungen spritzten. Walker kam in Sicht, Carisman und Dees rannten vor ihm her, benommen, aber befreit. Sie stolperten über den Boden, stürzten und sprangen sofort wieder auf, als der Kratzer die riesigen Steintüren aus den Angeln riß, die steinerne Einfassung auseinanderbrach und hereinstürmte.
Hinter ihnen führte eine breite Steintreppe nach oben, und sie rannten darauf zu. Der Kratzer kam hinterher. Er torkelte etwas. Wenn Walkers Magie auch nicht viel gebracht hatte, so hatte sie das Biest jedenfalls zeitweilig verwirrt. Es fuchtelte wild mit den Tentakeln nach seiner Beute. Die sechs rasten die Treppe hinauf. Wie ein Peitschenhieb flog ein Arm vor ihnen über die Treppe, doch Pe Ells seltsames Messer tauchte auf, schlug gegen den Arm und verletzte ihn. Der Arm zog sich zurück. Sie rasten hinauf, sprangen von einem Treppenabsatz zum nächsten, ohne sich umzuschauen.
Schließlich, zehn Stockwerke höher, brachte Walker sie zum Anhalten. Hinter ihnen war es still. Sie standen keuchend aneinandergedrängt und lauschten.
»Vielleicht hat er aufgegeben«, flüsterte Carisman voller Hoffnung.
»Nicht dieses Vieh«, widersprach Horner Dees, nach Atem ringend. »Der gibt nie auf. Ich habe gesehen, was er zu tun in der Lage ist.«
Pe Ell drängte sich vor. »Wenn du so viel darüber weißt, dann sag uns doch, was er hier tun kann!« spottete er.
Dees schüttelte heftig seinen bärenhaften Kopf. »Ich weiß es nicht. Beim letzten Mal sind wir nie bis in die Häuser gelangt.« Dann erschauderte er. »Teufel noch mal! Ich kann diese Arme noch immer fühlen, wie sie sich um mich geringelt haben!« Er warf einen Seitenblick auf Quickening. »Ich hätte mich niemals überreden lassen sollen, wieder herzukommen!«
»Psssst!« Walker Boh stand mit leicht geneigtem Kopf auf dem obersten Treppenabsatz. »Da ist irgendwas …«, setzte er an und hielt inne.
Pe Ell war augenblicklich neben ihm und beugte sich über das Treppengeländer. »Draußen ist er!« knurrte er und schnellte herum.
Das einst verglaste Gitterwerk zerbarst, und der Kratzer brach hindurch. Morgan war entsetzt. Während sie im Treppenhaus nach ihm Ausschau gehalten hatten, war er an der Fassade heraufgeklettert!
Zum zweiten Mal erwischte er sie beinahe. Tentakel peitschten über den engen Treppenabsatz und warfen sie fast alle um, doch Pe Ell war zu schnell. Sein seltsames Messer materialisierte sich in seiner Hand und zerschlitzte den nächstgelegenen Fangarm. Der Kratzer zuckte zurück und wollte sich auf ihn stürzen, aber das Manöver hatte Walker Boh Zeit zum Handeln gegeben. Er hatte eine Handvoll von Coglines schwarzem Pulver hervorgeholt und schleuderte es dem Biest entgegen. Es explodierte zu Feuer.
Die Gruppe jagte weiter die Treppen hinauf – eine Etage, zwei, drei. Hinter ihnen schlug der Kratzer gegen die Flammen an. Dann wurde es still. Er war nicht mehr zu hören, aber sie wußten alle, wo er war. Im ganzen Treppenhaus waren auf jeder Etage Öffnungen, wo im Laufe der Zeit die Fenster herausgefallen waren. Der Kratzer konnte durch irgendeines hindurch wieder angreifen. Er würde sie weiterhin verfolgen, und früher oder später würde er sie erwischen.
»Wir müssen ihm standhalten und kämpfen!« brüllte Morgan den anderen zu und zog sein Breitschwert.
»Wenn wir das tun, werden wir alle sterben, Hochländer!« brüllte Horner Dees zurück. Da unterbrach Pe Ell, sprang vor und schaute sie an. »Die Treppen runter mit euch! Sofort! Bleibt zusammen und ich sorg dafür, daß ihr heil rauskommt!«
Niemand widersprach, nicht einmal Walker. Sie hasteten die Treppen wieder hinunter, zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend, und hielten ein Auge auf die Fensteröffnungen auf jeder Etage. Zwei Stockwerke tiefer erhaschten sie einen Blick auf den Kratzer, der sich gerade an dem Fenstersims hochzog. Tentakel schnellten hervor, ohne sie zu erreichen. Während sie nach unten stürmten, hörten sie, wie sich das gewaltige Biest vom Stein abstieß und hinter ihnen herkam.
Noch drei Etagen tiefer, noch immer hoch über dem Erdgeschoß, ließ Pe Ell sie wieder anhalten. »Hier! Hier ist es!« Er trieb sie einen langen Flur mit hoher Decke entlang. Hinter ihnen erreichte der Kratzer den Treppenabsatz und setzte schnell watschelnd die Verfolgung fort. Das Geschöpf schien länger zu werden und seine Körperform zu verändern, um sich den baulichen Gegebenheiten besser anzupassen, während es sich näherte. Morgan war außer sich vor Entsetzen. Dieser Schleicher konnte sich jeder Situation anpassen. Enge Durchgänge oder hohe Fassaden reichten nicht, um ihn aufzuhalten.
Der Flur endete in einen überdachten Laufsteg, der zu einem Nachbargebäude führte. »Macht, daß ihr so schnell wie möglich rüberkommt!« fauchte Pe Ell sie an.
Sie taten wie geheißen, doch der Hochländer hielt ein Entkommen auf diesem Wege für ausgeschlossen. So eng dieser Durchgang auch sein mochte, den Kratzer würde das nicht hindern.
Er gelangte ans andere Ende und drehte sich um. Pe Ell kniete am vorderen Ende des Durchgangs, wo es mit dem Gebäude verbunden war, und sägte mit seinem seltsamen Messer an der steinernen Verankerung. Morgan starrte ihn fassungslos an. Hatte Pe Ell den Verstand verloren? Glaubte er tatsächlich, sein Messer – irgendein Messer – könnte den Stein zerschneiden? Der Kratzer hatte ihn fast erreicht, als Pe Ell wieder aufsprang und mit der Behendigkeit einer Katze über den Laufsteg rannte. Er war bei ihnen angelangt, als der Kratzer ins Blickfeld kam und sich inzwischen schlangengleich durch die enge Tunnelöffnung zwängte.
Und dann geschah das Unmögliche. Die Verankerung, an der Pe Ell herumgesägt hatte, knackte und brach durch. Der ganze Laufsteg kippte nach unten, blieb einen Moment so hängen und stürzte dann unter dem Gewicht des Kratzers in die Tiefe. Er krachte auf die Straße und zersplitterte in tausend Stücke. Staub und Gesteinsbrocken wirbelten auf und vermischten sich mit dem Nebel und der Nacht.
Die sechs aus Rampling Steep starrten nach unten und warteten. Dann hörten sie etwas – ein Knirschen, das Geräusch von Metall, das über Stein kratzt.
»Er ist nicht tot!« flüsterte Dees voller Entsetzen.
Hastig zogen sie sich von der Öffnung zurück, schlüpften eine andere Treppe hinunter ins Erdgeschoß, verließen das Gebäude durch eine Tür am anderen Ende und gelangten auf die Straße. Pe Ell und Walker gingen voran. Sie konnten hören, daß der Schleicher die Suche nach ihnen wieder aufgenommen hatte.
Fünf Blocks weiter gelangten sie an das Bauwerk, das Walker Boh gesucht hatte, einen gedrungenen, praktisch fensterlosen Bunker. Sie traten ein, wobei sie sich ängstlich umdrehten und schauten, wo sie waren. Es war tatsächlich wie ein Kaninchenbau, ein Labyrinth aus Zimmern und Fluren mit mehreren Treppenhäusern und einem halben Dutzend Eingängen. Sie gingen ins vierte Geschoß hinauf und ließen sich in einem zentralen Raum weit von den Fenstern entfernt nieder.
Die Minuten verstrichen, und der Kratzer erschien nicht. Eine Stunde verstrich. Sie aßen ein kaltes Mahl und lehnten sich zurück. Keiner schlief.
Sie saßen schweigend da. Ihr Atmen war das einzige Geräusch.
Als der Morgen zu grauen begann, wurde Morgan Leah rastlos. Er mußte ständig an Pe Ells Messer denken – das Messer, das Stein zu schneiden vermochte. Das Messer faszinierte ihn. So wie Pe Ells Teilnahme an diesem Unterfangen war es ein ungelöstes Rätsel. Ungeachtet Walkers Warnung, sich von dem Mann fernzuhalten, beschloß er, zu sehen, was er herausfinden konnte. Er stand auf und ging in die dunkle Ecke, wo der andere mit dem Rücken an der Wand saß. Er konnte sehen, wie Pe Ells Augen ihn beobachteten, als er sich näherte.
»Was willst du?« fragte Pe Ell eisig.
Morgan hockte sich vor den anderen hm und zögerte. »Ich war neugierig wegen deines Messers«, gab er schließlich zu.
Ihre Stimmen waren ein kaum wahrnehmbares Flüstern in der Stille. In dem dunklen Raum konnte sie keiner hören.
Pe Ells Lächeln war kalt. »Ach, wirklich?«
»Wir haben gesehen, was es geleistet hat.«
Pe Ell hatte sein Messer schon gezogen und hielt die Klinge wenige Zentimeter vor Morgans Nase. Morgan hielt den Atem an und rührte sich nicht. »Das einzige, was du darüber zu wissen brauchst«, erklärte Pe Ell, »ist, daß es dich töten kann, ehe du mit der Wimper gezuckt hast. Dich. Deinen einarmigen Freund. Jeden.«
Morgan schluckte heftig. »Selbst den Steinkönig?« Er zwang die Frage heraus, verärgert über sich selbst, weil er Angst hatte.
Die Klinge verschwand wieder. »Ich werde dir was sagen. Das Mädchen behauptet, du hättest Magie. Ich glaube das nicht. Du hast überhaupt nichts. Der Einarmige ist der einzige von euch, der Magie hat, und seine Magie taugt einen Dreck! Sie tötet nicht. Er tötet nicht. Ich sehe es in seinen Augen. Keiner von euch hat in dieser Angelegenheit etwas zu bieten, ob ihr es wahrhaben wollt oder nicht. Ihr seid nichts als ein Haufen Idioten.«
Er stieß Morgan mit dem Finger an. »Komm mir nicht in die Quere, Hochländer. Keiner von euch. Und erwartet nicht, daß ich euch wieder rette, wenn der Schleicher euch das nächste Mal jagt. Ich habe euch allesamt satt.« Er zog seinen Finger zurück. »Und jetzt hau ab.«
Morgan zog sich wortlos zurück. Er warf einen kurzen Blick auf Walker, beschämt, daß er seine Warnung nicht befolgt hatte. Es war unmöglich festzustellen, ob der Dunkle Onkel ihn beobachtet hatte oder nicht. Dees und Carisman schliefen. Quickening war ein gesichtsloser, kaum wahrnehmbarer Schatten.
Morgan setzte sich mit gekreuzten Beinen abseits in eine Ecke und kochte innerlich. Er hatte nichts erfahren. Er hatte sich nur selbst gedemütigt. Er preßte die Lippen zusammen. Eines Tages würde er sein Schwert wieder benutzen können. Eines Tages würde er ein Mittel finden und es wieder heil machen, seine Magie wiedererstehen lassen – genau wie Quickening vorausgesagt hatte.
Und dann würde er sich Pe Ell vornehmen. Das schwor er sich.