Walker Boh erwachte schaudernd. Dunkler Onkel.
Eine wispernde Stimme in seinem Bewußtsein riß ihn zurück aus dem schwarzen Loch, in das er zu gleiten drohte, zerrte ihn aus dem Tintenschwarz in die grauen Randzonen des Lichts, und er schreckte so heftig auf, daß er einen Krampf in den Muskeln seiner Beine bekam. Sein Kopf schnellte hoch, seine Augen klappten auf, und er starrte blicklos vor sich hin. Sein ganzer Körper tat ihm weh, nicht enden wollende Wellen von Schmerz. Der Schmerz traf ihn wie glühendes Eisen, und in einem hilflosen Versuch, ihn zu lindern, rollte er sich ganz fest zusammen. Nur sein rechter Arm blieb ausgestreckt, ein schweres, hinderliches Ding, das nicht mehr zu ihm gehörte, für immer auf den Boden der Höhle gebannt, auf dem er lag, vom Ellenbogen an zu Stein geworden.
Die Quelle des Schmerzes war dort.
Er schloß die Augen und kämpfte, daß er aufhöre, verschwinde.
Aber ihm fehlte die Kraft, es zu befehlen, seine Magie war fast erschöpft, verschwendet in seinem Kampf gegen das Vordringen des Giftes vom Asphinx. Vor sieben Tagen war er auf der Suche nach dem schwarzen Elfenstein in die Halle der Könige gekommen, sieben Tage, seit er statt dessen die tödliche Kreatur gefunden hatte, die dort hingebracht worden war, um ihm eine Falle zu stellen.
Oh, ja, dachte er fiebernd. Eindeutig eine Falle.
Aber von wem? Von den Schattenwesen oder von jemand anderem? Wer war jetzt im Besitz des schwarzen Elfensteins?
Verzweifelt rief er sich die Ereignisse in Erinnerung, die ihn hierhergeführt hatten. Da war der Aufruf von Allanon, der schon seit dreihundert Jahren tot war, an die Erben der Shannara-Magie gewesen, seinen Neffen Par Ohmsford, seine Kusine Wren Ohmsford und ihn selbst. Sie hatten den Aufruf und einen Besuch des einstigen Druiden Cogline erhalten, der sie drängte, ihm Folge zu leisten. Sie hatten es getan. Sie hatten sich am Hadeshorn getroffen, wo Allanons Schatten ihnen erschienen war und jeden mit einer anderen Aufgabe betraut hatte. Sie alle waren dazu ausersehen, das zerstörerische Werk der Schattenwesen zu bekämpfen, die ihre eigene Magie einsetzten, um das Leben aus den Vier Ländern fortzustehlen. Walker hatte den Auftrag, Paranor zurückzugewinnen, die untergegangene Festung der Druiden, und gleichzeitig die Druiden selbst wieder zu holen. Er hatte sich dieser Aufgabe widersetzt, bis Cogline ihn noch einmal aufsuchte und ihm diesmal ein Buch der Druidengeschichte mitbrachte, in der von einem schwarzen Elfenstein die Rede war, der die Kraft besaß, Paranor wiederzufinden. Das wiederum hatte ihn zum Finsterweiher geführt, dem Seher der Geheimnisse der Welt und der sterblichen Menschen.
Sein Blick wanderte durch die Dämmerung der Höhle um ihn herum, über die Türen zu den Grüften der Könige der Vier Länder, seit Jahrhunderten tot, die Schätze, die vor den Krypten, in denen sie lagen, aufgestapelt waren, und die steinernen Wächter, die über ihre Überreste wachten. Steinaugen starrten aus reglosen Gesichtern, blicklos, achtlos. Er war mit ihren Gespenstern allein.
Er lag im Sterben.
Tränen traten ihm in die Augen, blendeten ihn, als er versuchte, sie zu unterdrücken. Was war er doch für ein Dummkopf!
Dunkler Onkel. Die Worte hallten geräuschlos, eine Erinnerung, die ihn heimsuchte und quälte. Es war die Stimme des Finsterweihers, dieses üblen, heimtückischen Geistes, der für das, was ihm widerfahren war, verantwortlich war. Es waren die Rätsel des Finsterweihers gewesen, die ihn auf der Suche nach dem schwarzen Elfenstein in die Halle der Könige geführt hatten. Der Finsterweiher mußte gewußt haben, was ihn dort erwartete – nicht der Elfenstein, sondern statt dessen der Asphinx, eine tödliche Falle, die ihn vernichten würde.
Und warum hatte er angenommen, daß es anders wäre, fragte Walker sich kleinmütig. Haßte ihn der Finsterweiher mehr als alle anderen? Hatte er sich nicht vor Walker gerühmt, daß er ihn ins Verhängnis schickte, indem er ihm gab, was er wünschte? Walker war ihm einfach aus dem Wege gegangen, um dem Geist gefällig zu sein, indem er übereifrig davonhastete, um den Tod zu finden, der ihm versprochen war, in dem naiven Glauben, er könne sich gegen jedwedes Übel, das ihm in die Quere kommen könnte, selber schützen. Erinnerst du dich, schalt er sich selbst, erinnerst du dich, wie zuversichtlich du warst?
Er wand sich, als das Gift in ihm brannte. Gut und schön. Und wo war seine Zuversicht jetzt?
Er zwang sich auf die Knie und beugte sich hinunter über die Öffnung im Höhlenboden, wo seine Hand an dem Stein festgehalten wurde. Er konnte so eben die Überreste des Asphinx sehen. Der steinerne Leib der Schlange war um seinen versteinerten Arm geringelt, beide für immer verbunden und fest mit dem Felsen des Gebirges verwachsen. Er kniff den Mund zusammen und zog den Ärmel seines Kittels zurück. Sein Arm war hart und rührte sich nicht, grau bis an den Ellenbogen. Graue Streifen arbeiteten sich langsam zu seiner Schulter hinauf. Der Prozeß war langsam, aber stetig. Sein ganzer Körper würde zu Stein werden.
Nicht, daß es einen Unterschied machte, wenn das geschah, dachte er, denn er würde ohnehin verhungern, bevor es soweit war. Oder verdursten. Oder dem Gift erliegen.
Er schob den Ärmel wieder hinunter und ließ ihn das Grauen verdecken, das aus ihm geworden war. Sieben Tage vergangen. Das bißchen Nahrung, das er mitgenommen hatte, war fast sofort aufgezehrt gewesen, und das letzte Wasser hatte er vor zwei Tagen getrunken. Seine Kraft verließ ihn jetzt schnell. Die meiste Zeit lag er im Fieberrausch, seine klaren Momente wurden immer kürzer. Zu Anfang hatte er gegen das, was geschah, angekämpft und versucht, mit Hilfe seiner Magie das Gift aus seinem Körper zu verbannen und seine Hand und seinen Arm wieder zu Fleisch und Blut zu machen. Doch seine Zauberkraft hatte vollständig versagt. Er hatte sich abgemüht, seinen Arm vom Steinboden loszubekommen, in der Hoffnung, er könnte ihn irgendwie befreien. Doch er wurde festgehalten, ein Verurteilter ohne jegliche Hoffnung auf Befreiung. Irgendwann hatte seine Erschöpfung ihn zum Schlafen gezwungen, und im Laufe der Tage hatte er immer häufiger geschlafen und war immer weiter von dem Wunsch fortgeglitten, wieder aufzuwachen.
Und nun, während er als ein Häufchen Elend und Schmerz dakniete, nur zeitweilig durch die Stimme des Finsterweihers vor dem Sterben bewahrt, erkannte er mit entsetzlicher Gewißheit, daß, falls er wieder einschliefe, es für immer wäre. Er atmete schnell ein und aus und würgte die Angst zurück. Er durfte es nicht geschehen lassen. Er durfte nicht aufgeben.
Er zwang sich zum Nachdenken. Solange er denken konnte, sagte er sich, würde er nicht einschlafen. Im Geiste verfolgte er noch einmal seine Unterhaltung mit dem Finsterweiher, hörte noch einmal die Worte des Geistes und versuchte noch einmal, ihre Bedeutung zu entziffern. Der Finsterweiher hatte die Halle der Könige nicht beim Namen genannt, als er beschrieb, wo der schwarze Elfenstein zu finden sei. Hatte Walker einfach den falschen Schluß gezogen? War er absichtlich fehlgeleitet worden? Lag irgendeine Wahrheit in dem, was man ihm gesagt hatte?
Walkers Gedanken zerstreuten sich verwirrt, und sein Verstand weigerte sich, der Anforderung nachzukommen, die er ihm stellte. Verzweifelt schloß er die Augen, und es kostete ihn ungeheure Mühe, sie wieder aufzumachen. Seine Kleider waren kalt und feucht von seinem eigenen Schweiß, und er zitterte. Sein Atem ging keuchend, seine Sicht war getrübt, und es fiel ihm zunehmend schwer zu schlucken. So viele Ablenkungen – wie sollte er da denken? Er wollte nichts als daliegen und …
Er geriet in Panik, als er fühlte, daß die Bewußtlosigkeit ihn zu verschlingen drohte. Er änderte seine Stellung und rieb seine Knie über den Stein, bis sie bluteten. Ein bißchen zusätzliche Schmerzen können mich vielleicht wachhalten, dachte er. Aber er spürte es kaum.
Er zwang seine Gedanken zum Finsterweiher zurück. Er führte sich den Geist vor Augen, wie er über sein Mißgeschick lachte und sich daran erfreute. Er hörte die spöttische Stimme nach ihm rufen. Wut gab ihm ein Quentchen Kraft. Da war etwas, an das er sich erinnern mußte, dachte er verzweifelt. Da war etwas, das der Finsterweiher ihm gesagt hatte, an das er sich erinnern mußte.
Bitte, laß mich nicht einschlafen! Die Halle der Könige reagierte nicht auf sein Flehen. Die Statuen blieben still, desinteressiert, blind. Der Berg wartete.
Ich muß freikommen! brüllte er wortlos.
Und dann erinnerte er sich an die Visionen, genauer gesagt an die erste der drei, die der Finsterweiher ihm gezeigt hatte, die, in der er auf einer Wolke über der kleinen Gruppe, die sich aufgrund des Auftrags von Allanons Schatten am Hadeshorn versammelt hatte, stand, jene Vision, in der er gesagt hatte, daß er sich eher die Hand abhacken als die Druiden zurückbringen würde, und dann den Arm in die Höhe gehoben hatte, um zu zeigen, daß er genau das getan hatte.
Er erinnerte sich an die Vision und erkannte ihre Wahrheit.
Er verbannte voll ungläubigen Entsetzens die Reaktion, die das hervorrief, und ließ seinen Kopf sinken, bis er auf dem Steinboden der Höhle ruhte. Er weinte und fühlte, wie ihm die Tränen über die Wangen rannen und in den Augen brannten, als sie sich mit dem Schweiß vermischten. Sein Körper zuckte unter der Qual seines Wissens um den nächsten Schritt.
Nein! Nein, er würde es nicht tun.
Aber er wußte, daß er es tun mußte.
Sein Weinen wandelte sich in Gelächter, eiskalt rollte es in seinem Wahnsinn aus ihm heraus in die leere Gruft. Er wartete, bis es sich von allein erschöpfte und das Echo zu Stille verstummte. Dann schaute er wieder auf. Seine Möglichkeiten hatten sich erschöpft, sein Schicksal war besiegelt. Wenn er jetzt nicht freikam, wußte er, würde er nie mehr freikommen.
Und es gab nur einen einzigen Weg.
Er machte sich stark dafür, schirmte sich vor seinen Gefühlen ab und zog aus einer letzten Reserve seine allerletzte Kraft. Er ließ seinen Blick über den Höhlenboden wandern, bis er fand, was er brauchte. Es war ein Felsbrocken von etwa der Größe und der Form einer Beilklinge, auf einer Seite ausgezackt und hart genug, den Sturz von der Höhlendecke überstanden zu haben, wo er vier Jahrhunderte zuvor bei dem Kampf zwischen Allanon und der Schlange Valg losgeschlagen worden war. Der Stein lag fast sieben Meter entfernt, eindeutig jenseits der Reichweite eines gewöhnlichen Menschen. Doch nicht für ihn. Er sammelte ein Fragment der Magie, die ihm noch blieb, und zwang sich, standhaft zu bleiben, während er sie benutzte. Der Stein ruckte knirschend vorwärts, ein langsames Kratzen in der Stille der Höhle. Walker schwindelte von der Anstrengung, das Fieber brannte in ihm, verursachte ihm Übelkeit. Doch er ließ den Stein stetig näherrücken.
Endlich war er in Reichweite seiner freien Hand. Er ließ die Magie davonschlüpfen und brauchte eine lange Weile, um sich wieder zu erholen. Dann streckte er die Hand aus, und seine Finger packten den Stein. Langsam holte er ihn heran, fand ihn ungeheuer schwer, so schwer, daß er nicht sicher war, ob er ihn hochheben konnte, geschweige denn …
Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Er konnte sich mit dem, was er auf dem Wege war zu tun, nicht aufhalten. Er zerrte den Stein heran, bis er neben ihm lag, stützte sich fest auf seine Knie, holte tief Luft, hob den Stein über den Kopf, zögerte einen winzigen Augenblick und brachte ihn dann in einem Drang aus Furcht und Eile herunter. Er krachte auf den Stein seines Armes zwischen Handgelenk und Ellenbogen und schlug mit solcher Kraft auf, daß sein ganzer Körper davon erschüttert wurde. Der davon hervorgerufene Schmerz war so qualvoll, daß er ihn bewußtlos zu machen drohte. Er schrie, als er in Wellen über ihn schlug, er hatte das Gefühl, zerrissen zu werden, von innen nach außen. Er fiel vornüber, schnappte nach Luft, und der Beilklingenstein fiel aus seinen verkrampften Fingern.
Dann merkte er, daß sich etwas verändert hatte.
Er richtete sich auf und schaute auf seinen Arm hinunter. Der Schlag hatte sein steinernes Glied an der Stelle des Aufschlag zerschmettert. Handgelenk und Hand waren im Dämmerlicht dieses verborgenen Lochs im Höhlenboden an den Asphinx geheftet. Doch sein übriger Körper war frei.
In benommenem Staunen kniete er lange Zeit so da, starrte auf die Überreste seines Arms, auf das graudurchzogene Fleisch oberhalb des Ellenbogens und die zersplitterten Reste am Boden. Sein Arm war bleischwer und steif. Das Gift, das sich schon dann befand, wirkte weiter. Schmerz durchzuckte seinen ganzen Leib.
Aber er war frei! Himmel noch mal, er war frei!
Plötzlich rührte sich etwas in der hinteren Kammer, ein schwaches, entferntes Rascheln, als ob etwas erwacht sei. Walker Boh wurde es eiskalt in der Magengrube, als er begriff, was geschehen war. Sein Schrei hatte ihn verraten. Die hintere Kammer war der Versammlungssaal, und im Versammlungssaal hatte einst die Schlange Valg, Wächter der Toten, gelebt.
Und lebte vielleicht noch immer.
Walker stand auf, und ein plötzlicher Schwindelanfall packte ihn. Er ignorierte es, ignorierte auch Schmerz und Erschöpfung, und taumelte zu den schweren, eisenbeschlagenen Eingangstoren, durch die er hereingekommen war. Er verdrängte sämtliche Geräusche um sich herum und in seinem Inneren und konzentrierte seine ganze Anstrengung darauf, über den Höhlenboden zu der Passage dahinter zu gelangen. Falls die Schlange lebte und ihn jetzt fand, war es mit ihm zu Ende, das wußte er.
Das Glück war ihm hold. Die Schlange kam nicht zum Vorschein. Nichts kam zum Vorschein. Walker erreichte die Tür, die aus der Gruft führte, und schaffte es hinaus in die Finsternis.
Was danach geschah, war ihm nachher nie ganz klar. Irgendwie gelangte er in die Königshalle, vorbei an den Todesfeen, deren Geheul einen wahnsinnig machen konnte, vorbei an den Sphinxen, deren Blick einen in Stein zu verwandeln vermochte. Er hörte die Todesfeen brüllen, fühlte den Blick der Sphinxen brennen und spürte das Grauen der uralten Magie des Bergs, der versuchte, ihm eine Falle zu stellen und zu einem weiteren Opfer zu machen. Doch er entkam. Ein letzter Schild von Entschlossenheit schützte ihn, obwohl dem Wahnsinn nahe, auf dem Weg, ein eiserner Wille, gepaart mit Erschöpfung und Schmerz, umhüllte und bewahrte ihn. Vielleicht kam ihm auch seine Magie zur Hilfe, er hielt es für möglich. Die Magie war schließlich ein unvorhersehbares, ein ewiges Mysterium. Er trotzte sich durch die fast vollständige Dunkelheit und vorbei an phantasmagorischen Bildern und steinernen Wänden, die sich um ihn zu schließen drohten, durch Tunnel von Anblicken und Geräuschen, in denen er weder sehen noch hören konnte, und schließlich war er frei.
Er gelangte bei Tagesanbruch in die Außenwelt. Die Sonne schien blaß und kühl durch die graue, tiefhängende Wolkendecke, die von einem Gewitter der vergangenen Nacht übriggeblieben war. Den Arm unter dem Umhang verborgen wie ein verwundetes Kind, folgte er dem Bergpfad hinunter in die südlichen Ebenen. Er schaute keinmal zurück. Er konnte kaum nach vorn schauen. Er war nur auf den Beinen, weil er sich weigerte, klein beizugeben. Er konnte sich selbst kaum noch fühlen, nicht einmal die Schmerzen seiner Vergiftung. Er ging, als würde er an Fäden vorangezerrt, die an seinen Gliedmaßen festgebunden waren.
Sein schwarzes Haar wehte wild im Wind, peitschte ihm das blasse Gesicht, bis ihm die Augen tränten. Wie eine Vogelscheuche des Wahnsinns verließ er den grauen Nebel.
Dunkler Onkel, wisperte die Stimme des Finsterweihers in seinem Bewußtsein und lachte schadenfroh.
Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Dem schwachen Sonnenlicht gelang es nicht, die Gewitterwolken aufzulösen, und der Tag blieb farblos und unfreundlich. Wege kamen und gingen, eine endlose Prozession von Felsen, Schluchten, Hohlwegen und Abgründen. Walker nahm das alles nicht wahr. Er wußte nur, daß er bergab ging, daß er sich abwärts aus dem Felsengebiet arbeitete, zurück in die Welt, die er so törichterweise verlassen hatte. Er wußte, daß er versuchte, sein eigenes Leben zu retten.
Es war Mittag, als er endlich die hohen Gipfel hinter sich ließ und das Tal von Shale erreichte, ein zerlumptes, zielloses Etwas von einer menschlichen Ruine, so fieberkrank und schwach, daß er halbwegs über den zersplitterten, glänzendschwarzen Fels des Talbodens stolperte, ehe er begriff, wo er war. Als er es schließlich erkannte, verließen ihn seine Kräfte. Er verwickelte sich mit seinem Mantel und stürzte, fühlte, wie die scharfen Kanten des Gesteins ihm die Haut der Hand und des Gesichts ritzten, doch er beachtete es nicht und blieb mit dem Gesicht nach unten erschöpft liegen. Nach einer Weile begann er in Richtung der stillen Wasser des Sees zu kriechen, mühsam rückte er, mit seinem versteinerten Armstumpf unter sich, stückchenweise vor. In seinem Delirium erschien es ihm logisch, daß, wenn er den Rand des Hadeshorns erreichte und seinen kaputten Arm hineintauchte, die todbringenden Wasser dem Gift, das ihn langsam umbrachte, entgegenwirken würden. Es war Unsinn, doch für Walker Boh war Wahnsinn das Maß des Lebens geworden.
Doch er versagte selbst in diesem kleinen Bestreben. Zu schwach, mehr als ein paar Meter zurückzulegen, verlor er das Bewußtsein. Das letzte, was er wahrnahm, war, wie finster es mitten am Tag war, die Welt ein Ort der Schatten.
Er schlief, und im Schlaf träumte er, daß Allanons Schatten zu ihm kam. Der Schatten tauchte aus den brennenden, kochenden Wassern des Hadeshorns, dunkel und mysteriös, als er sich aus der Unterwelt des Lebens nach dem Tode, zu dem er verbannt war, materialisierte. Er streckte Walker die Hand entgegen, hob ihn auf die Füße, durchflutete ihn mit neuer Kraft und gab seinem Denken und Sehen wieder Klarheit. Er hing geisterhaft und durchsichtig über den dunklen grünlichen Wassern – doch seine Berührung fühlte sich seltsam menschlich an.
– Dunkler Onkel. –
Als der Schatten die Worte sprach, waren sie nicht spöttisch und haßerfüllt, wie wenn der Finsterweiher sie aussprach. Sie waren ganz einfach eine Bezeichnung dessen, wer und was Walker war.
– Warum willst du den Auftrag, mit dem ich dich betraut habe, nicht erfüllen? – Walker mühte sich aufgebracht, zu antworten, doch er konnte die Worte nicht finden.
– Du wirst dringend gebraucht, Walker. Nicht von mir, doch von den Vier Ländern und ihren Völkern, den Rassen der neuen Welt. Wenn du meinen Auftrag nicht annimmst, gibt es für sie keine Hoffnung mehr … –
Walkers Zorn war grenzenlos. Die Druiden, die es nicht mehr gab, und das verschwundene Paranor wiederbringen? Gewiß doch, dachte Walker zur Antwort. Gewiß doch, Schatten von Allanon. Ich werde meinen ruinierten Leib, meinen vergifteten Arm auf die Suche nach dem, was du haben willst, schleppen, auch wenn ich am Sterben bin und keine Hoffnung hegen kann, irgendwem zu helfen, doch ich …
– Akzeptiere es, Walker. Du akzeptierst es nicht. Gesteh dir die Wahrheit deiner selbst und deines Schicksals ein. –
Walker verstand ihn nicht.
– Verwandtschaft mit jenen, die vor dir gegangen sind, jenen, die die Bedeutung des Akzeptierens verstanden. Das ist es, was dir fehlt. –
Walker schauderte, und die Vision seines Traums wurde unterbrochen. Seine Kräfte verließen ihn. Er sackte am Ufer des Hadeshorns zusammen, fassungslos vor Angst und Verwirrung, und fühlte sich so verloren, daß es ihm unmöglich schien, je wiedergefunden werden zu können.
Hilf mir, Allanon, flehte er verzweifelt.
Der Schatten hing reglos vor ihm in der Luft, ätherisch vor dem Hintergrund winterlichen Himmels und kahler Gipfel, aufsteigend wie das Gespenst des Todes, das gekommen war, sich ein neues Opfer abzuholen. Plötzlich kam es Walker so vor, als ob Sterben das einzige war, das ihm noch blieb.
Willst du, daß ich sterbe? fragte er ungläubig.
Der Schatten sagte nichts.
Wußtest du, daß mir das zustoßen würde? Er streckte seinen Arm vor, den angesplitterten Steinstumpf und das giftdurchzogene Fleisch.
Der Schatten blieb still.
Warum willst du mir nicht helfen? heulte Walker.
– Warum willst du mir nicht helfen? –
Die Worte hallten scharf durch sein Bewußtsein, drängend und voll finsterer Entschlossenheit. Aber er sprach sie nicht. Es war Allanon.
Dann begann der Schatten plötzlich in der Luft vor ihm zu schimmern und verblaßte. Die Wasser des Hadeshorns dampften und zischten, brodelten zornig und wurden wieder still. Die Luft rundum war dunkel und dunstig, voller Gespenster und wilder Einbildungen, ein Ort, wo Leben und Tod sich an einem Kreuzweg unbeantworteter Fragen und ungelöster Rätsel begegneten.
Walker Boh nahm sie nur einen Moment lang wahr, wußte, daß er sie nicht im Traum, sondern wachend sah, und erkannte plötzlich, daß seine Vision vielleicht gar kein Traum gewesen war.
Dann war alles fort, und er fiel in tiefe Schwärze.
Als er wieder erwachte, beugte sich jemand über ihn. Walker sah den anderen durch einen Nebel aus Fieber und Schmerzen, eine dünne, stangenförmige Gestalt in grauen Gewändern, mit einem schmalen Gesicht, schütterem Bart und Haar und einer Hakennase, der sich so nah über ihn beugte, als habe er im Sinn, ihm das letzte bißchen Leben auszusaugen.
»Walker?« flüsterte die Gestalt freundlich.
Es war Cogline. Walker schluckte gegen seine trockene Kehle an und bemühte sich aufzustehen. Das Gewicht seines Armes zerrte an ihm, zog ihn zurück, zwang ihn nieder. Die Hand des alten Mannes wühlte unter dem darüberliegenden Mantel und fand den bleischweren Stumpf. Walker hörte, wie er scharf einatmete.
»Wie … wie hast du mich gefunden?« brachte er hervor.
»Allanon«, erwiderte Cogline. Seine Stimme war rauh und gebrochen vor Zorn.
Walker seufzte. »Wie lange habe ich …?«
»Drei Tage. Ich weiß nicht, wieso du noch lebst. Du hast kein Recht dazu.«
»Gar keins«, gab Walker zu und umarmte den alten Mann impulsiv. Der vertraute Geruch des alten Mannes brachte ihm Tränen in die Augen. »Ich glaube … ich soll noch nicht sterben … noch nicht gleich.«
Cogline drückte Walker seinerseits an sich. »Nein, Walker«, sagte er, »noch nicht.«
Dann half ihm der alte Mann auf die Füße, zog ihn mit einer Kraft hoch, die Walker ihm nicht zugetraut hatte, und während er ihn aufrechthielt, zeigte er hinunter zum südlichen Ende des Tals. Es war wieder Morgendämmerung, der Sonnenaufgang wolkenlos und leuchtend golden am östlichen Horizont, die Luft still und erwartungsvoll.
»Halte dich an mir fest«, drängte Cogline, während er ihn über den zersplitterten schwarzen Fels führte. »Pferde warten auf uns und hilfreiche Hände. Halte dich fest, Walker.«
Walker klammerte sich an ihn wie an sein Leben.