15

Die Stachelfelsen und das umliegende Land waren von Urdastämmen und anderen Gnomen- und Trollrassen besiedelt. Da sie alle ständig im Krieg miteinander lagen, hatten sie ihre Dörfer befestigt. Im Laufe der Zeit hatten sie viele harte Lektionen gelernt, und eine davon war, daß eine Einfriedung mehr als nur einen Ausgang brauchte. Carismans Leute hatten unter dem Dorf Stollen angelegt, die durch verborgene Falltüren in die Wälder rundum führten. Wenn das Dorf durch eine andauernde Belagerung oder ein zahlenmäßig überlegenes Heer bedroht wurde, blieb den Bewohnern noch immer ein Fluchtweg offen.

Einer der Eingänge zu den Tunneln lag unter dem Boden der Hütte, in denen sich die fünf aus Rampling Steep befanden. Carisman zeigte ihnen, wo er lag, fast einen halben Meter unter dem Lehmboden, und im Laufe der Zeit so fest verschlossen, daß Horner Dees und Morgan alle Kräfte brauchten, um ihn freizulegen. Er war offensichtlich nie benutzt worden und möglicherweise sogar in Vergessenheit geraten. Wie auch immer, es war ein Ausgang, und die Gruppe zögerte nicht, ihn zu benutzen.

»Ich wäre glücklicher, wenn wir ein Licht hätten«, murmelte Dees, als er in die Dunkelheit hinunterschaute.

»Hier«, flüsterte Walker Boh ungeduldig und trat neben ihn. Er ließ sich in das schwarze Loch gleiten, wo die Tunnelwände sein Tun abschirmten, und machte ein Schnalzgeräusch mit seinen Fingern. Seine Hand begann zu leuchten, eine helle Aura, die keine sichtbare Quelle besaß. Dem Dunklen Onkel ist wenigstens ein bißchen von seiner Magie geblieben, dachte Morgan Leah.

»Carisman, gibt es hier unten mehr als nur einen Gang?« Walkers Stimme klang hohl. Der Sänger nickte. »Dann bleib in meiner Nähe und zeig mir, wo es langgeht.«

Einer nach dem anderen ließen sie sich in das Loch gleiten, Carisman direkt hinter Walker, gefolgt von Quickening, Morgan und Dees. Pe Ell bildete die Nachhut. Es war finster in dem Tunnel, trotz Walkers Licht, und die Luft war stickig. Der Stollen führte zunächst geradeaus, dann verzweigte er sich in drei Richtungen. Carisman führte sie nach rechts. Dann verzweigte er sich wieder, und sie gingen nach links. Sie waren weit genug gegangen, dachte Morgan. Sie mußten sich schon außerhalb der Palisaden befinden. Der Tunnel führte noch immer weiter. Baumwurzeln waren durch die Tunnelwände gedrungen, und ihr Gewirr machte das Vorwärtskommen schwierig. An manchen Stellen war das Wurzelwerk so dicht, daß sie es durchschlagen mußten, um zu passieren. Ihr Tun wirbelte so viel Staub und Erde auf, daß das Atmen beschwerlich wurde. Morgan vergrub das Gesicht in den Ärmel seines Kittels und gestattete sich nicht, darüber nachzudenken, was geschehen würde, wenn die Tunnelwände einstürzten.

Nach endlos erscheinender Zeit wurden sie langsamer und blieben schließlich stehen. »Ja, hier ist es«, hörte er Carisman zu Walker sagen. Er lauschte, wie die beiden sich mühten, die Falltüre zu öffnen. Sie arbeiteten schweigend, stöhnten und stemmten und bewegten sich in der Enge. Morgan und die anderen hockten sich hin und warteten.

Das Freilegen der Falltüre dauerte fast ebensolang wie der ganze Weg durch den Tunnel. Als sie schließlich aufklappte, strömte frische Luft herein, und die sechs kletterten in die Nacht hinaus. Sie befanden sich in einer dicht bewaldeten Senke, und die Bäume standen so eng beieinander, daß ihr Geäst den Himmel fast vollständig abschirmte.

Wortlos standen sie eine Weile da und sogen die frische Luft ein. Dann drängte Dees herbei. »Wo geht es zu den Stacheln?« fragte er Carisman ungeduldig.

Carisman wies die Richtung, und Dees wollte sofort losgehen, doch Pe Ell packte ihn am Arm und riß ihn zurück. »Warte!« warnte er. »Dort sind mit Sicherheit Wachposten!«

Er warf dem alten Fährtensucher einen vernichtenden Blick zu, machte den anderen Zeichen, zu warten und verschwand in der Finsternis. Morgan ließ sich gegen den Stamm einer riesigen Kiefer sinken, und die anderen wurden zu undeutlichen Schatten hinter den struppigen Ästen. Er schloß müde die Augen. Es schien Tage her zu sein, seit er richtig geruht hatte. Er dachte, wie gut es täte, ein wenig zu schlafen.

Aber eine Berührung an seiner Schulter weckte ihn gleich wieder auf. »Ruhig, Hochländer«, flüsterte Walker Boh. Der große Mann ließ sich neben Morgan nieder, und seine dunklen Augen suchten Morgans. »Du bewegst dich auf gefährlichem Boden in diesen Tagen, Morgan Leah. Du solltest besser aufpassen, wo du hintrittst.«

Morgan blinzelte. »Was meinst du damit?«

Walker neigte sein Gesicht ein wenig, und Morgan sah, wie Anspannung und Belastung seine Züge verzerrten. »Pe Ell. Bleib ihm fern. Provoziere ihn nicht, fordere ihn nicht heraus. Halte dich so fern von ihm, wie du kannst. Wenn er will, schlägt er schneller zu als eine Schlange.«

Er flüsterte, seine Stimme klang rauh, und die Überzeugung, die darin lag, ließ Morgan schaudern. Eine spröde Todesbotschaft. Morgan schluckte gegen seine Gefühle an und nickte. »Wer ist er, Walker? Weißt du es?«

Der Dunkle Onkel schaute weg und dann wieder zu Morgan. »Manchmal kann ich Dinge durch eine Berührung fühlen. Manchmal kann ich die Geheimnisse eines anderen erfahren, indem ich nur an ihm entlangstreiche. Das geschah, als ich Carisman von Pe Ell wegzog. Er hat getötet. Viele Male. Er hat es absichtsvoll getan, nicht in Selbstverteidigung. Er genießt es. Ich nehme an, er ist ein Meuchelmörder.«

Seine bleiche Hand hielt den erschreckten Morgan fest. »Hör zu. Er hat unter seinen Kleidern eine Waffe von immenser Kraft verborgen. Seine Waffe ist magisch. Die benutzt er zum Morden.«

»Magisch?« Morgans Stimme zitterte vor Überraschung, trotz seines Bemühens, sie ruhig klingen zu lassen. Die Gedanken rasten durch sein Bewußtsein. »Weiß Quickening das?«

»Sie hat ihn ausgewählt, Hochländer. Sie hat uns alle erwählt. Sie hat uns gesagt, daß wir Magie besitzen, daß unsere Magie gebraucht würde. Natürlich weiß sie es.«

Morgan war entsetzt. »Sie hat absichtlich einen Meuchelmörder mitgenommen? Will sie den schwarzen Elfenstein auf diese Weise wiederbekommen?«

Walker schaute Morgan fest an. »Ich glaube nicht«, sagte er schließlich. »Aber ich bin nicht sicher.«

Morgan ließ sich ungläubig zurücksinken. »Walker, was tun wir hier? Warum hat sie uns mitgenommen?« Walker antwortete nicht. »Ich weiß beim allerbesten Willen nicht, warum ich mich bereit erklärt habe, mitzukommen. Oder vielleicht doch. Ich fühle mich zu ihr hingezogen, ich gebe es zu. Ich bin von ihr völlig bezaubert. Aber was ist das für ein Grund? Ich dürfte nicht hier sein. Ich sollte in Tyrsis sein und nach Par und Coll suchen.«

»Die Diskussion haben wir doch schon geführt«, erinnerte Walker ihn freundlich.

»Ich weiß. Aber ich frage mich noch immer. Vor allem jetzt. Pe Ell ist ein Mörder; was haben wir mit so einem Mann zu schaffen? Hält Quickening uns alle für seinesgleichen? Glaubt sie, wir seien alle Mörder? Ist es das, wozu sie uns braucht? Ich kann es nicht fassen!«

»Morgan.« Walker sprach seinen Namen aus, um ihn zu beruhigen, dann lehnte er sich ebenfalls an den Baumstamm, bis ihre Köpfe sich beinahe berührten. Etwas an der Krümmung seines Körpers erinnerte Morgan daran, wie gebrochen der Dunkle Onkel gewesen war, als sie ihn in den Ruinen der Hütte in Hearthstone gefunden hatten. »Hinter der Sache steckt mehr, als dir bekannt ist«, flüsterte Walker. »Oder mir. Ich kann Dinge fühlen, aber ich kann sie nicht klar erkennen. Quickening hat ein Ziel, das weiter reicht, als was sie uns kundgibt. Sie ist die Tochter des Königs vom Silberfluß – vergiß das nicht. Sie hat geheimes Wissen. Sie verfügt über Magie, die alles übertrifft, was ich je gesehen habe. Aber sie ist gleichzeitig auch verwundbar. Sie muß bei diesem Unterfangen einen wohlbedachten Pfad beschreiten. Ich nehme an, wir sind unter anderem dazu da, dafür zu sorgen, daß sie diesen Pfad einhalten kann.«

Morgan dachte ein Weilchen darüber nach und nickte. Er lauschte in die nächtliche Stille und starrte unter den tiefhängenden Kiefernästen hindurch auf die schattigen Gestalten dahinter, vor allem auf Quickenings schlanke, ätherische Figur, ein schmales Etwas von Bewegung, das von der Nacht durch eine leichte Verschiebung des Lichts verschluckt werden konnte.

Walkers Stimme klang gepreßt. »Ich habe eine Vision von ihr gehabt – die grauenhafteste aller Visionen, die ich je hatte. Die Vision sagte mir, daß sie sterben wird. Ich warnte sie davor, ehe wir Hearthstone verließen, ich sagte ihr, daß ich vielleicht nicht mitkommen sollte. Aber sie bestand darauf. Also kam ich mit.« Er schaute hinüber. »Das gilt für uns alle gleichermaßen. Wir sind mitgegangen, weil wir wissen, daß es sein muß. Versuch nicht zu verstehen, warum das so ist, Morgan. Nimm es einfach als gegeben hin.«

Morgan seufzte, verloren im Wirrwarr seiner Gedanken und Gefühle, in seiner Sehnsucht nach Dingen, die niemals sein konnten, einer Vergangenheit, die für immer verloren war, und einer Zukunft, die er nicht bestimmen konnte. Er dachte daran, wie weit die Dinge gekommen waren, seit ihn die Ohmsfords in Leah aufgesucht hatten, und wie anders jetzt alles geworden war.

Walker Boh erhob sich. Seine Bewegung raschelte in der Stille. »Denk an das, was ich dir gesagt habe, Hochländer. Halt dich von Pe Ell fern.«

Er schob sich durch den Vorhang von Ästen und ging fort, ohne sich umzudrehen. Morgan starrte ihm nach.


Pe Ell blieb lange weg. Als er zurückkam, sprach er nur zu Horner Dees. »Die Luft ist rein, Alter«, berichtete er leise. »Auf geht’s.« Wortlos verließen sie die Senke und folgten Carisman, der sie wieder zu dem Steilhang führte, eine schweigende Prozession von Geistern in der Nacht. Keiner kam ihnen in die Quere, und Morgan war sicher, daß es auch so bleiben würde. Pe Ell hatte dafür gesorgt.

Es war noch immer dunkel, als die Stacheln wieder in Sicht kamen. Sie bestiegen den Steilhang und wandten sich nach Norden. Dees gab einen schnellen Schritt vor. Der Weg war frei, der Grat kahl und vom Mond beschienen, außer dort, wo die skelettartigen Bäume mit den spindeligen Schatten ihrer Stämme und Äste ein Spinnwebmuster auf den Boden warfen. Sie folgten den Stacheln durch das enge Talende und steuerten die dahinterliegenden Hügel an. Tagesanbruch war nicht mehr fern, ein schwacher Schimmer am östlichen Horizont. Dees wurde noch schneller. Keiner brauchte zu fragen, warum.

Als die Sonne über die Berggipfel stieg, waren sie weit genug gekommen, daß sie das Tal nicht mehr sehen konnten. Sie stießen auf einen Fluß mit klarem Wasser und machten halt, um zu trinken. Schweiß rann ihnen über die Gesichter, und ihr Atem ging heftig.

»Seht dort«, sagte Horner Dees. Eine Kette spitzer Berge zeichnete sich vor dem Himmel ab. »Das ist der Nordrand des Charnalgebirges, die letzte Bergkette, über die wir müssen. Es gibt ein Dutzend Pässe, die darüberführen, und die Urdas können nicht wissen, welchen wir nehmen. Überall sind Felsen, und es ist schwer, irgendwelche Spuren zu verfolgen.«

»Für dich vielleicht«, sagte Pe Ell unfreundlich. »Nicht unbedingt für sie.«

»Sie werden ihre Berge nicht verlassen.« Dees ignorierte ihn. »Sobald wir drüben sind, sind wir vor ihnen in Sicherheit.«

Sie rafften sich wieder auf und zogen weiter. Die Sonne stieg in den wolkenlosen Himmel, ein gleißender, weißer Feuerball, der die Erde in einen Brennofen verwandelte. Soweit Morgan sich erinnern konnte, war es der heißeste Tag, seit er Culhaven verlassen hatte. Die Hügel gingen in Gebirge über, die Bäume wurden spärlicher und wichen Gestrüpp und Buschwerk. Einmal glaubte Dees, weit hinter ihnen im Wald eine Bewegung bemerkt zu haben, und einmal hörten sie ein Jaulen, von dem Carisman behauptete, es sei ein Urdahorn. Aber der Mittag ging vorüber, und es gab keine Anzeichen einer Verfolgung.

Dann stiegen Wolken von Westen her auf, eine drohende schwarze Gewitterwand. Morgan schlug nach den Mücken, die sein schweißnasses Gesicht umsurrten. Das Gewitter würde nicht lange auf sich warten lassen.

Im Laufe des Nachmittags machten sie wieder halt, erschöpft von ihrer Flucht und inzwischen auch hungrig. Viel zu essen gab es nicht, nur ein paar Wurzeln, etwas wildes Gemüse und frisches Wasser. Horner Dees zog los, um den weiteren Weg auszukundschaften, und Pe Ell beschloß, ein Stück zurück zu einem Felsvorsprung zu gehen, von dem aus er das Gebiet hinter ihnen überschauen konnte. Walker setzte sich ein wenig abseits. Carisman sprach mit Quickening über seine Musik und forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Morgan musterte die hübschen Züge des Sängers, seinen blonden Schopf, seine ungehemmten Gesten, und war verdrossen. Um seine Gefühle nicht zu zeigen, zog sich der Hochländer in den Schatten einer dürren Kiefer zurück und schaute in eine andere Richtung.

Donner grollte in der Ferne, und die Wolken rückten auf das Gebirge zu. Der Himmel war eine seltsame Mischung aus Sonnenschein und Finsternis. Die Hitze war noch immer erdrückend und lastete wie eine erstickende Decke über der Erde, Morgan vergrub sein Gesicht in den Händen und schloß die Augen.

Sowohl Horner Dees als auch Pe Ell kamen bald zurück. Der erstere verkündete, daß der Paß, der sie über den letzten Ausläufer des Charnalgebirges bringen würde, eine knappe Stunde entfernt sei. Pe Ell berichtete, daß die Urdas in großer Zahl hinter ihnen her seien.

»Mehr als hundert«, gab er an und fixierte sie dabei mit seinen harten, unlesbaren Augen. »Uns direkt auf den Fersen.«

Sie brachen augenblicklich wieder auf und marschierten noch schneller weiter. Ein Gefühl der Dringlichkeit trieb sie voran, das vorher nicht dagewesen war. Niemand hatte damit gerechnet, daß die Urdas sie so schnell einholen würden, jedenfalls nicht, bevor sie über den Paß waren. Wenn sie gezwungen waren, sich hier einem Kampf zu stellen, war das ihr Ende, das wußten sie.

Sie kämpften sich in die Felsen hinauf, stolperten durch riesige Geröllfelder, stiegen durch enge Schluchten, suchten Halt auf dem lockeren Gestein, das nachzugeben und sie in bodenlose, ausgezackte Spalten mißzureißen drohte. Die Wolken türmten sich über den Berggipfeln und füllten den Himmel jetzt von einem Horizont zum anderen. Dicke Regentropfen klatschten auf den Boden und auf ihre erhitzte Haut. Finsternis legte sich über alles, ein bedrohliches Schwarz, in dem der Donner widerhallte, der über die kahlen, leblosen Felsen rollte. Der Abend rückte näher, und Morgan war sicher, daß der Einbruch der Nacht sie im Gebirge überfallen würde, doch er zwang sich weiterzugehen. Er schaute nach vorne zu Carisman, der in noch schlechterer Verfassung war als er selbst. Er stolperte und stürzte immer wieder, und sein Atem ging schwer. Morgan überwand seine eigene Erschöpfung, holte den anderen ein, legte einen Arm um ihn und half ihm beim Gehen.

Sie hatten gerade die Paßhöhe erreicht, zu der Dees sie geführt hatte, als die Urdas in Sicht kamen. Die struppigen, zerlumpten Geschöpfe tauchten zwischen den Felsen hinter ihnen auf. Sie waren zwar noch immer etwa eine Meile entfernt, doch sie stürmten wie die Wilden schreiend und rufend vorwärts, schwangen ihre Waffen mit dem unmißverständlichen Versprechen, sie zu benutzen, wenn sie sie einholten. Die Gruppe zögerte nur einen ganz kurzen Augenblick und flüchtete dann in den Paß.

Der Paß war ein Einschnitt, der sich aufwärts in die Klippen schlitzte, ein schmaler Durchgang voller Windungen und Biegungen. Die Gruppe stieg hinein und schlängelte sich vorwärts. Es regnete jetzt ernsthaft, statt der vereinzelten Tropfen goß es in Strömen. Der Boden wurde glitschig, und kleine Bäche bildeten sich und schwemmten die Erde unter ihren Füßen weg. Sie tauchten aus dem Schutz der Klippen und gelangten auf einen kahlen Abhang, der nach links in einen steilwandigen Hohlweg mündete, der so schwarz war wie die Nacht. Windböen peitschten in heftigen Stößen über die Bergflanke und schleuderten ihnen aufgewirbelten Sand ins Gesicht. Morgan ließ Carisman los und zog sich schützend seinen Umhang über den Kopf.

Es kostete sie ungeheure Anstrengung, den Hohlweg zu erreichen. Der Wind peitschte so heftig auf sie ein, daß sie nur mühsam vorankamen. Als sie die dunkle Mündung erreichten, tauchten die Urdas wieder auf, sehr nah diesmal. Sie hatten diese letzte Meile allzuschnell zurückgelegt. Pfeile, Lanzen und Wurfgeschosse zischten durch die Luft und trafen ungemütlich nahe auf. Hastig stürmte die Gruppe in den Hohlweg und den Schutz seiner Steilwände.

Hier prasselte der Regen in Sturzbächen nieder, und das Licht war fast völlig verdunkelt. Zackige Felsvorsprünge ragten aus dem Boden und den Wänden des engen Korridors und schrammten sie, als sie hindurchstürmten. Die Zeit schien im heulenden Wind und dem grollenden Donner stillzustehen, und es sah aus, als kämen sie nie hindurch. Morgan eilte vor, um in Quickenings Nähe zu sein, entschlossen, sie zu beschützen.

Als sie endlich den Hohlweg hinter sich hatten, fanden sie sich auf einem Sims wieder, der auf halber Höhe an einer hohen Steilwand entlanglief und in eine Schlucht abfiel, in der die Wasser des Rabb schäumten und gischteten. Dees führte sie ohne zu zögern auf dem Sims entlang und rief ihnen etwas zu, das sie ermutigen sollte, im brausenden Sturm jedoch verlorenging. Im Gänsemarsch folgten sie dem abbröckelnden Steig, Dees vorneweg, gefolgt von Carisman, Quickening, Morgan und Walker Boh. Pe Ell bildete den Schluß. Es regnete in Strömen, der Wind zauste sie, und das Tosen des Flusses bildete eine undurchdringliche Mauer aus Lärm.

Als die ersten Urdas den Ausgang des Hohlwegs erreichten, bemerkte es niemand. Erst als die ersten Wurfgeschosse um die fliehende Gruppe herum gegen die Felsen prasselten, wurden sie ihrer gewahr. Ein Pfeil streifte Pe Ells Schulter, und er wirbelte herum, doch er strebte weiter und verlor den Halt nicht. Die anderen beschleunigten noch ihre Schritte und versuchten verzweifelt, die Entfernung zu ihren Verfolgern zu vergrößern, hasteten den schmalen Steig entlang, und ihre Stiefel glitschten und schlidderten atemberaubend. Morgan warf einen Blick über die Schulter und sah, wie Walker Boh sich umdrehte, den Arm gestikulierend hob und etwas in den Sturm schleuderte. Pfeile und Lanzen, die in ihre Richtung geschleudert worden waren, fielen harmlos herunter. Die Urdas wichen verängstigt vor der Magie des Dunklen Onkels in den Hohlweg zurück.

Vor ihnen verbreiterte sich der Sims etwas und führte steiler abwärts. Die gegenüberliegende Seite des Gebirges kam in Sicht, ein bewaldetes Hügelland, das sich bis zum Horizont erstreckte und in einer Wand von Wolken und Regen verschwand. Unten toste der Rabb, schlängelte sich durch die Schlucht und brauste ostwärts zwischen den Felsen hindurch. Der Steig folgte seinem Lauf mehr als fünfzehn Meter über seinem Ufer, und der kahle Fels wich Erdreich und Gestrüpp.

Morgan schaute sich ein letztes Mal um und stellte fest, daß die Urdas ihnen nicht mehr folgten. Entweder hatte Walker sie weggescheucht oder Horner Dees hatte recht behalten, daß sie ihr Gebirge nicht verlassen würden.

Er drehte sich wieder nach vorn.

Im nächsten Moment wurde die ganze Klippe erschüttert, und ein Teil davon gab dem stetigen Aufprall von Sturm und Regen nach. Der Steig vor ihm, ein ganzes Stück aus Erde und Fels, sackte in die Tiefe und riß Quickening mit sich. Sie fiel gegen den Abhang zurück und versuchte, sich irgendwo festzuklammern. Doch sie fand keinen Halt und begann in einer Lawine von Geröll und Gestein auf den Fluß zuzurutschen. Carisman, der direkt vor ihr ging, wäre beinahe ebenfalls abgestürzt, doch es gelang ihm, sich weit genug nach vorn zu werfen, und er bekam die Wurzeln eines Gebirgsstrauchs zu fassen und konnte sich retten.

Morgan war gleich dahinter. Er sah, daß Quickening sich nicht selber helfen konnte und daß er sie nicht zu fassen bekommen konnte. Er zögerte keine Sekunde. Er sprang von dem abbröckelnden Steig in die Lücke, stolperte den Berghang hinter ihr her, und die Stimmen seiner Gefährten waren schon nicht mehr zu hören. Mit heftigem Aufplatschen stürzte er in den Rabb, tauchte unter, kam wieder an die Oberfläche und schnappte nach Luft von dem Kälteschock. Er sah blitzartig Quickenings Silberhaar wenige Meter entfernt in weißem Schaum auftauchen, schwamm zu ihr und packte sie.

Dann wurden sie beide von der Strömung ergriffen und fortgeschwemmt.

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