6

Pe Ell trug die Tochter des Königs vom Silberfluß in das Haus der Zwerge, die angeboten hatten, sie zu beherbergen. Die Familie bestand aus dem Mann, seiner Frau, ihrer verwitweten Tochter und zwei kleinen Enkelkindern. Ihre Kate aus Stein stand am Ostrand des Dorfes, geschützt von einer Eiche und einer Blutulme, nicht weit von der Mauer des Waldes und in der Nähe des Flußkanals. Es war ruhig dort, isoliert vom eigentlichen Dorf, und als sie ankamen, hatte sich der größte Teil der Menge zerstreut. Ein paar hatten beschlossen zu bleiben und am Rand des Grundstücks ein Lager aufzuschlagen. Die meisten davon gehörten zu denen, die dem Mädchen aus dem Süden gefolgt waren, Eiferer, die beschlossen hatten, daß sie ihre Retterin sei.

Aber sie war nicht für sie bestimmt, das wußte Pe Ell. Sie gehörte jetzt ihm.

Mit der Hilfe der Familie legte er das Mädchen in ein Bett in einem kleinen Hinterzimmer, wo der Mann und die Frau schliefen. Der Mann, die Frau und die verwitwete Tochter gingen wieder hinaus, um etwas für jene zu essen zu bereiten, die sich entschlossen hatten, Wache über das Mädchen zu halten. Doch Pe Ell blieb. Er setzte sich auf einen Stuhl neben das Bett und beobachtete ihren Schlaf. Eine Weile blieben auch die Kinder dabei, neugierig, was geschehen würde. Doch irgendwann verloren sie das Interesse, und er war allein. Das Tageslicht schwand, und es wurde dunkel und still, und er saß da und wartete geduldig auf ihr Erwachen. Er betrachtete ihre schlafende Gestalt, die Kurve ihrer Hüften und Schultern, die sanfte Rundung ihres Rückens. Sie war so ein winziges Geschöpf, nur ein wenig Fleisch und Knochen unter der Decke, ein winziger Lebensfunken. Er staunte über die Beschaffenheit ihrer Haut, die Färbung, die Makellosigkeit. Sie hätte von einem großen Künstler gestaltet sein können, dessen Kunstfertigkeit und Genie ein einmaliges Meisterwerk geschaffen hatten.

Draußen wurden Feuer entfacht, und Stimmen drangen durch das verhangene Fenster. Nächtliche Geräusche füllten die Stille zwischen den Gesprächen, Vogelgesang und das Summen von Insekten erhoben sich über das ferne Rauschen des Flusses. Pe Ell war nicht müde und empfand keinen Bedarf nach Schlaf.

Er nutzte statt dessen die Zeit zum Nachdenken.


Vor einer Woche war er zur Südwache zu einer Unterredung mit Felsen-Dall gerufen worden. Er war gegangen, weil ihm gerade danach war, nicht, weil es nötig war. Er langweilte sich und hoffte, der Erste Sucher könnte ihm etwas Interessantes zu tun geben, ihm eine Herausforderung bescheren. Für Pe Ells Empfinden war das das einzig Bedeutsame bei Felsen-Dall. Das übrige, was der Erste Sucher mit seinem Leben und dem anderer anfing, interessierte ihn nicht. Er machte sich natürlich keinerlei Illusionen. Er wußte, was Felsen-Dall war. Es war ihm einfach egal.

Er brauchte zwei Tage für die Reise. Er ritt aus dem zerklüfteten Hügelland unterhalb des Battlemound Tieflands, wo er sich niedergelassen hatte, nordwärts und gelangte bei Sonnenuntergang des zweiten Tages zur Südwache. Er stieg vom Pferd, als er noch außer Sichtweite der Wachen war, und näherte sich zu Fuß. Es wäre nicht nötig gewesen; er hätte ohne weiteres offen vorreiten können und wäre sofort vorgelassen worden, aber ihm gefiel es, nach Belieben und ungesehen kommen und gehen zu können. Es gefiel ihm, seine Fähigkeiten zu zeigen.

Vor allem den Schattenwesen.

Pe Ell war wie sie, als er in den schwarzen Monolithen kam, scheinbar durch die Sprünge im Stein drang, eine Erscheinung aus der Finsternis. Ungesehen und ungehört ging er an den Wachen vorbei, so unsichtbar für sie wie die Luft, die sie atmeten. Südwache war still und dunkel, die Mauern glatt und poliert, die Flure leer. Es vermittelte den Eindruck einer guterhaltenen Gruft. Nur die Toten gehörten hierher oder jene, die mit dem Tod Handel trieben. Er durchquerte die Katakomben, spürte das Pulsieren der in der Erde gefangenen Magie, hörte, wie sie in dem Bemühen, sich zu befreien, wisperte. Ein schlafender Riese, den Felsen-Dall und seine Schattenwesen zu zähmen gedachten, wie Pe Ell wußte. Sie hüteten ihr Geheimnis wohl, doch vor ihm konnte man keine Geheimnisse bewahren.

Als er fast den hohen Turm erreicht hatte, wo Felsen-Dall wartete, tötete er einen von denen, die Wache hielten, ein Schattenwesen, aber das spielte keine Rolle. Er tat es, weil er dazu in der Lage war und weil er Lust dazu hatte. Er verschmolz mit der schwarzen Steinmauer und wartete, bis das Geschöpf an ihm vorbeikam, angelockt von einem kleinen Geräusch, das er verursacht hatte. Dann zog er den Stiehl aus der Scheide unter seiner Hose und schnitt seinem Opfer geräuschlos den Lebensfaden ab. Der Wachmann starb in seinen Armen, sein Schatten stieg wie schwarzer Rauch vor ihm auf, während der Leib zu Asche zerfiel. Pe Ell schaute zu, wie die erstaunten Augen brachen. Er ließ die leere Uniform liegen, damit man sie finden würde.

Er lächelte, während er durch die Schatten glitt. Er tötete schon seit langer Zeit, und er beherrschte es sehr gut. Er hatte diese Begabung sehr früh in seinem Leben erkannt, seine Fähigkeit, selbst das wachsamste Opfer aufzufinden und zu zerstören, sein Gefühl, wie ihr Schutz niedergebrochen werden konnte. Der Tod machte den meisten Leuten angst, doch nicht Pe Ell. Pe Ell wurde von ihm angezogen. Der Tod war der Zwillingsbruder des Lebens und der interessantere von den beiden. Er war geheimnisvoll, unbekannt, mysteriös. Er war unvermeidlich und für immer, wenn er kam. Er war eine dunkle Festung mit unendlich vielen Kammern, die darauf warteten, erforscht zu werden. Die meisten Leute betraten sie nur einmal, und das auch nur, weil sie keine andere Wahl hatten. Pe Ell wollte bei jeder Gelegenheit eintreten können, und die Möglichkeit, dies zu tun, gaben ihm die, die er tötete. Jedesmal, wenn er jemanden sterben sah, entdeckte er ein neues Gemach, sah er einen anderen Teil des Geheimnisses. Er wurde wiedergeboren.

Hoch oben im Turm traf er auf zwei Wächter, die vor einer verschlossenen Tür postiert waren. Sie bemerkten ihn nicht, als er sich näherte. Pe Ell lauschte. Er konnte nichts hören, doch er konnte spüren, daß jemand in dem Raum hinter der Tür gefangengehalten wurde. Er überlegte einen Augenblick, ob er herausfinden sollte, wer es war. Aber das hieße, daß er danach fragen mußte, was er niemals tun würde, oder die Wachen töten mußte, wozu er keine Lust hatte. Er ging weiter.

Pe Ell stieg die verdunkelten Treppen hinauf in die Spitze der Südwache und betrat einen Saal mit unregelmäßigen Kammern, die wie Gänge in einem Labyrinth miteinander verbunden waren. Es gab keine Türen, nur Türöffnungen. Es gab keine Wachen. Pe Ell schlüpfte hinein, ein geräuschloser Teil der Nacht. Draußen war es inzwischen dunkel, vollständig schwarz, weil Wolken den Himmel zudeckten und die Welt darunter undurchdringlich machten. Pe Ell durchquerte mehrere der Kammern, lauschte und wartete.

Dann blieb er unvermittelt stehen, richtete sich auf und wandte sich um.

Felsen-Dall trat aus der Finsternis, von der er ein Teil war. Pe Ell lächelte. Felsen-Dall konnte sich ebenfalls gut unsichtbar machen.

»Wie viele hast du umgebracht?« fragte der Erste Sucher mit seiner wispernden, leisen Stimme.

»Einen«, erwiderte Pe Ell. Ein Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln. »Vielleicht werde ich noch einen töten, wenn ich hinausgehe.«

Dalls Augen schimmerten in einem eigentümlichen Rot. »Eines Tages wirst du dieses Spiel einmal zu oft gespielt haben. Eines Tages wirst du aus Versehen dem Tod in die Quere kommen, und er wird dich schnappen statt deines Opfers.«

Pe Ell zuckte mit den Achseln. Sein eigener Tod bekümmerte ihn nicht. Er wußte, daß er kommen würde. Wenn es soweit war, würde ihm sein Gesicht vertraut sein, eins, das er sein Leben lang gekannt hatte. Für die meisten gab es die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Nicht für Pe Ell. Die Vergangenheit war nichts als Erinnerungen, und Erinnerungen waren abgestandene Mahnungen an das, was verloren war. Die Zukunft war ein vages Versprechen – Träume und Rauchwölkchen. Mit beiden konnte er nichts anfangen. Nur die Gegenwart zählte, denn die Gegenwart war das Hier und Jetzt dessen, was man war, die Ereignisse des Lebens, die Unmittelbarkeit des Todes, und man konnte sie kontrollieren, wie es weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft möglich war. Pe Ell glaubte an Kontrolle. Die Gegenwart war eine sich stetig weiterentwickelnde Kette von Augenblicken, die das Leben und Sterben schmiedeten, und man war immer da, um sie kommen zu sehen.

Ein Fenster öffnete sich in die Nacht jenseits eines Tisches mit zwei Stühlen, und Pe Ell ließ sich auf dem einen nieder. Felsen-Dall gesellte sich dazu. Eine Weile saßen sie schweigend da, und jeder schaute den anderen an, doch sah noch etwas mehr. Sie kannten sich schon seit über zwanzig Jahren. Ihre Begegnung war ein Zufall gewesen. Felsen-Dall war damals Jungmitglied eines Polizeikomitees des Koalitionsrates und schon zutiefst verstrickt in die Gift verspritzende Politik der Föderation. Er war grausam und ehrgeizig und, kaum aus den Kinderschuhen herausgewachsen, schon jemand zum Fürchten. Er war natürlich ein Schattenwesen, aber nur wenige wußten das. Pe Ell, beinahe gleich alt, war ein Mörder, der damals schon über zwanzig Morde auf dem Gewissen hatte. Sie waren sich in den Schlafquartieren eines Mannes begegnet, den Felsen-Dall zu beseitigen gekommen war, ein Mann, nach dessen Position in der Südlandregierung er trachtete und dessen Einmischungen er lange genug geduldet hatte. Pe Ell war als erster dort angelangt, geschickt von einem anderen der vielen Feinde dieses Mannes. Sie hatten sich über der Leiche des Mannes schweigend gegenübergestanden, und die Nachtschatten hüllten sie beide in die gleiche Düsterkeit, die ihr Leben widerspiegelte, und sie hatten eine Verwandtschaft gefühlt. Beide verfügten über Magie. Keiner war, was er zu sein schien. Beide waren rücksichtslos unmoralisch. Keiner hatte Angst vor dem anderen. Draußen summte und klirrte und fauchte die Südlandstadt Wayfort unter den Intrigen von Männern, deren Ehrgeiz größer war als ihr eigener, doch deren Fähigkeiten weit geringer waren. Sie schauten einander in die Augen und erkannten ihre Möglichkeiten.

Sie gründeten eine unwiderrufliche Partnerschaft. Pe Ell war die Waffe, Felsen-Dall die Hand, die sich ihrer bediente. Jeder diente dem anderen zu seinem eigenen Genuß; es gab keine Beschränkung und kein Band. Jeder nahm, was er brauchte, und gab, was gefordert war – doch keiner identifizierte sich mit dem anderen oder verstand, was der andere davon hatte. Felsen-Dall war der Schattenwesenführer, dessen Pläne ein unangetastetes Geheimnis waren. Pe Ell war der Mörder, dessen Tätigkeit seine absonderliche Leidenschaft blieb. Pe Ell nahm die Einladung an, wenn die Aufgabe spannend genug war. Sie labten sich genüßlich am Tod anderer.

»Wer ist das, den du da unten gefangenhältst?« fragte Pe Ell plötzlich und brach damit das Schweigen, beendete den Sturm der Erinnerungen.

Felsen-Dall neigte den Kopf ein wenig, eine knochige Maske, die sein Gesicht wie einen fleischlosen Schädel aussehen ließ. »Einen Südländer, einen Talbewohner. Einen von zwei Brüdern mit dem Namen Ohmsford. Der andere Bruder glaubt, daß ich diesen hier umgebracht habe. Ich habe dafür gesorgt, daß er das glaubt. Ich hatte es so geplant.« Der große Mann schien mit sich selbst zufrieden zu sein. »Wenn es Zeit dafür ist, werde ich dafür sorgen, daß die beiden sich wiederfinden.«

»Dein eigenes Spiel, wie mir scheint.«

»Ein Spiel mit sehr hohem Einsatz, einem Einsatz, der Magie von unvorstellbaren Ausmaßen mit einschließt – Magie, die größer ist als deine oder meine oder die von irgendwem sonst. Grenzenlose Kraft.«

Pe Ell antwortete nicht. Er fühlte das Gewicht des Stiehls an seinem Schenkel, die Wärme seiner Magie. Es fiel ihm schwer, sich eine stärkere Magie vorzustellen – unmöglich, sich eine nützlichere auszumalen. Der Stiehl war die perfekte Waffe, eine Klinge, die alles durchtrennen konnte. Nichts hielt ihm stand. Eisen, Stein, die undurchdringlichste aller Verteidigungen – alles war nutzlos dagegen. Niemand war davor sicher. Sogar die Schattenwesen waren anfechtbar, sogar sie konnten damit zerstört werden. Das hatte er vor Jahren herausgefunden, als einer von ihnen wie eine schleichende Katze in sein Schlafzimmer gekommen war und versucht hatte, ihn umzubringen. Er hatte geglaubt, ihn schlafend zu finden, doch Pe Ell war immer wach. Er hatte das schwarze Ding ohne Schwierigkeiten getötet.

Später war ihm der Gedanke gekommen, daß das Schattenwesen von Felsen-Dall geschickt worden sein mochte, um ihn zu testen. Er hatte sich mit dieser Möglichkeit nicht lange aufgehalten. Es spielte keine Rolle. Der Stiehl machte ihn unbesiegbar.

Das Schicksal hatte ihm diese Waffe gegeben, dachte er. Er wußte nicht, wer den Stiehl hergestellt hatte, aber er war für ihn bestimmt. Er war zwölf Jahre alt gewesen, als er ihn fand, auf einer Reise mit einem Mann, der behauptete, sein Onkel zu sein – ein schroffer, verbitterter Trunkenbold mit der Neigung, alles, was kleiner und schwächer war als er, zu verprügeln –, auf einer Reise durch das Tiefland von Battlemound nach Norden in eine endlose Folge von Städten und Dörfern, die sie aufsuchten, damit der Onkel sein Diebesgut verhökern konnte. Sie kampierten in einem trostlosen, leeren Gestrüppgelände am Rande der Schwarzen Eichen, einem Grenzgebiet zwischen den Sirenen und den Waldwölfen, und der Onkel hatte ihn wieder einmal für irgendeine eingebildete Untat geschlagen und war mit der Flasche in der Hand eingeschlafen. Pe Ell machten die Prügel nichts mehr aus; er hatte sie ertragen, seit er mit vier Jahren zum Waisen geworden und von seinem Onkel aufgenommen worden war. Er erinnerte sich kaum mehr daran, wie es war, nicht mißhandelt zu werden. Was ihm etwas ausmachte, war die Art und Weise, wie der Onkel es in diesen Tagen tat – als wollte er mit jedem Schlag testen, wieviel der Junge aushalten konnte. Pe Ell hatte begonnen zu vermuten, daß die Grenze erreicht war.

Er ging in der einfallenden Dämmerung davon, um allein zu sein, schlenderte die leeren Hänge hinunter, trottete über trostlose Anhöhen und wartete, daß die Schmerzen von den Striemen und Beulen nachließen. Die Talmulde war nicht weit, nur ein paar hundert Meter entfernt, und die Höhle in ihrer Sohle zog ihn an wie ein Magnet. Er spürte ihre Existenz in einer Weise, die er nicht zu erklären vermochte, nicht einmal später. Verborgen unter Gestrüpp und halb unter lockerem Geröll begraben öffnete sich ein schwarzer, geheimnisvoller Schlund in der Erde. Pe Ell ging ohne zu zögern hinein. Selbst damals gab es nicht vieles, das ihm angst machte. Seine Augen waren immer ausgezeichnet gewesen, und ein Minimum an Licht reichte ihm, um seinen Weg zu finden.

Er drang in die Höhle ein bis zu der Stelle, wo die Knochen herumlagen – jahrhundertealte Menschenknochen, verstreut, als habe man sie auseinandergetreten. Der Stiehl lag dazwischen. Seine Klinge leuchtete silbern in der Dunkelheit, pulsierte vor Leben, und sein Name war in den Griff geritzt. Pe Ell hob ihn auf und fühlte seine Wärme. Ein Talisman aus einem anderen Zeitalter, eine Waffe von großer Kraft – er wußte augenblicklich, daß sie magisch war und daß ihr nichts widerstehen konnte.

Er zögerte nicht. Er verließ die Höhle, kehrte ins Lager zurück und schnitt seinem Onkel die Kehle durch. Vorher weckte er ihn, damit er wußte, wer ihn umbrachte. Sein Onkel war der erste Mensch, den er tötete.

Das alles lag schon lange zurück.


»Es gibt da ein Mädchen«, sagte Felsen-Dall plötzlich und schwieg wieder.

Pe Ells Blick schwenkte wieder zurück auf das grobknochige Gesicht des anderen, das sich vor der Nacht abzeichnete. Er sah die karmesinroten Augen leuchten.

Der Erste Sucher ließ seinen Atem zwischen den Lippen herauszischen. »Man sagt, sie verfüge über Magie, sie könne das Land verändern, indem sie es einfach berührt, sie vertreibe Befall und Krankheit und lasse ausgewachsene Blumen aus dem schlechtesten Boden sprießen. Man sagt, sie sei die Tochter des Königs vom Silberfluß.«

Pe Ell lächelte. »Und ist sie das?«

Felsen-Dall nickte. »Ja, sie ist das, was die Geschichten behaupten. Ich weiß nicht, mit welchem Auftrag sie geschickt worden ist. Sie reist ostwärts in Richtung Culhaven zu den Zwergen. Es sieht aus, als habe sie etwas Bestimmtes im Sinn. Ich will, daß du herausfindest, was das ist, und sie dann tötest.«

Pe Ell räkelte sich genüßlich und beeilte sich nicht mit seiner Antwort. »Warum bringst du sie nicht selber um?«

Felsen-Dall schüttelte den Kopf. »Nein. Die Tochter des Königs vom Silberfluß ist für uns tabu. Außerdem würde sie ein Schattenwesen sofort erkennen. Feengeschöpfe sind einander verwandt, und die Verwandtschaft vereitelt jede Tarnung. Es muß jemand anderes sein als einer von uns, jemand, der ihr nah genug kommen kann, jemand, den sie nicht verdächtigt.«

»Jemand.« Pe Ells schiefes Lächeln verhärtete sich. »Es gibt haufenweise Jemands, Dall. Schick einen anderen. Du hast ganze Armeen von blindlings gehorsamen Halsabschneidern, die nur zu glücklich wären, ein Mädchen zu beseitigen, das töricht genug ist, zu zeigen, daß sie über Magie verfügt. Dieses Geschäft interessiert mich nicht.«

»Bist du sicher, Pe Ell?«

Pe Ell seufzte innerlich. Jetzt geht das Feilschen los, dachte er. Er stand auf und lehnte seinen gertenschlanken Leib über den Tisch, so daß er das Gesicht des anderen klar sehen konnte. »Ich habe dich oft genug sagen gehört, wie sehr ich für dich wie ein Schattenwesen wirke. Wir sind uns sehr ähnlich, erzählst du mir. Wir üben Magie aus, gegen die es keinen Schutz gibt. Wir verfügen über Einsicht in den Sinn des Lebens, die anderen abgeht. Wir teilen gemeinsame Instinkte und Fähigkeiten. Wir riechen, schmecken und fühlen gleich. Wir sind zwei Seiten der gleichen Münze. Und so weiter und so fort. Abo dann, Dall, wenn das so ist und du nicht lügst, würde ich doch von diesem Mädchen genauso schnell wie du erkannt werden, oder? Daher hat es keinen Sinn, mich hinzuschicken.«

»Du mußt es tun.«

»Muß ich wirklich?«

»Deine Magie ist nicht angeboren. Sie ist getrennt und unabhängig von dir und von dem, was du bist. Selbst wenn das Mädchen sie spürt, weiß sie nicht, wer du bist. Sie wird die Gefahr, die du für sie bedeutest, nicht erkennen. Du wirst in der Lage sein, zu tun, was zu tun ist.«

Pe Ell zuckte mit den Achseln. »Wie gesagt, die Sache interessiert mich nicht.«

»Weil du meinst, sie bedeutet keine Herausforderung?«

Pe Ell schwieg und setzte sich langsam wieder hin. »Ja. Weil es keine Herausforderung ist.«

Felsen-Dall lehnte sich in seinem Stuhl zurück, und sein Gesicht verschmolz mit dem Schatten. »Dieses Mädchen ist nicht einfach ein Geschöpf aus Fleisch und Blut; sie wird nicht leicht zu überwältigen sein. Sie besitzt gewaltige Magie, und ihre Magie wird sie beschützen. Es braucht noch stärkere Magie, um sie zu töten. Gewöhnliche Menschen mit gewöhnlichen Waffen haben keine Chance. Meine Legionen von Halsabschneidern, wie du sie so verächtlich nennst, sind wertlos. Föderationssoldaten können sich ihr nähern, doch sie können ihr nichts anhaben. Schattenwesen können ihr noch nicht einmal nahe kommen. Und selbst wenn sie das könnten, nehme ich an, würde es keinen Unterschied machen. Verstehst du, was ich dir sage, Pe Ell?«

Pe Ell antwortete nicht. Er schloß die Augen und konnte fühlen, wie Felsen-Dall ihn anschaute.

»Dieses Mädchen ist gefährlich, Pe Ell, und um so gefährlicher, weil sie offensichtlich geschickt worden ist, um etwas von Bedeutung zu erreichen, und ich weiß nicht, was es ist. Ich muß es herausfinden, und ich muß es verhindern. Es wird beides nicht leicht zu erledigen sein. Es mag sogar deine Fähigkeiten übersteigen.«

Pe Ell neigte nachdenklich den Kopf. »Glaubst du das im Ernst?«

»Möglich.«

Pe Ell war blitzschnell aufgesprungen, hatte den Stiehl aus der Scheide gezogen und hielt die Spitze der Klinge knapp vor Felsen-Dalls Nase. Pe Ells Lächeln war furchteinflößend. »Wirklich?«

Felsen-Dall zuckte nicht, er zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Tu, was ich dir sage, Pe Ell. Geh nach Culhaven. Such das Mädchen und finde heraus, was sie vorhat. Dann bring sie um.«

Pe Ell fragte sich, ob er Felsen-Dall umbringen sollte. Er hatte schon früher daran gedacht. Es ziemlich ernsthaft in Betracht gezogen. In letzter Zeit erschien ihm dieser Gedanke einigermaßen faszinierend. Er empfand keinerlei Loyalität zu dem Mann. Er war ihm so oder so nicht wichtig, abgesehen von den Gelegenheiten, die er ihm bot, und selbst die befriedigten ihn längst nicht mehr so wie früher. Er war der ständigen Versuche des anderen, ihn zu manipulieren, müde. Ihm behagte ihr Abkommen nicht mehr. Warum dem nicht ein Ende setzen?

Der Stiehl schwankte. Die Sache war natürlich, daß es keinen wirklichen Grund dafür gab. Felsen-Dall zu töten brachte überhaupt nichts, es sei denn, er war erpicht darauf, die Geheimnisse zu entdecken, die sich ihm im Augenblick des Todes des Ersten Suchers enthüllten. Das könnte sich als interessant erweisen. Andererseits brauchte man nichts zu übereilen. Es war besser, die Vorfreude darauf noch ein Weilchen auszukosten. Abwarten war besser.

Er steckte den Stiehl blitzschnell wieder in die Scheide und wich zurück. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, er habe eine Gelegenheit verpaßt, aber das war töricht. Felsen-Dall konnte ihn nicht abhalten. Das Leben des Ersten Suchers gehörte ihm, wann immer er es sich holen wollte.

Er schaute Felsen-Dall eine Weile an, dann spreizte er die Hände. »Ich werde es tun.«

Er drehte sich um und schickte sich an zu gehen. Felsen-Dall rief hinter ihm her: »Laß dich warnen, Pe Ell. Dieses Mädchen ist dir mehr als ebenbürtig. Treib keine Spielchen mit ihr. Sobald du ihre Absichten kennst, bring sie schleunigst um.«

Pe Ell antwortete nicht. Er schlüpfte aus dem Zimmer und verschmolz wieder mit den Schatten der Festung, desinteressiert an allem, was Felsen-Dall denken oder wünschen mochte. Es reichte, daß er sich einverstanden erklärt hatte, zu tun, worum das Schattenwesen ihn gebeten hatte. Wie er es ausführte, ging nur ihn selbst etwas an.

Er verließ die Südwache, um nach Culhaven zu gehen. Er tötete keine der Wachen auf dem Weg. Er fand, es sei der Mühe nicht wert.


Mitternacht rückte näher. Er war des Denkens müde und schlummerte in seinem Stuhl, während die Stunden verstrichen. Es war nicht lange vor Tagesanbruch, als das Mädchen erwachte. In der Kate war es still, die Zwergenfamilie schlief. Die Lagerfeuer draußen waren niedergebrannt, und das letzte Gesprächsgeflüster war verstummt. Pe Ell wachte sofort auf, als das Mädchen sich regte. Sie schlug die Augen auf und fixierte ihn. Lange Zeit starrte sie ihn an, ohne etwas zu sagen, dann setzte sie sich langsam auf.

»Ich heiße Quickening«, sagte sie.

»Ich bin Pe Ell«, erwiderte er.

Sie faßte nach seiner Hand und nahm sie in die ihre. Ihre Finger waren so leicht wie Federn, als sie seine Haut berührten. Dann schauderte sie und wich zurück.

»Ich bin die Tochter des Königs vom Silberfluß«, sagte sie und schwang ihre Beine vom Bett und saß ihm gegenüber. Sie strich sich das zerzauste Silberhaar zurück. Pe Ell war fasziniert von ihrer Schönheit, doch sie schien sich dessen nicht im geringsten bewußt zu sein. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie. »Ich bin aus den Gärten meines Vaters gekommen, um einen Talisman zu suchen. Wirst du mit mir reisen und ihn suchen?«

Die Bitte kam so unerwartet, daß Pe Ell zunächst nicht antwortete, sondern das Mädchen nur anstarrte. »Warum wählst du mich aus?« fragte er schließlich verwirrt.

»Weil du etwas Besonderes bist«, gab sie zurück.

Das war genau die richtige Antwort, und Pe Ell war überrascht, daß sie genug wußte, um sie zu geben, daß sie fühlen konnte, was er hören wollte. Dann dachte er an Felsen-Dalls Warnung und wappnete sich. »Was für einen Talisman suchen wir denn?«

Ihr Blick blieb fest auf ihn gerichtet. »Einen magischen, einen mit so viel magischer Kraft, daß er sogar jener der Schattenwesen überlegen ist.«

Pe Ell blinzelte. Quickening war so schön, doch ihre Schönheit war eine Maske, die ihn ablenkte und verwirrte. Er fühlte sich plötzlich all seines Schutzes beraubt, bis in die tiefsten Winkel entblößt. Sie erkannte ihn als das, was er war. Sie sah alles.

In diesem Moment hätte er sie beinahe getötet. Was ihn aufhielt, war, wie wahrhaft verletzlich sie war. Trotz ihrer Magie, die in der Tat außergewöhnlich war, Magie, die einen kahlen, wüsten Hügel in etwas zurückverwandeln konnte, was vermutlich nicht mehr als eine Erinnerung der allerältesten der Zwerge sein konnte. Dennoch fehlte ihr jeglicher Schutz gegen eine Mordwaffe wie den Stiehl. Er spürte, daß es so war. Sie war schutzlos, sollte er beschließen, sie zu töten.

In diesem Wissen entschied er, es nicht zu tun. Noch nicht.

»Schattenwesen«, wiederholte er leise.

»Fürchtest du sie?« fragte sie ihn.

»Nein.«

»Und die Magie?«

Pe Ell atmete langsam ein. Seine hageren Züge zogen sich zusammen, als er sich zu ihr beugte. »Was weißt du von mir?« fragte er, und seine Augen suchten die ihren.

Sie schaute nicht weg. »Ich weiß, daß ich dich brauche. Daß du keine Angst haben wirst, zu tun, was getan werden muß.«

Pe Ell kam es vor, als hätten ihre Worte mehr als nur eine Bedeutung, aber er war seiner Sache nicht sicher.

»Kommst du mit?« fragte sie noch einmal.

Töte sie schnell, hatte Felsen-Dall gesagt. Finde heraus, was sie vorhat, und töte sie. Pe Ell schaute durch das Hüttenfenster in die Nacht hinaus, lauschte auf das Rauschen des nahen Flusses und des Windes, sanft und fern. Er hatte sich nie besonders um den Rat anderer gekümmert. Der war meistens eigennützig und überflüssig für einen Mann, dessen Leben von seiner eigenen Urteilsfähigkeit abhing. Außerdem war an diesem Geschäft einiges mehr, als Felsen-Dall ihm enthüllt hatte. Es gab Geheimnisse, die darauf warteten, aufgedeckt zu werden. Vielleicht war der Talisman, den das Mädchen suchte, etwas, das sogar der Erste Sucher fürchtete. Pe Ell lächelte. Und wenn ihm dieser Talisman in die Hände fiele? Wäre das nicht interessant?

Er schaute sie wieder an. Er konnte sie jederzeit töten.

»Ich werde mit dir gehen«, sagte er.

Sie stand plötzlich auf, streckte die Hände aus, faßte die seinen und zog ihn gleichzeitig hoch. »Da sind noch zwei, die mitkommen müssen, zwei wie du, die gebraucht werden«, sagte sie. »Einer von ihnen ist hier in Culhaven. Ich will, daß du ihn herholst.«

Pe Ell runzelte die Stirn. Er hatte schon beschlossen, sie von jenen Dummköpfen, die da draußen lagerten, diesen fehlgeleiteten Leuten, die an Wunder und an das Schicksal glaubten und die ihm nur in die Quere kamen, zu entfernen. Quickening gehörte ihm ganz allein. Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

Sie trat näher, ihre kohlschwarzen Augen waren seltsam ausdruckslos. »Ohne sie können wir nicht erfolgreich sein. Ohne sie ist der Talisman unerreichbar. Sonst brauchen wir niemanden, aber die beiden müssen mitkommen.«

Sie sprach mit solcher Bestimmtheit, daß er außerstande war, ihr zu widersprechen. Sie war offenbar überzeugt, daß das, was sie sagte, stimmte. Vielleicht war es so, dachte er, sie wußte im Augenblick besser als er, was sie vorhatte.

»Nur zwei?« fragte er. »Sonst keiner? Niemand von denen da draußen?«

Sie nickte wortlos.

»Also gut«, willigte er ein. Zwei Männer konnten ihm keine Probleme machen und seine Pläne durchkreuzen. Er konnte das Mädchen noch immer töten, wenn er wollte. »Einer ist hier im Dorf, sagtest du. Wo soll ich ihn suchen?«

Zum ersten Mal, seit sie erwacht war, wandte sie sich ab, so daß er sie nicht sehen konnte.

»Im Föderationsgefängnis«, sagte sie.

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