Quickening blieb mit ihrer kleinen Gruppe mehrere Tage in Hearthstone, damit Walker Boh wieder zu Kräften kommen konnte. Er erholte sich schnell. Der Heilungsprozeß wurde gleichermaßen von den kleinen Berührungen und dem häufigen Lächeln des Mädchens, von ihrer bloßen Gegenwart, wie von der Hand der Natur beschleunigt. Magie war überall um sie herum, eine unsichtbare Aura umgab sie, die alles berührte, mit dem sie in Kontakt kam, und die alles mit einer Geschwindigkeit und einer Gründlichkeit erneuerte und wiederherstellte, die einfach verblüffend waren. Walker wurde fast über Nacht wieder kräftig, die Wirkung des Giftes gehörte der Erinnerung an, und bis zu einem gewissen Grade gesellte sich der Schmerz über den Verlust von Cogline und Ondit dazu. Die Besessenheit schwand aus seinem Blick, und er war in der Lage, seine Wut und seine Angst in einer kleinen, dunklen Ecke seines Bewußtseins einzusperren, wo sie ihn nicht behelligen würden und doch nicht in Vergessenheit gerieten, wenn die Zeit gekommen wäre, sich daran zu erinnern. Seine Entschlossenheit kehrte zurück, sein Selbstvertrauen, sein Zielbewußtsein und seine Entschiedenheit, und er glich eher wieder dem Dunklen Onkel alter Zeiten. Seine eigene Magie half ihm bei seiner Genesung, doch es war Quickening, die mit einer Wärme, die die Sonne in den Schatten stellte, in jedem Augenblick den Anstoß dazu gab.
Sie tat noch mehr. Die Lichtung, auf der die Hütte gestanden hatte, wurde von ihren Wunden und Brandspuren gereinigt, und die Zeugnisse des Kampfes mit den Schattenwesen schwanden langsam. Gras und Blumen erblühten und füllten die Öde, Farbkleckse und duftende Polster trösteten und taten wohl. Sogar die Ruinen der Hütte wandelten sich zu Staub und schwanden schließlich ganz. Es war, als ob sie, wenn immer sie wollte, die Welt erneuern könnte.
Morgan Leah begann sich mit Walker zu unterhalten, wenn Pe Ell nicht in der Nähe war. Der Hochländer fühlte sich nach wie vor nicht wohl und gestand Walker, daß er nicht sicher sei, wer der andere wirklich war und warum Quickening ihn mitgebracht hatte. Morgan war erwachsen geworden, seit Walker ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Dreist und selbstgefällig war er gewesen, als er zum ersten Mal nach Hearthstone gekommen war. Jetzt erschien er ihm wie ein gebändigter, kontrollierter, achtsamer Mann, dem es jedoch nicht an Mut fehlte, ein richtiger Mann. Walker mochte ihn lieber so, und er glaubte, daß die Ereignisse, die ihn von den Ohmsfords getrennt und nach Culhaven gebracht hatten, viel zu seiner Reifung beigetragen hatten. Der Hochländer hatte ihm berichtet, was Par und Coll widerfahren war, wie sie sich Padishar Creel und der Bewegung angeschlossen hatten, von ihrer Reise nach Tyrsis und dem Versuch, das Schwert von Shannara aus der Grube zu holen, ihren Kämpfen mit den Schattenwesen, ihrer Trennung und ihrem getrennten Entkommen. Er berichtete Walker von dem Überfall der Föderation auf den Jut, von Teels Verrat, ihrem Tod und der Flucht von Steff und dem Geächteten nach Norden.
»Sie hat uns alle verraten, Walker«, erklärte Morgan zum Schluß seines Berichts. »Sie verpetzte Elise und Jilt in Culhaven, die Zwerge, die mit dem Widerstand zusammenarbeiten, von denen sie wußte, einfach jeden. Sie muß auch Cogline angezeigt haben.«
Doch Walker glaubte das nicht. Die Schattenwesen hatten über Cogline und Hearthstone Bescheid gewußt, seit Par vor ein paar Monaten von Spinnengnomen gekidnappt worden war. Die Schattenwesen hätten jederzeit kommen können, um Cogline zu holen, und sie hatten sich erst jetzt dazu entschlossen. Felsen-Dall hatte, bevor er Cogline tötete, gesagt, daß der alte Mann der letzte sei, der sich den Schattenwesen in den Weg stellte, und das hieß, daß er Cogline für eine Bedrohung hielt. Wie Felsen-Dall sie gefunden hatte, bereitete ihm weniger Sorgen als die Behauptung des Ersten Suchers, daß die Shannara-Kinder alle tot seien. Was Walker anging irrte er sich offenkundig, aber wie stand es um Par und Wren, die anderen, die von Allanons Schatten auf die Suche nach den verlorenen, verschwundenen Gegenständen geschickt worden waren, die angeblich die Vier Länder retten würden? Irrte Felsen-Dall sich auch in ihrem Fall, oder hatten sie das gleiche Schicksal erlitten wie Cogline? Er hatte keine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden, und er behielt seine Gedanken für sich. Es gab keinerlei Veranlassung, Morgan Leah etwas zu sagen, der ohnehin schon mit den eingebildeten Konsequenzen seiner Entscheidung, Quickening zu folgen, zu schaffen hatte.
»Ich weiß, daß ich nicht hier sein dürfte«, vertraute er Walker eines Nachmittags an. Sie saßen im Schatten einer alten Eiche, lauschten auf die Singvögel und schauten ihnen zu, wie sie über ihnen herumflitzten. »Ich habe mein Steff gegebenes Versprechen gehalten und für die Sicherheit von Elise und Jilt gesorgt. Aber jetzt! Wie steht es mit meinem Versprechen an Coll und Par, daß ich sie beschützen würde? Ich dürfte nicht hier sein. Ich mußte nach Tyrsis zurückgehen und sie suchen.«
Doch Walker erwiderte: »Nein, Hochländer, das müßtest du nicht. Was könntest du denn tun, selbst wenn du sie fändest? Was könntest du denn gegen die Schattenwesen ausrichten? Hier hast du die Gelegenheit, etwas weit Wichtigeres zu tun – etwas Notwendiges, wenn Quickening recht hat. Und vielleicht findest du auch Mittel und Wege, die Magie deines Schwertes wiederherzustellen, so wie ich vielleicht Mittel und Wege finden werde, meinen Arm wiederherzustellen. Geringe Hoffnungen für unsereinen mit pragmatischem Geist, aber dennoch Hoffnungen. Wir fühlen ihr Bedürfnis, Hochländer, und wir reagieren darauf; wir sind ihre Kinder, nicht wahr? Ich glaube, wir können solche Gefühle nicht so einfach abtun. Jedenfalls gehören wir im Augenblick an ihre Seite.«
Zu dieser Überzeugung war er gelangt, seit er Quickening in dem mitternächtlichen Gespräch von der Vision des Finsterweihers und seiner Furcht, daß sie sich bewahrheiten könne, berichtet hatte. Ihre beharrliche Bestimmtheit, daß dies nicht der Fall sein würde, hatte ihn umgestimmt. Morgan Leah war nicht weniger durch und durch gefesselt, von ihrer Schönheit hypnotisiert, durch sein Sehnen angekettet, in einer Weise zu ihr hingezogen, die er nicht im mindesten verstehen und dennoch nicht ableugnen konnte. Für jeden der drei war Quickenings Anziehungskraft anders. Bei Morgan war es physisch, er war fasziniert von ihrem Aussehen und ihren Bewegungen, von der Vollkommenheit ihres Gesichts und ihres Körpers, der Lieblichkeit, die alles übertraf, das er je gekannt oder auch nur geahnt hatte. Bei Walker war es vergeistigter, ein Gefühl der Verwandtschaft, das dem gemeinsamen Erbe der Magie entsprang, ein Verständnis ihrer Denk- und Handlungsweise, die darauf beruhte, ein Band, das sie wie eine gemeinsame Kette aneinander fesselte, wobei jedes Kettenglied die geteilte Erfahrung des Denkens darstellte, die aus dem Zauber der Magie erwuchs.
Pe Ells Absichten waren am schwierigsten zu bestimmen. Er bezeichnete sich selbst als Künstler in Taschenspielerei und im Entkommen, doch er war eindeutig mehr als das; daß er extrem gefährlich war, war für keinen ein Geheimnis, doch er hielt jegliches Wissen über sich selbst sorgfältig verborgen. Er sprach nur selten mit einem von ihnen, einschließlich sogar Quickening, obgleich er ebenso zu ihr hingezogen war wie Walker oder Morgan und sich ebenso aufmerksam um sie kümmerte wie sie. Aber Pe Ell war eher zu ihr hingezogen, wie man sich zu seinen Besitztümern hingezogen fühlt, als zu einer Geliebten oder einer verwandten Seele. Er verhielt sich Quickening gegenüber, wie ein Handwerker zu etwas steht, das er geschaffen hat und als Zeichen seiner Fähigkeiten vorzeigt. Walker hatte Schwierigkeiten, seine Attitüde zu verstehen, denn Pe Ell war in der gleichen Weise wie die beiden anderen mitgenommen worden und hatte nichts zu dem beigetragen, wer oder was Quickening war. Doch das Gefühl, daß Pe Ell das Mädchen als sein Eigentum betrachtete und daß er, wenn die Zeit gekommen wäre, versuchen würde, sie zu besitzen, blieb bestehen.
Die Tage der Woche rollten vorbei, bis Quickening schließlich entschied, daß Walker soweit wiederhergestellt war, daß er reisen konnte. Da verließen die vier Hearthstone. Sie reisten zu Fuß, denn das Land erlaubte nichts Besseres; sie zogen nordwärts durch Darklin Reach und den Wald von Anar, am westlichen Rand des Toffer Ridge zum Rabb, überquerten ihn, wo er schmaler wurde, und reisten in Richtung der Charnalberge. Sie kamen nur langsam voran, denn das Land war dicht bewaldet, erstickt unter Gestrüpp, von Schluchten und Klippen zerklüftet, und sie waren immer wieder gezwungen, ihre Marschrichtung zu verändern, um passierbares Gelände zu finden. Das Wetter war jedoch gut, warme Sonnentage mit sanfter Brise, ein später Sommer, wo die Stunden träge verstrichen und jeder neue Tag willkommen und endlos erschien. Selbst so weit im Norden war das Land krank, die Erde und ihr Leben welk und vergiftet, wenn auch noch nicht so weit fortgeschritten wie im mittleren Teil der Vier Länder, und die Gerüche, die Anblicke und die Geräusche waren meist frisch und neu und noch nicht angefault. Die Flüsse waren klar, die Wälder grün, und das Leben darin schien von der zunehmenden Finsternis, mit der die Schattenwesen alles zu überziehen drohten, noch nicht erfaßt.
Nachts kampierten sie in Waldlichtungen bei einem Teich oder Fluß, die frisches Wasser lieferten und oft auch Fisch für eine Mahlzeit, und hin und wieder gab es Gespräche unter den Männern, sogar mit Pe Ell. Quickening war es, die sich zurückhielt, die abseits blieb, wenn die Tagesreise vorüber war, die sich in die Schatten zurückzog, fern von dem Lagerfeuer und der Gegenwart der drei Männer. Nicht, daß sie sie geringschätzte oder sich vor ihnen verbarg; es war eher, weil sie allein sein mußte. Ziemlich zu Beginn ihrer Reise begann eine Mauer zu wachsen, die sie in der ersten Nacht unterwegs errichtete und später nicht einriß. Ihre drei Begleiter stellten keine Fragen, doch sie beobachteten sie und einander ununterbrochen und warteten, was sich ereignen würde. Als nichts geschah, begann jeder, durch die erzwungene Trennung von ihr, sich in Gegenwart der beiden anderen zu entspannen und zu reden. Morgan hätte so oder so zu reden angefangen. Er war ein junger Mann, der Geschichten und die Gesellschaft anderer genoß. Anders Pe Ell und Walker, die beide von Natur aus und aus Erfahrung vorsichtig und zurückhaltend waren. Gespräche wurden oft zu Schlachtfeldern zwischen den beiden, wo beide versuchten, die Geheimnisse, die der andere zu verbergen suchte, zu entschleiern, und keiner von ihnen war bereit, irgend etwas von sich preiszugeben. Sie benutzten ihre Gespräche als Schirm und achteten sorgfältig darauf, daß die Konversation fern von allem blieb, was wichtig war.
Alle drei spekulierten hin und wieder, wohin sie gehen und was sie tun würden, wenn sie einmal dort wären. Diese Gespräche endeten jedesmal sehr bald. Keiner von ihnen wollte darüber reden, welche Magie er beherrschte, obgleich Morgan und Walker schon eine gewisse Vorstellung von der Kraft des anderen besaßen, und niemand wollte irgendeinen Schlachtplan vorstellen, wie der Talisman zu erringen sei. Sie umstrichen einander wie Säbelfechter, testeten Stärken und Schwachstellen, täuschten einander mit Fragen und Vorschlägen und versuchten herauszufinden, welche Sorte von Eisen die anderen beschützte. Walker und Pe Ell machten nur geringe Fortschritte miteinander, und während eindeutig klar war, daß Morgan wegen der Magie im Schwert von Leah dabei war, war es unmöglich, etwas Wesentliches darüber zu erfahren, da die Waffe zerbrochen war. Vor allem Pe Ell stellte wieder und wieder Fragen darüber, was das Schwert von Leah zu tun imstande sei, welche Art von Materialien es durchdringen könne, und wieviel Kraft es eigentlich enthalte. Morgan setzte alle seine beachtlichen Talente ein, um gleichzeitig charmant und verwirrend zu bleiben und den Eindruck zu vermitteln, daß das Schwert alles und nichts zu tun imstande sei. Irgendwann ließ Pe Ell ihn in Ruhe.
Das Ende der ersten Reisewoche brachte sie nördlich des Anar zu dem Vorgebirge des Charnals, durch das sie tagelang im Schatten der Berge zogen, während sie sich den Weg nach Nordosten in Richtung des Gezeitenstroms bahnten. Inzwischen hatten sie das Land, das ihnen vertraut war, hinter sich gelassen. Weder Morgan noch Pe Ell waren je nördlich des Oberen Anar gewesen, und Walker hatte bisher nur die tieferen Regionen des Anar besucht. Wie auch immer, es war Quickening, die sie führte, offenbar unbeeindruckt von der Tatsache, daß sie das Land noch weniger kannte als sie. Sie gehorchte einer inneren Stimme, die keiner von ihnen hören konnte, Instinkten, die keiner von ihnen fühlte. Sie gab zu, daß sie nicht genau wußte, wohin sie gingen, daß sie für den Augenblick genau genug fühlte, wohin sie sie zu führen hatte, doch daß sie irgendwann das Gebirge zu überwinden hätten, und daß sie dann nicht mehr weiter wüßte, da die Berge sich für sie als unergründlich zeigen würden. Eldwist lag jenseits des Charnalgebirges, und sie würden Hilfe brauchen, um es zu finden.
»Verfügst du über die Magie dafür, Walker?« neckte Pe Ell, als sie geendet hatte, doch Walker lächelte nur und stellte sich die gleiche Frage.
Als die zweite Woche zu Ende ging, holte der Regen sie ein und folgte ihnen unerbittlich in die dritte Woche, durchnäßte gleichermaßen ihren Pfad, ihr Gepäck, ihre Kleidung und ihre Gemüter. Wolken türmten sich über ihren Köpfen entlang der Gipfellinie und weigerten sich dunkel und hartnäckig zu weichen. Donner grollte, und Blitze zuckten über die Gebirgswände, als spielten Riesen Schattentheater mit ihren Händen. So weit im Norden gab es nicht viele Reisende; die wenigen, denen sie begegneten, waren überwiegend Trolle. Wenige sprachen überhaupt, und die, die es taten, hatten kaum etwas Nützliches zu sagen. Es gab mehrere Pässe, die über das Gebirge führten, ein oder zwei Tagreisen entfernt, und alle nahmen ihren Anfang in einer Stadt hoch in den Vorbergen mit dem Namen Rampling Steep. Ja, einige der Pässe führten weit nach Osten zum Gezeitenstrom. Nein, von Eldwist hatten sie noch nie reden gehört.
»Da fragt man sich, ob es wirklich existiert«, murmelte Pe Ell in seiner ständigen Rolle des Aufstachlers; ein Lächeln verzerrte sein schmales Gesicht, das kalt, leer und ohne jeden Humor war. »Gibt einem zu denken.«
In jener Nacht, zwei Tage, bevor ihre dritte Reisewoche zu Ende ging, brachte er das Thema in einer Weise zur Sprache, die keinen Zweifel über seine Gefühle aufkommen ließ. Der Regen fiel noch immer als grauer Vorhang, der die Gemüter frösteln machte und die Geduld auf die Folter spannte.
»Diese Stadt, Rampling Steep«, begann er, und in seiner Stimme klang eine Schärfe mit, die sie im Zwielicht alle aufhorchen ließ. »Von dort aus haben wir keinerlei Anhaltspunkte mehr, wo wir hingehen, nicht wahr?« Er stellte Quickening die Frage, die nicht darauf einging. »Danach sind wir verloren, und das gefällt mir nicht. Vielleicht wäre es an der Zeit, etwas Genaueres über die Angelegenheit zu erfahren.«
»Was willst du wissen, Pe Ell?« fragte das Mädchen ruhig und gelassen.
»Du hast uns über das, was uns bevorsteht, nicht genug gesagt«, erwiderte er. »Ich meine, das solltest du. Jetzt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du erwartest Antworten, die ich nicht zu geben vermag. Ich muß sie ebenfalls herausfinden.«
»Das glaube ich dir nicht.« Er schüttelte unterstreichend den Kopf. Seine Stimme war leise und hart. Morgan Leah schaute ihn mit unverhohlener Gereiztheit an, und Walker Boh sprang auf die Füße. »Ich weiß etwas von Leuten, sogar solchen, die über Magie verfügen wie du, und ich kann erkennen, wenn sie mir alles sagen, was sie wissen, und wenn sie etwas verbergen. Das tust du. Du solltest es lieber nicht tun.«
»Sonst machst du kehrt und gehst zurück?« forderte Morgan ihn scharf heraus.
Pe Ell sah ihn ausdruckslos an.
»Warum tust du das nicht, Pe Ell? Sag doch, warum nicht?«
Pe Ell erhob sich. Sein Blick war scheinbar desinteressiert und leer. Morgan stand gleichzeitig auf. Aber Quickening trat schnell zwischen die beiden, trennte sie voneinander, so, als sei das ganz zufällig, als wolle sie nur Pe Ell genau anschauen. Sie stand klein und verwundbar vor ihm, ihr Silberhaar fiel nach hinten, als sie das Gesicht hob, um ihn anzuschauen. Er runzelte die Stirn und sah einen Augenblick lang aus, als fühle er sich von ihr bedroht und könnte zuschlagen. Gertenschlank und nervig wich er schlangengleich zurück. Aber sie rührte sich nicht, weder auf ihn zu noch von ihm weg, und langsam lockerte sich seine Anspannung.
»Du mußt mir trauen«, ermahnte sie ihn leise, sprach zu ihm, als sei er der einzige andere lebende Mensch in der Welt, hielt ihn mit ihrer Stimme, der Intensität ihrer schwarzen Augen, der Nähe ihres Leibes in Bann. »Was man über Uhl Belk und Eldwist wissen muß, habe ich dir gesagt. Was man über den schwarzen Elfenstein wissen muß, habe ich dir gesagt. Jedenfalls wenigstens alles, was ich selber weiß. Ja, es gibt Dinge, die ich euch vorenthalte, so wie du mir Dinge vorenthältst. Das ist so unter lebendigen Geschöpfen, Pe Ell. Du kannst mir meine Geheimnisse nicht verübeln, solange du deine eigenen für dich behältst. Ich verberge nichts vor dir, das dir schaden könnte. Das ist alles, was ich tun kann.«
Der schlanke Mann starrte wortlos auf sie hinunter, alles blieb hinter seinen Augen verschlossen, wo seine Gedanken heftig arbeiteten.
»Wenn wir nach Rampling Steep kommen, werden wir Hilfe suchen, um den Weg zu finden«, fuhr sie fort. Ihre Stimme war nach wie vor kaum mehr als ein Flüstern, doch glockenklar und bestimmt. »Eldwist wird bekannt sein und jemand wird uns den Weg zeigen.«
Und zu der großen Überraschung sowohl von Walker und Morgan Leah nickte Pe Ell nur und ging fort. In jener Nacht sprach er mit keinem von ihnen mehr. Es war, als habe er vergessen, daß sie existierten.
Am nächsten Tag gelangten sie zu einer breiten Straße, die nach Westen ins Vorgebirge führte, und sie bogen darauf ein. Die Straße wand sich schlangengleich ins Licht und dann in den Schatten, als die Sonne hinter dem Charnalgebirge versank. Die Nacht brach herein, und sie kampierten unter den Sternen, dem ersten klaren Himmel seit Tagen. Beim Abendessen sprachen sie ruhig miteinander, ein gewisses Gleichgewicht war mit dem Aufhören des Regens wiederhergestellt. Die Ereignisse des Vorabends wurden mit keinem Wort erwähnt. Pe Ell schien mit dem, was Quickening ihm gesagt hatte, zufrieden zu sein, obwohl sie ihm so gut wie gar nichts gesagt hatte. Es lag an der Art, wie sie mit ihm gesprochen hatte, dachte Walker. Es lag an der Art, wie sie ihre Magie einsetzte, um Mißtrauen und Ärger abzuwenden.
Früh am nächsten Morgen brachen sie wieder auf. Die Sonne schien hell und warm. Am späten Nachmittag waren sie hoch hinauf ins Vorgebirge gestiegen, nahe an den Fuß des Gebirges. Bei Sonnenuntergang erreichten sie die Stadt Rampling Steep.
Bis dahin war es schon fast dunkel, nur ein schwacher Schimmer hinter den Bergen im Westen färbte den Horizont in goldenen und silbernen Schattierungen. Rampling Steep kauerte in einem tiefen, schattigen Loch, einer flachen Senke am Fuß der Gipfel, wo die Waldbäume sich verdünnten und als isolierte Gruppen zwischen den Klippen der Gebirgsfelsen verstreut standen. Die Gebäude der Stadt waren ein kümmerlicher Haufen, baufällige Konstruktionen aus Steinfundamenten und hölzernen Wänden und Dächern, Fenster und Türen mit Läden verschlossen wie die Augen verängstigter Kinder. Eine einzige Straße schlängelte sich zwischen ihnen entlang, als suche sie nach einem Ausweg. Die Häuser kauerten sich zu beiden Seiten, nur eine Handvoll Scheunen und Katen standen etwas höher oben wie achtlose Wachposten. Alles brauchte dringend Reparaturen. Bretter der Wände waren zerbrochen oder hingen lose, Dachschindeln waren heruntergerutscht, Vordächer standen schief. Licht schimmerte durch Spalten und Schlitze. Pferdegespanne standen nah vor den Häusern, jedes sah noch elender aus als das vorangegangene, und dunkle Gestalten auf zwei Beinen huschten zwischen ihnen herum wie Geister.
Im Näherkommen erkannte Walker, daß die Gestalten vor allem Trolle waren, große, ungeschlachte Figuren im Zwielicht, in deren borkigen Gesichtern nichts zu lesen stand. Einige schauten auf, als die vier die Straße entlangkamen, doch keiner sprach sie an oder schaute ein zweites Mal hin. Stimmengewirr drang zu ihnen, Grunzen und Gemurmel und Gelächter, das die verfallenen Wände nicht aufhalten konnten. Doch trotz der Gespräche und des Gelächters und der Leute vermittelte Rampling Steep einen leeren Eindruck, so als sei es seit geraumer Zeit von den Lebenden verlassen worden.
Quickening führte sie die Straße hinunter, ohne stehenzubleiben, ihrer Sache so sicher, wie sie es von Anfang an gewesen war. Morgan folgte einen Schritt hinter ihr, blieb in der Nähe, blieb wachsam und beschützend, auch wenn es wahrscheinlich nicht nötig gewesen wäre. Pe Ell war nach rechts ausgewichen und hielt Abstand, Walker folgte.
Im Zentrum von Rampling Steep gab es eine Reihe von Kneipen, und es sah so aus, als habe sich die gesamte Bevölkerung dort versammelt. Aus manchen klang Musik, und Männer torkelten und schwankten in gesichtsloser Anonymität durch die Türen ein und aus. Auch ein paar Frauen kamen vorbei, sie sahen hart und abgearbeitet aus. Rampling Steep schien eher eine Endstation zu sein als ein Anfang.
Quickening führte sie in die erste der Kneipen und fragte den Inhaber, ob er jemanden kenne, der sie durch das Gebirge nach Eldwist führen könne. Sie stellte die Frage, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Sie bemerkte die Erregung nicht, die ihre Gegenwart auslöste, die Blicke, die von überall auf sie gerichtet waren, die Gier, die in vielen der auf sie fixierten Augenpaare stand, oder sie schien sie jedenfalls nicht zu bemerken. Vielleicht, dachte Walker, als er sie beobachtete, hat es einfach keine Bedeutung für sie. Er sah, daß sich keiner näherte und niemand bedrohlich wurde. Morgan stand beschützend hinter ihr, das Gesicht der unfreundlichen, geilen Gesellschaft zugewandt – als ob er etwas ausrichten könnte, falls die Meute etwas zu unternehmen beschloß – doch es war nicht der Hochländer, der sie davon abhielt, auch nicht Walker und nicht einmal der abweisende Pe Ell. Es war das Mädchen, diese verblüffende Erscheinung, die wie ein Produkt wilder Phantasie nicht gestört werden durfte, aus Angst, sie würde sich als Einbildung herausstellen. Die in dem Bierhaus versammelten Männer musterten sie; diese Meute von Männern mit wildem Blick konnte es nicht ganz glauben und war auch nicht willens, sich einen Irrtum eingestehen zu müssen.
In der ersten Kneipe konnten sie nichts erfahren, so zogen sie in die nächste. Niemand folgte ihnen. Das Schauspiel der ersten wiederholte sich in dieser, die kleiner und enger war, die Luft geschwängert mit Pfeifenrauch und dem Geruch von Leibern. Trolle, Gnome, Zwerge und Menschen bewohnten Rampling Steep. Alle sprachen und tranken miteinander, als sei es die natürliche Ordnung der Dinge, als habe das, was im Rest der Vier Länder geschah, hier keine Gültigkeit. Walker studierte leidenschaftslos ihre Gesichter, und wenn ihre Gesichter ihm nichts mitteilten, ihre Augen, und er fand sie verschlossen und furchtsam, die Gesichter und die Augen von Leuten, die mit Mühsal und Enttäuschung lebten, dies jedoch ignorierten, weil sie sonst nicht würden überleben können. Manche wirkten gefährlich, ein paar sogar verzweifelt. Doch das Leben in Rampling Steep gehorchte einer Ordnung, wie das fast überall der Fall ist, und es geschah nicht viel, das diese Ordnung störte. Fremde kamen und gingen, sogar solche, die so umwerfend waren wie Quickening, und das Leben ging trotzdem weiter. Quickening war so etwas wie eine Sternschnuppe – es gab sie hin und wieder, und wenn man Glück hatte, sah man sie, aber man unternahm deswegen nichts, um sein Leben zu verändern.
Sie zogen weiter in ein drittes Bierhaus und in ein viertes. Überall waren die Antworten auf Quickenings Fragen die gleichen. Niemand wußte etwas über Eldwist und Uhl Belk, und niemand wollte etwas wissen. Es gab vielleicht acht Trinkhäuser an der Straße. Die meisten boten Betten im Oberstock und Vorräte aus dahinterliegenden Lagern an. Einige waren gleichzeitig Handels- oder Tauschstationen. Rampling Steep war die einzige Stadt im Umkreis von mehreren Tagesreisen in allen Richtungen im unteren Teil des Charnalgebirges, und es lag an der Kreuzung der Wege, die aus dem Gebirge herunterführten, so daß viel Verkehr hindurchkam, vor allem Trapper und Händler, doch auch andere. In allen Bierhäusern waren Durchreisende oder zeitweilig Ansässige auf dem Weg von oder nach irgendwo versammelt. Die Gespräche aller Art handelten von Geschäft und Politik, von bereisten Straßen und gesehenen Wundern, von Leuten und Orten aller Vier Länder. Walker lauschte, ohne den Anschein zu erwecken, und er meinte, Pe Ell tue das gleiche.
In dem fünften Bierhaus, das sie aufsuchten – Walker hatte nicht einmal auf seinen Namen geachtet –, erhielten sie endlich die Information, die sie suchten. Der Wirt war ein großer, rotgesichtiger Kerl mit Narben im Gesicht und beflissenem Lächeln. Er musterte Quickening in einer Weise, die Walker unbehaglich war. Dann schlug er vor, das Mädchen solle für ein paar Tage ein Zimmer mit ihm teilen, nur um zu sehen, ob sie die Stadt nicht gern genug mochte, um zu bleiben. Morgan Leah funkelte zornig mit den Augen, doch Quickening schirmte ihn durch eine leichte Drehung ihres Körpers ab, gab den dreisten Blick des Wirts zurück und erklärte, sie sei nicht daran interessiert. Der Wirt drängte nicht. Statt dessen, und zu aller Überraschung angesichts des Korbs, den er gerade bekommen hatte, sagte er ihr, daß der Mann, den sie suchte, ein Stück weiter die Straße hinunter in der Gehäuteten Katze zu finden sei. Sein Name, sagte er, laute Horner Dees.
Sie traten wieder in die Nacht hinaus, und der Wirt sah aus, als sei er ganz und gar nicht sicher, was er da gerade getan hatte. Der Blick sagte alles. Quickening hatte diese Gabe; es war die Essenz ihrer Magie. Sie konnte einen umstimmen, ehe man es begriff. Sie konnte einen dazu bringen, sich in einer Weise preiszugeben, die man niemals beabsichtigt hatte. Sie konnte einen dazu bringen, ihr gefallen zu wollen. Es war etwas, das eine schöne Frau einen Mann veranlassen konnte zu tun, doch bei Quickening war es viel mehr als nur ihre Schönheit, die einen entwaffnete. Es war das Wesen, das in ihr steckte, der Elementargeist, der menschlich aussah, aber weit mehr war, eine Verkörperung der Magie, von der Walker glaubte, sie reflektiere ihren Vater, der sie geschaffen hatte. Er kannte die Geschichten über den König vom Silberfluß. Wenn man ihm begegnete, sagte man ihm, was er wissen wollte, und man konnte sich nicht verstellen. Seine Gegenwart reichte aus, einen wollen zu lassen, es ihm zu sagen. Walker hatte gesehen, wie Morgan und Pe Ell und die Männer in den Kneipen auf sie reagierten. Und er ebenso. Sie war wirklich durch und durch das Kind ihres Vaters.
Sie fanden die Gehäutete Katze am Ortsausgang im Schatten mehrerer gewaltiger alter Korkeichen. Es war ein großes, ausladendes Gebäude, das allein durch die Bewegungen der Männer und Frauen im Inneren in allen Fugen knirschte und quietschte, und das nur aus Starrsinnigkeit zusammenzuhalten schien. Es war voll wie die anderen, doch es gab mehr Raum zum Füllen und entlang der Wände hatte man Nischen und Abtrennungen errichtet, um es weniger scheunenartig wirken zu lassen. Lampen standen verstreut herum wie Freunde, die einander im Dämmerlicht zublinzelten, und die Kunden drängten sich an der Theke und saßen an langen Tischen. Als sie eintraten, drehten sich die Köpfe nach ihnen um, wie sie sich in den anderen Kneipen umgeschaut hatten, die Blicke folgten ihnen. Quickening suchte den Wirt auf, der sie anhörte und auf das hintere Ende des Saales zeigte. Dort saß ein Mann allein in einer schattigen Nische am Tisch, gebeugt und gesichtslos, fern der Menge und der Lichter.
Die vier gingen zu ihm und blieben vor seinem Tisch stehen.
»Horner Dees«, sagte Quickening mit ihrer Seidenstimme.
Grobe Hände setzten den Bierkrug langsam von den bärtigen Lippen zurück auf den Tisch, und ein breites, zerzaustes Gesicht hob sich ihnen entgegen. Der Mann war riesig, ein großer, alter Bär von einem Kerl, der seine besten Jahre hinter sich hatte. Er war über und über behaart, auf den Unterarmen, den Handrücken, am Hals und auf der Brust, auf dem Kopf und im Gesicht, so überwachsen, daß abgesehen von seiner Nase und seinen Augen seine Züge fast vollständig zugedeckt waren. Es war unmöglich, sein Alter zu schätzen, doch das Haar war silbergrau und die Haut darunter runzlig, gebräunt und gesprenkelt, seine Finger knorrig wie alte Wurzeln.
»Mag sein«, brummte er unwillig. Seine Stimme schien aus der Höhle eines Riesen zu dröhnen. Seine Augen waren fest auf das Mädchen gerichtet.
»Ich heiße Quickening«, sagte sie. »Das hier sind meine Gefährten. Wir suchen einen Ort namens Eldwist und einen Mann namens Uhl Belk. Man sagte uns, daß du beide kennst.«
»Man hat euch was Falsches gesagt.«
»Kannst du uns hinbringen?« fragte sie, ohne auf seine Worte einzugehen.
»Ich habe doch gesagt …«
»Kannst du uns hinbringen?« wiederholte sie.
Der große Mann starrte sie an, ohne etwas zu sagen, ohne sich zu rühren, ohne einen Hinweis auf seine Gedanken. Er war wie ein gewaltiger Felsblock, der Wetter und Erosion über sich hatte ergehen lassen und sie nur als eine vorüberwehende Brise betrachtet hatte. »Wer bist du?« fragte er schließlich. »Wer, abgesehen von deinem Namen?«
Quickening zögerte nicht. »Ich bin die Tochter des Königs vom Silberfluß. Kennst du ihn, Horner Dees?«
Er nickte bedächtig. »Ja, ich kenne ihn. Und vielleicht bist du, wer zu sein du vorgibst. Vielleicht bin ich derjenige, für den du mich hältst. Vielleicht kenne ich sogar Eldwist und Uhl Belk. Vielleicht bin ich der einzige, der sie kennt – der einzige, der noch lebt, um dir darüber zu erzählen. Vielleicht kann ich sogar tun, was du erbittest, und dich hinbringen. Aber ich sehe keinen Grund dazu. Setzt euch.«
Er zeigte auf eine Reihe leerer Stühle, und die vier ließen sich ihm gegenüber am Tisch nieder. Er musterte die Männer einen nach dem anderen, dann richtete er seinen Blick wieder auf das Mädchen. »Ihr seht nicht aus wie Leute, die nicht wissen, was sie tun. Warum wollt ihr Uhl Belk aufsuchen?«
Quickenings schwarze Augen waren unergründlich und intensiv. »Uhl Belk stahl etwas, das ihm nicht zusteht. Es muß zurückgeholt werden.«
Horner Dees schnaubte höhnisch. »Ihr wollt es zurückstehlen, ja?
Oder ihn einfach bitten, es zurückzugeben? Wißt ihr etwas über Belk? Ich ja.«
»Er stahl einen Talisman der Druiden.«
Dees zögerte. Sein bärtiges Gesicht verzog sich, während er auf etwas Eingebildetem kaute. »Mädchen, niemand, der nach Eldwist geht, kommt wieder heraus. Niemand außer mir, und ich hatte ganz einfach Glück. Es gibt Dinge dort, gegen die nichts ankommt. Belk ist ein Überbleibsel aus einem anderen Zeitalter, voll finsterer Magie und Bosheit. Du wirst ihm nichts wegnehmen, und er wird euch nichts geben.«
»Meine Begleiter sind stärker als Uhl Belk«, erwiderte Quickening. »Auch sie haben Magie, und die wird seine überwinden. Mein Vater sagt, daß es so sein wird. Diese drei«, und sie nannte ihre Namen, »werden erfolgreich sein.«
Während sie die Namen aussprach, ließ Horner Dees seinen Blick von einem zum anderen gleiten und musterte schnell ihre Gesichter. Er verweilte nur einmal – so kurz, daß Walker zunächst nicht sicher war, ob er überhaupt innegehalten hatte – auf Pe Ell.
»Es sind Menschen«, sagte er dann. »Uhl Belk ist mehr als das. Man kann ihn nicht töten wie einen gewöhnlichen Menschen. Ihr werdet ihn vermutlich nicht einmal finden. Er wird euch finden, und dann ist es zu spät.« Er schnippte mit den Fingern und lehnte sich zurück.
Quickening musterte ihn über den Tisch hinweg, dann streckte sie impulsiv die Hand aus und legte sie auf die hölzerne Tischplatte. Eine Span löste sich, rollte sich auf, bildete einen schlanken Stiel, bekam Blätter und erblühte schließlich mit zarten, blauen Glockenblümchen. Quickenings Lächeln war so magisch wie ihre Berührung. »Zeig uns den Weg nach Eldwist, Horner Dees«, sagte sie.
Der alte Mann befeuchtete seine Lippen. »Es braucht mehr als Blümchen, um Uhl Belk beizukommen«, meinte er.
»Vielleicht nicht«, flüsterte sie, und Walker hatte den Eindruck, daß sie für einen Augenblick ganz woanders war. »Hättest du nicht Lust, mit uns zu kommen und es mit eigenen Augen zu sehen?«
Dees schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht so alt geworden, indem ich mich töricht benommen habe«, erklärte er. Er überlegte einen Moment, dann beugte er sich wieder vor. »Es ist zehn Jahre her, seit ich nach Eldwist gegangen bin. Ich entdeckte es geraume Zeit vorher, aber ich wußte, daß es gefährlich war, und wollte nicht alleine gehen. Aber ich dachte immer wieder daran und fragte mich, was dort wohl sein mochte, denn es ist meine Art, Sachen auf den Grund zu gehen. Ich bin Fährtensucher gewesen, Soldat, Jäger, alles, was es so gibt, und alles diente am Ende dazu, herauszufinden, was was ist. Ich dachte also dauernd über Eldwist nach, fragte mich, was es dort in allen diesen Gebäuden, all diesem Stein, wo das Auge auch hinblickt, wohl gäbe. Am Ende ging ich wieder hin, weil es mir unerträglich war, nicht Bescheid zu wissen. Ich nahm ein Dutzend Männer mit. Dreizehn sollten uns Glück bringen. Wir dachten, wir würden dort etwas von Wert finden, an einem so geheimen, uralten Ort. Wir wußten, wie er hieß; im Hochland hatte es Legenden darüber gegeben, drüben, auf der anderen Seite des Gebirges, wo einige von uns gewesen waren. Die Trolle kennen es. Es ist eine Halbinsel – nur eine schmale Landzunge, nichts als Felsen, die in den Gezeitenstrom hinausragen. Eines Morgens gingen wir hin, alle dreizehn. Voller Leben. Bei Anbruch des nächsten Tages waren die anderen zwölf tot, und ich rannte wie ein verängstigtes Reh davon!«
Er ließ die Schultern hängen. »Ihr wollt dort nicht hingehen«, sagte er. »Ihr wollt nichts mit Eldwist und Uhl Belk zu tun haben.«
Er hob seinen Krug auf, leerte ihn und setzte ihn lautstark wieder ab. Das Geräusch ließ den Wirt sofort herbeikommen, einen neuen Bierkrug in der Hand, und ebenso schnell wieder verschwinden. Dees schaute ihn nicht ein einziges Mal an, sein Blick war noch immer auf Quickening gerichtet. Es ging schon auf Mitternacht zu, doch nur wenige der Bierhauskunden waren fortgegangen. Sie hockten in Gruppen zusammen, wie sie es seit Sonnenuntergang getan hatten, manche sogar schon länger, ihre Unterhaltungen waren flüssiger und weniger zusammenhängend, ihre Haltung entspannter. Die Zeit war ihnen für den Moment unwichtig geworden, sie waren die Opfer aller Arten von Hader und Mißgeschick, Flüchtlinge, die sich im Schutz ihres Rausches und ihrer zufälligen Gemeinsamkeit zusammendrängten. Dees gehörte heute nicht zu ihnen; Walker Boh zweifelte, ob er das je tat.
Quickening rührte sich. »Horner Dees.« Sie sagte seinen Namen, als untersuche sie ihn, ein junges Mädchen, das die Identität eines alten Mannes testet. »Wenn du nichts unternimmst, wird Uhl Belk dich holen kommen.«
Zum ersten Mal sah Dees erschreckt drein.
»Irgendwann wird er kommen«, fuhr Quickening mit freundlicher, trauriger Stimme fort. »Er weitet sein Königreich über seine Grenzen hinweg aus, und im Lauf der Zeit wächst es immer schneller. Wenn er nicht aufgehalten wird, wenn seine Macht nicht eingeschränkt wird, wird er dich früher oder später erreichen.«
»Dann bin ich lange tot«, sagte der alte Mann, aber er klang nicht überzeugt.
Quickening lächelte wieder ihr magisches Lächeln, vollkommen und wundersam. »Es gibt Geheimnisse, die du niemals lösen wirst, weil du keine Gelegenheit dazu bekommst«, sagte sie. »Bei Uhl Belk ist das nicht der Fall. Du bist ein Mann, der sein Leben lang Dingen auf den Grund gegangen ist. Willst du damit jetzt aufhören? Wie willst du wissen, wer von uns in bezug auf Uhl Belk recht hat, wenn du nicht mit uns gehst? Tu es, Horner Dees. Zeig uns den Weg nach Eldwist. Reise mit uns.«
Dees schwieg lange und dachte nach. Dann sagte er: »Ich würde gerne glauben, daß dieses Monster durch irgend etwas überwunden werden kann …« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.«
»Mußt du es denn vorher wissen?« fragte das Mädchen leise.
Dees runzelte die Stirn, dann lächelte er ein breites, zahnlückiges Grinsen, das sein wettergegerbtes Gesicht in tiefe Runzeln kräuselte. »Das war mir nie wichtig«, sagte er lachend. Dann verschwand das Lächeln. »Es ist eine schwere Reise, von der hier die Rede ist, nicht ein Spaziergang die Straße entlang. Die Pässe sind zu allen Jahreszeiten hart, und wenn wir einmal drüben sind, sind wir auf uns selbst angewiesen. Dort gibt’s keinerlei Hilfe. Nichts als Trolle, und die scheren sich einen Dreck um Fremde. Dort müssen wir uns selber helfen. Um die Wahrheit zu sagen, keiner von euch sieht stark genug aus, um das zu bewältigen.«
»Wir sind vielleicht stärker, als du denkst«, sagte Morgan Leah leise.
Dees musterte ihn kritisch. »Das werdet ihr sein müssen«, sagte er, »ein ganzes Stück stärker.« Dann seufzte er. »Tja nu. Soweit kommt es also, was? Ich alter Mann soll also noch einmal in die Ferne ziehen.« Er kicherte leise und schaute dann wieder zu Quickening. »Du hast so eine Art, das muß ich schon sagen. Kannst reden, daß eine Nuß aus ihrer Schale schlüpft. Selbst eine harte, alte Nuß wie ich. Tja, tja.«
Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Er wirkte im Stehen noch größer, als man im Sitzen vermutet hätte, wie eine zerfurchte Mauer, die selbst nach Jahren der Verwitterung nicht stürzen will. Er stand gebeugt und ergraut vor ihnen, seine kräftigen Arme hingen locker herunter, und er kniff die Augen zusammen, als würde er geblendet.
»Also gut, ich führe euch«, verkündete er und lehnte sich dabei vor, um seiner Entscheidung Nachdruck zu verleihen. Er sprach leise und gleichmütig. »Ich führe euch, weil es stimmt, daß ich noch nicht alles gesehen und die Antworten noch nicht alle gefunden habe, und wozu ist das Leben gut, wenn man es nicht weiter versucht – auch wenn ich nicht glaube, daß es reicht, es zu versuchen. Bei Sonnenaufgang treffen wir uns wieder hier, und ich gebe euch eine Liste, was ihr braucht und wo ihr es bekommt. Ihr sorgt dafür, alles zusammenzutragen, ich übernehme die Organisation. Wir versuchen’s mal. Wer weiß? Vielleicht schafft es auch der eine oder andere von uns wieder zurück.«
Er hielt inne und schaute sie an, als sehe er sie zum ersten Mal. Ein Anflug von Lachen begleitete seine Worte, als er sagte: »Wäre es nicht ein guter Witz, wenn sich herausstellte, daß ihr wirklich die stärkere Magie besitzt als Belk?«
Dann kam er hinter dem Tisch hervor, watschelte durch den Saal zur Tür und verschwand in der Nacht.