Pe Ell hatte sich zweimal umbesonnen, ehe er die Angelegenheit beschloß. Jetzt schlich er die dunkel werdende Straße entlang und duckte sich, die bösen Vorahnungen sorgfältig verstaut, in den Eingang des Gebäudes, in dem die anderen sich versteckt hatten. Regen triefte von seinem Umhang, tropfte auf die Stufen und zeichnete eine regelmäßige Spur. Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen und lauschte, hörte nichts und ging weiter. Die anderen waren vermutlich noch immer unterwegs auf der Suche. Ob sie nun da waren oder nicht, machte für ihn keinen Unterschied. Früher oder später würden sie wiederkommen. Er konnte warten.
Er ging einen Korridor entlang, ohne sich die Mühe zu machen, sein Kommen zu verheimlichen, und trat durch die Tür zu ihrem Unterschlupf. Auf den ersten Blick schien das Zimmer leer, doch seine Instinkte warnten ihn augenblicklich, daß er beobachtet wurde, und er blieb auf halbem Wege stehen. Schatten bildeten seltsame Muster in dem Raum, zufällige Überschneidungen wie streunende Kinder, die vom Wetter hineingescheucht worden waren. Draußen prasselte der Regen, während Pe Ell reglos wartete.
Dann erschien Horner Dees, tauchte geräuschlos aus dem Schatten einer Tür auf der einen Seite auf, und bewegte sich mit einer Behendigkeit und Grazie, die man seiner mächtigen Gestalt nicht zugetraut hätte. Er war voller Schrammen und Blutergüsse, und seine Kleider waren zerfetzt. Er sah aus, als sei er einem wilden Tier in die Fänge geraten. Er fixierte Pe Ell mit seinem düsteren Blick, so mißtrauisch und grob wie immer, ein alternder Bär angesichts eines wohlbekannten Feindes.
»Du überraschst mich immer wieder«, sagte Pe Ell und meinte es auch. Dieser unbequeme Alte machte ihn nach wie vor neugierig.
Dees blieb stehen, bewahrte Abstand. »Dachte, wir hätten dich zum letzten Mal gesehen«, knurrte er.
»Ach, wirklich?« Pe Ell lächelte entwaffnend, dann durchquerte er das Zimmer zu einer Behelfsschüssel, in der Früchte trockneten. Er griff eine heraus und biß hinein. Sie schmeckte bitter, aber sie war eßbar. »Wo sind die anderen?«
»Unterwegs«, gab Dees zur Antwort. »Was schert es dich?«
Pe Ell legte seinen nassen Umgang ab und setzte sich. »Nicht im geringsten. Was ist dir widerfahren?«
»Ich bin in ein Loch gestürzt. So, und was willst du?«
Pe Ell lächelte weiter. »Ein bißchen Hilfe.«
Es war schwer zu sagen, ob Horner Dees überrascht war oder nicht; es gelang ihm, seinem Gesicht nichts ansehen zu lassen, doch er schien für den Augenblick um eine Antwort verlegen. Er duckte sich ein bißchen, als mache er sich auf einen Angriff gefaßt, musterte Pe Ell wortlos und schüttelte dann den Kopf.
»Ich kenne dich, Pe Ell«, sagte er leise. »Ich erinnere mich an dich aus alter Zeit, aus den Tagen, als du gerade anfingst. Ich war damals bei der Föderation, als Fährtensucher, und ich kannte dich. Felsen-Dall hatte auch mit mir Pläne; aber ich entschied mich dagegen. Ich sah dich einoder zweimal, sah dich kommen und gehen, hörte Gerüchte über dich.« Er machte eine Pause. »Ich wollte nur, daß du das weißt.«
Pe Ell aß die Frucht zu Ende und warf das Kerngehäuse fort. Er war nicht sicher, was er über diese unerwartete Enthüllung denken sollte. Aber er sagte sich, daß es nicht wirklich eine Rolle spielte. Wenigstens hatte er jetzt eine Ahnung, was ihn an Dees so beunruhigt hatte.
»Ich erinnere mich nicht an dich«, sagte er nach einer Weile. »Aber das ist auch egal.« Er drehte sein scharfgeschnittenes Gesicht aus dem Licht. »Nur, daß wir uns recht verstehen, Felsen-Dalls Pläne mit mir funktionierten auch nicht ganz so, wie er erwartet hatte. Ich tue, was ich will. Habe ich immer getan.«
Dees nickte. »Du bringst Leute um.«
Pe Ell zuckte mit den Schultern. »Manchmal. Hast du Angst?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nicht vor dir.«
»Gut. Wenn damit dieses Thema erledigt ist, laß uns zu dem anderen zurückkommen. Ich brauche ein bißchen Hilfe. Wärest du bereit?«
Horner Dees setzte sich mit einem Grunzen hin und starrte Pe Ell wortlos an; offenbar erwog er den Vorschlag. Pe Ell war das recht. Er hatte die Angelegenheit sorgfältig durchdacht, bevor er wieder herkam, hatte das Für und Wider seines Plans, allein in den Unterschlupf des Kratzers zu gehen oder Unterstützung zu erbitten, um herauszufinden, ob sich der Steinkönig dort verbarg oder nicht, gründlich durchdacht. Er hatte nichts zu verbergen, keine Absicht zu täuschen. Es war immer am besten, direkt und geradeheraus zu sein, wenn es möglich war.
Dees regte sich. »Ich traue dir nicht.«
Pe Ell lachte tonlos. »Ich habe dem Hochländer neulich gesagt, er sei ein Idiot, wenn er mir traute. Mir ist egal, ob du mir traust. Ich bitte dich nicht um dein Vertrauen, sondern um Hilfe.«
Dees war gegen seinen Willen neugierig. »Was für Hilfe?«
Pe Ell versteckte seine Befriedigung. »In der vergangenen Nacht bin ich dem Kratzer zu seinem Bau gefolgt. Ich sah ihn hingehen, wo er sich verbirgt. Ich glaube, es ist ziemlich wahrscheinlich, daß dort, wo der Kratzer sich versteckt, auch der Steinkönig sein Versteck hat. Wenn der Kratzer heute nacht losgeht, um durch die Straßen zu patrouillieren, habe ich die Absicht, mal nachzuschauen.«
Er rückte näher, um Dees in den Kreis seiner Vertraulichkeit zu bringen. »Es gibt einen Riegel an der Tür, durch die der Kratzer kommt. Wenn ich den betätige, mußte ich hineingehen können. Das Problem ist, was passiert, wenn die Tür hinter mir wieder zugeht? Wie komme ich dann wieder raus?«
Dees rieb sich sein bärtiges Kinn, wühlte in dem dichten Bart, als jucke es ihn. »Du willst also, daß dir jemand Rückendeckung gibt.«
»Ich glaube, daß ist vernünftig. Ich hatte vorgehabt, allein hineinzugehen, den Steinkönig aufzusuchen, ihn zu töten, wenn nötig, und den Stein zu nehmen. Das habe ich noch immer vor, aber ich will nicht Sorge haben müssen, daß der Kratzer sich von hinten anschleicht, wenn ich ihm den Rücken kehre.«
»Du willst also, daß ich für dich Wache halte.«
»Angst?«
»Das fragst du dauernd. Statt dessen mußte ich dich das fragen. Warum solltest du mir trauen? Ich kann dich nicht leiden, Pe Ell. Mir wäre es nur recht, wenn der Kratzer dich kriegte. Das macht mich zu einem schlechten Kandidaten für diesen Job, meinst du nicht?«
Pe Ell streckte seine Beine aus und lehnte seinen mageren Körper zurück gegen die Wand. »Nicht unbedingt. Du brauchst mich nicht zu mögen. Ich brauche dich nicht zu mögen. Und ich mag dich nicht. Aber wir wollen beide das gleiche – den schwarzen Elfenstein. Wir wollen dem Mädchen helfen. Es sieht nicht so aus, als ob einer von uns allein viel erreichen könnte – auch wenn ich größere Chancen habe als du. Der Punkt ist, wenn du mir dein Wort gibst, für mich Wache zu schieben, nehme ich an, daß du das dann auch tun wirst. Weil dir dein Wort was bedeutet, oder?«
Dees lachte trocken. »Erzähl mir doch nicht, daß ausgerechnet du an mein Ehrgefühl appellierst. Ich glaube nicht, daß ich das verdauen könnte.«
Pe Ell lächelte nicht mehr. »Ich habe meinen eigenen Ehrenkodex, Alter, und der ist mir ebenso wichtig wie dir der deine. Wenn ich mein Wort gebe, halte ich es. Das ist mehr, als die meisten von sich behaupten können. Ich sage dir, daß ich auf dich aufpassen werde, wenn du auf mich aufpaßt – nur bis dieses Geschäft erledigt ist. Danach sind wir wieder jeder für sich selbst verantwortlich.« Er legte den Kopf zur Seite. »Die Zeit rennt. Wir müssen bei Sonnenuntergang an Ort und Stelle sein. Kommst du mit oder nicht?«
Horner Dees nahm sich Zeit für die Antwort. Pe Ell wäre überrascht und mißtrauisch gewesen, hätte er es nicht getan. Was immer Dees auch sonst sein mochte, er war ein ehrlicher Mann, und Pe Ell war überzeugt, daß er sich auf kein Abkommen einlassen würde, dem er nicht entsprechen konnte. Pe Ell vertraute Dees; er hätte den alten Mann nicht um Rückendeckung gebeten, wenn er es nicht täte. Und außerdem hielt er Dees für fähig, fähiger als alle anderen. Er war nicht unerfahren wie der Hochländer oder leichtsinnig wie Carisman. Noch war er so unberechenbar wie Walker Boh. Dees war nicht mehr und nicht weniger, als was er zu sein schien.
»Ich habe den Hochländer über dich aufgeklärt«, erklärte Dees und schaute ihn dabei an. »Inzwischen wird er es den anderen gesagt haben.«
Pe Ell zuckte wieder einmal mit den Schultern. »Das ist mir egal.« Und das war es auch.
Dees lehnte seine massige Gestalt nach vorn und blinzelte in das fahle graue Licht. »Wenn wir den Stein in die Hand bekommen, einer oder der andere, bringen wir ihn dem Mädchen. Dein Wort darauf.«
Pe Ell lächelte gegen seinen Willen. »Du würdest mein Wort akzeptieren, Alter?«
Dees Züge waren hart und bestimmt. »Wenn du es brichst, verlaß dich drauf, daß ich dafür sorgen werde, daß du es bereust.«
Pe Ell glaubte ihm. Horner Dees mochte alt und verbraucht sein, verwittert aussehen und die Spuren der Zeit tragen, er blieb ein gefährlicher Gegner. Ein Fährtensucher, ein Mann des Waldes und ein Jäger. Er hatte sich lange am Leben gehalten. In einem direkten Kampf mochte er Pe Ell nicht gewachsen sein, doch es gab andere Wege, einen Mann zu töten. Pe Ell lächelte innerlich. Wer wußte das besser als er?
Pe Ell streckte die Hand aus und wartete, bis der alte Mann sie nahm. »Wir haben ein Abkommen«, sagte er. Ihre Hände schlossen sich für einen Augenblick fest umeinander und lösten sich dann wieder. Pe Ell sprang geschmeidig wie eine Katze auf die Füße.
»Auf geht’s.«
Sie verließen das Zimmer und stiegen, Pe Ell voran, die Treppen hinunter. Draußen dämmerte es schon. Sie krümmten ihre Schultern unter den Umhängen gegen den Regen und machten sich auf den Weg. Pe Ells Gedanken wanderten zu seinem Handel. Es war einfach, ihn abzuschließen. Er würde dem Mädchen den Elfenstein geben, denn wenn er es nicht tat, riskierte er, sie ganz zu verlieren und für alle Ewigkeit von ihnen allen verfolgt zu werden.
Laß deine Feinde niemals am Leben, denn sonst verfolgen sie dich, dachte er.
Bring sie lieber alle um, sobald du die Gelegenheit dazu hast.
Das Tageslicht schwand schnell, als Walker, Morgan und Quickening sich schließlich dem Gebäude näherten, das Horner Dees und Pe Ell weniger als eine Stunde zuvor verlassen hatten. Der stetige Regen bildete einen dunklen Vorhang, der die großen, düsteren Häuser der Stadt einhüllte, den Himmel, die Berge und das Meer versteckte. Morgan hatte seinen Arm schützend um die Schultern des Mädchens gelegt und seinen Kopf zu ihr hinuntergebeugt, zwei undeutliche Kapuzengestalten im Nebel. Walker hielt sich abseits, ließ die beiden miteinander allein. Er sah, wie sich Quickening an den Hochländer lehnte. Sie schien seine Umarmung willkommen zu heißen, eine ganz untypische Reaktion. Irgend etwas war bei der Konfrontation mit dem Steinkönig mit ihr geschehen, das ihm entgangen war, und er begann erst jetzt zu begreifen, was es war.
Am Ende des Gehsteigs überflutete ein breiter Regenwasserstrom einen Abfluß und bildete einen tiefen See, und Walker war gezwungen, einen Bogen darum zu machen. Er führte noch immer an, seine Gestalt von Regen und Dämmerung verdunkelt. Ein Gespenst vielleicht, dachte er. Nein, korrigierte er sich, ein Finsterweiher. Er hatte schon lange nicht mehr an den Finsterweiher gedacht. Die Erinnerung war zu schmerzlich, um sie aus dem Winkel seines Bewußtseins, wohin er sie verbannt hatte, hervorkommen zu lassen. Der Finsterweiher mit seinen verschrobenen Rätseln war es gewesen, der ihn zur Halle der Könige und seiner Begegnung mit dem Asphinx geführt hatte. Es war der Finsterweiher, der ihn seinen Arm gekostet hatte, seinen Geist und etwas, das er einmal war. Verwundet an Leib und Seele – so sah er sich selbst. Der Finsterweiher würde frohlocken, wenn er es wüßte.
Er hob für einen Moment das Gesicht und ließ den Regen darüberrinnen und seine Haut kühlen. Er hatte es nicht für möglich gehalten, daß ihm in so nassem Wetter so heiß sein könnte.
Es war natürlich die Vision des Finsterweihers, die ihn verfolgte – die drei düsteren, rätselhaften Zukunftsvisionen, die nicht notwendigerweise korrekt sein mußten, Lügen, die zu Halbwahrheiten verdreht waren, von Lügen überschattete Wahrheiten und dennoch wirklich. Die erste hatte sich schon erfüllt; er hatte geschworen, er würde sich lieber eine Hand abhacken, als sich der Sache der Druiden zu verschreiben, und das war ganz genau das, was er getan hatte. Und dann hatte er sich trotzdem der Sache verschrieben. Ironisch, poetisch, beängstigend.
Die zweite Vision handelte von Quickening. Die dritte …
Seine gesunde Hand ballte sich zur Faust. Die Wahrheit war, daß er nie über die zweite hinaus nachgedacht hatte. Quickening. Auf irgendeine Weise würde er sie im Stich lassen. Sie würde sich um Hilfe bittend an ihn wenden, und er hätte die Möglichkeit, sie vor dem Fallen zu retten, und er würde sie sterben lassen. Er würde dort stehen und zuschauen, wie sie in einen finsteren Abgrund stürzte. Das war die Vision des Finsterweihers. Das war es, was sich bewahrheiten würde, falls er nicht ein Mittel fände, es zu verhindern.
Es war ihm allerdings nicht gelungen zu verhindern, daß die erste wahr wurde.
Abscheu erfüllte ihn, und er verbannte die Erinnerung an den Finsterweiher wieder in den fernen Winkel, aus dem sie hervorgekommen war. Der Finsterweiher, ermahnte er sich, war an und für sich schon eine Lüge. Aber war er selbst in dem Fall dann nicht auch eine Lüge? War er nicht genau das geworden? Er, der er so entschlossen gewesen war, sich aus den Machenschaften der Druiden herauszuhalten, so willig, jegliche Anwendung der Magie auszuschließen, mit Ausnahme derjenigen, die seinem eigenen, begrenzten Glauben diente, so überzeugt, er könnte der Meister seines eigenen Schicksals sein? Er hatte sich selbst wiederholt belogen, sich bewußt selbst getäuscht, alles mögliche vorgegeben und sein Leben zu einer Karikatur gemacht. Er steckte tief in seinen eigenen Fehleinschätzungen und Vorwänden. Er tat das, was er geschworen hatte, niemals zu tun – die Arbeit der Druiden, die Wiederherstellung ihrer Magie, die Erfüllung ihres Willens. Schlimmer noch, er hatte sich auf einen Handlungsablauf eingelassen, der nur zu seiner Vernichtung führen konnte – eine Konfrontation mit dem Steinkönig, um den schwarzen Elfenstein zu bekommen. Warum? Er klammerte sich an dieses Handlungsschema, als sei es das einzige, das ihn vor dem Untergang retten könnte, die einzige Möglichkeit, die ihm bliebe.
Das war es sicherlich nicht.
Er spähte durch die Nässe in die Stadt und stellte wieder einmal fest, wie sehr er den Wald von Hearthstone vermißte. Es war nicht nur der Stein der Stadt, ihre harte, erdrückende Stimmung, ihr ständiger Nebel und Regen. In Eldwist gab es keine Farben, nichts, was seinen Blick saubergewaschen, sein Gemüt aufgehellt und erwärmt hätte. Es gab nur Schattierungen von Grau, verschwommene Schatten, die sich übereinanderlagerten. Walker kam sich vor, als sei er selbst irgendwie ein Spiegel der Stadt. Vielleicht war Uhl Belk dabei, ihn umzuwandeln, so wie er das Land verwandelt hatte, vielleicht entzog er ihm gerade alle Farben seines Lebens und reduzierte ihn zu etwas ebenso Hartem und Leblosem wie Stein. Wie weit konnte der Steinkönig reichen? fragte er sich. Wie tief in seine Seele? Gab es irgendeine Grenze? Konnte er seine Arme bis nach Darkling Reach und Hearthstone ausstrecken? Konnte er ein Menschenherz finden? Im Laufe der Zeit voraussichtlich. Und Zeit galt einer Kreatur, die schon so lange lebte, überhaupt nichts.
Sie gingen hinüber zum Vordereingang ihres nächtlichen Refugiums und begannen, die Treppe hinaufzusteigen. Da Walker voranging, sah er die Wasserflecken auf den Steinstufen, die von seinen eigenen Tropfspuren für die anderen unkenntlich gemacht wurden. Jemand war kürzlich hereingekommen und wieder hinausgegangen. Horner Dees?
Aber Dees sollte eigentlich die ganze Zeit dort sein und auf ihre Rückkehr warten.
Sie durchquerten das Labyrinth aus Räumen und Fluren und betraten das Zimmer, das ihnen als Hauptquartier diente. Das Zimmer war leer. Walker ließ seinen Blick von den feuchten Flecken über die Schatten der Türen in allen Wänden wandern; er lauschte angestrengt auf irgendwelche Geräusche. Dann ging er hinüber an eine Stelle, wo jemand gesessen und gegessen hatte.
Sein Instinkt reagierte unerwartet.
Er konnte Pe Ell förmlich riechen.
»Horner? Wo bist du?« Morgan spähte in andere Zimmer und Korridore und rief dabei nach dem alten Fährtensucher. Walker begegnete Quickenings Blick und sagte nichts. Der Hochländer verschwand für einen Augenblick und kam dann zurück. »Er sagte, er würde hier auf uns warten. Ich verstehe das nicht.«
»Wahrscheinlich hat er es sich anders überlegt«, gab Walker ruhig zu bedenken.
Morgan sah nicht überzeugt aus. »Ich glaube, ich mache mal eine Runde.«
Er verließ das Zimmer durch die Tür, durch die sie gerade hereingekommen waren, und ließ den Dunklen Onkel und die Tochter des Königs vom Silberfluß allein zurück.
»Pe Ell war hier«, sagte sie, ihre schwarzen Augen fest auf die seinen gerichtet.
Er ließ sich vom Feuer ihres Blicks wärmen; er empfand dieses vertraute Gefühl von Verwandtschaft, von geteilter Magie. »Ich habe nicht den Eindruck, daß es einen Kampf gegeben hat«, sagte er. »Kein Blut, kein Durcheinander.«
Quickening nickte nüchtern und wartete ab. Als er nicht weitersprach, kam sie auf ihn zu und blieb vor ihm stehen. »Was denkst du, Walker Boh?« fragte sie, Sorge im Blick. »Worüber hast du auf dem ganzen Weg hierher nachgedacht, so in dich selbst versunken?«
Sie streckte die Hände aus und faßte nach seinem Arm und hielt ihn fest. Sie hob das Gesicht, ihr Silberhaar fiel nach hinten, und ihr edles Gesicht wurde in das graue Licht getaucht. »Sag mir’s.«
Er fühlte sich bloßgelegt, ein dünnes, verknittertes, geschlagenes bißchen Leben mit kaum genug Kraft, sich vor dem endgültigen Zusammenbruch zu bewahren. Der Schmerz reichte von seinem verwundeten Arm bis in sein Herz, gleichzeitig körperlich und seelisch, eine alles überrollende Woge, die ihn fortzuschwemmen drohte.
»Quickening«, sagte er leise, und der Klang ihres Namens schien ihn zu beruhigen. »Ich dachte, daß du menschlicher bist, als du dir eingestehen willst.«
Sie war sichtlich überrascht.
Er lächelte traurig, ironisch. »Ich bin vielleicht kein Kenner solcher Sachen, weniger empfänglich, als ich sein sollte, ein Flüchtling, der als Junge ohne Freunde herangewachsen ist und zuviel allein gelebt hat. Aber ich erkenne etwas von mir selbst in dir. Du hast Angst vor den Gefühlen, die du in dir selbst entdeckt hast. Du gibst zu, daß du die menschlichen Emotionen besitzt, mit denen dein Vater dich ausgestattet hat, als er dich erschuf, doch du weigerst dich, das, was du wahrnimmst, als ihre Konsequenzen zu akzeptieren. Du liebst den Hochländer – doch du versuchst es zu verstecken. Du verdrängst es. Du verachtest Pe Ell – doch du verführst ihn wie ein Köder einen Fisch. Du ringst mit deinen Emotionen, du weigerst dich, sie zuzugeben. Du kämpfst so hart darum, dich vor deinen Gefühlen zu verstecken.«
Ihre Augen suchten die seinen. »Ich lerne noch immer.«
»Widerwillig. Als du dem Steinkönig gegenübertratst, hattest du es eilig, ihm den Grund deines Kommens mitzuteilen. Du sagtest ihm alles; du hast nichts versteckt. Nicht den geringsten Versuch einer Täuschung oder List. Doch als Uhl Belk deine Bitte abschlug – was du sicherlich schon vorher wußtest –, wurdest du zornig, beinahe …« Er suchte nach dem passenden Wort. »Beinahe rasend«, sagte er dann. »Das war das erste Mal, seit ich dich kenne, daß du dir gestattet hast, deine Gefühle offen zu zeigen, ohne dich darum zu kümmern, wer dich dabei sieht.«
Er sah ein Flackern des Verstehens in ihren Augen. »Dein Zorn war echt, Quickening. Er war Ausdruck deines Kummers. Ich glaube, du wolltest, daß Uhl Belk dir den schwarzen Elfenstein gibt, weil du überzeugt bist, daß etwas geschehen wird, wenn er es nicht tut. Ist das so?«
Sie zögerte, hin und her gerissen, dann atmete sie langsam und gequält aus. »Ja.«
»Du glaubst, daß wir den Elfenstein erlangen werden. Ich weiß, daß du es glaubst. Du glaubst es, weil dein Vater gesagt hat, daß es so sein wird.«
»Ja.«
»Aber du glaubst auch, wie er dir gesagt hat, daß es die Magie jener braucht, die du mitgenommen hast, um ihn zu bekommen. Keine Worte, keine Überredungskünste werden Uhl Belk dazu bringen, ihn herzugeben. Und dennoch meintest du, du müßtest es versuchen.«
Ihre Augen wurden feucht. »Ich habe Angst …«, sagte sie mit erstickter Stimme.
Er beugte sich näher. »Wovor? Sag es mir.«
Morgan Leah erschien in der Tür. Er blieb stehen, wartete, daß Walker Boh sich von Quickening entfernte, und kam dann herein. »Nichts«, sagte er. »Keine Spur von Horner. Inzwischen ist es dunkel, und der Kratzer dürfte wieder unterwegs sein. Ich werde die Suche auf morgen verschieben müssen.« Er trat neben sie. »Gibt es irgendein Problem?« fragte er leise.
»Nein«, sagte Quickening.
»Ja«, sagte Walker.
Morgan riß die Augen auf. »Worum geht es?«
Walker Boh fühlte, wie sich die Schatten des Zimmers zusammenzogen, als sei die Dunkelheit plötzlich hereingekommen, um sie dort einzufangen. Der Hochländer, der Dunkle Onkel und das Mädchen standen da und schauten einander an. Es war, als seien sie an einen Scheideweg gelangt, als müßten sie nun einen Pfad wählen, von dem es kein Zurück mehr gab, als müßten sie eine Entscheidung treffen, vor der sie nicht ausweichen konnten.
»Der Steinkönig …«, begann Quickening.
»Wir gehen zurück, um den schwarzen Elfenstein zu holen«, sagte Walker Boh.
Kaum mehr als einen Kilometer entfernt wartete Horner Dees an einem Fenster im zweiten Stock eines Hauses gegenüber dem Unterschlupf des Kratzers darauf, daß der Schleicher auftauchte. Sie waren schon geraume Zeit auf ihrem Posten, hatten sich sorgfältig im Schatten versteckt und warteten mit der Geduld erfahrener Jäger. Der Regen hatte endlich aufgehört und sich in Nebel umgewandelt, als die Luft kühler und ruhiger wurde. Feiner Dampf stieg in Fetzen vom Stein der Straßen auf und ringelte sich schlangengleich empor. Von irgendwo tief unter der Erde drang das ferne Rumpeln des erwachenden Malmschlunds.
Pe Ell dachte an die Menschen, die er ermordet hatte. Es war seltsam, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wer sie waren. Eine Zeitlang hatte er sie noch gezählt, zuerst aus Neugier, später aus Gewohnheit, aber irgendwann waren es ihrer so viele und über so lange Zeit, daß er einfach den Überblick verlor. Zu Anfang waren die Gesichter noch klar gewesen, dann hatten sie angefangen, miteinander zu verschwimmen und dann ganz und gar zu verblassen. Jetzt kam es ihm vor, als könne er sich nur noch an den ersten und den letzten genau erinnern.
Die Tatsache, daß seine Opfer jegliche Identität eingebüßt hatten, war beunruhigend. Es legte nahe, daß er dabei war, die Schärfe seines Verstandes zu verlieren, die er für seine Arbeit brauchte. Es wies darauf hin, daß er das Interesse zu verlieren begann.
Er starrte in die schwarze Nacht hinaus, und eine ungewohnte Müdigkeit überfiel ihn.
Gereizt zwang er die Müdigkeit fort. Es würde anders sein, versprach er sich, wenn er das Mädchen tötete. Er mochte die Gesichter jener anderen aus Rampling Steep vergessen, den Einarmigen, den Hochländer, den Sänger und diesen alten Fährtensucher, schließlich war es nichts als eine Notwendigkeit, sie umzubringen. Aber Quickening würde er nie vergessen. Sie zu töten war eine Frage von Stolz. Sogar jetzt konnte er sie sich so genau vorstellen, als sitze sie neben ihm, die sanften Kurven der Haut über ihren Knochen, die Neigung ihres Kopfes, wenn sie zu ihm sprach, die Art und Weise, wie ihre Augen ihn aufsaugten, die Gesten ihrer Hände, wenn sie sich bewegte. Sie war ohne Zweifel das wundersamste Geschöpf, bezaubernd in einer Weise, die jeglicher Beschreibung trotzte. Sie besaß die Magie des Königs vom Silberfluß, so alt wie das Leben selbst. Er wollte diese Magie schlürfen, wenn er sie tötete; er hielt das für durchführbar. Und sobald er das getan hätte, wäre sie ein Teil von ihm, lebte in seinem Inneren, eine stärkere Präsenz als die unauslöschlichste aller Erinnerungen, die sich in ihm offenbaren würde, wie nichts anderes es könnte.
Neben ihm bewegte Horner Dees sich leise, um seine verkrampften Muskeln zu lockern. Pe Ell war noch immer tief in seine eigenen Gedanken versunken und schaute nicht hinüber. Er hielt seinen Blick starr auf die glatte Oberfläche des versteckten Eingangs auf der anderen Straßenseite gerichtet. Die Schatten, die ihn umhüllten, blieben still und reglos.
Was würde wohl geschehen, wenn er die Klinge des Stiehls in ihren Körper rammte, überlegte er. Was würde er in diesen bodenlos schwarzen Augen lesen? Was würde er fühlen? Die Vorfreude auf diesen Augenblick brannte wie Feuer in ihm. Er hatte seit einiger Zeit nicht mehr an ihre Ermordung gedacht, weil ihm keine andere Wahl blieb, als abzuwarten und die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen, wenn er sich den schwarzen Elfenstein sichern wollte. Doch jetzt war der Augenblick nicht mehr fern, glaubte er. Sobald er in den Unterschlupf des Kratzers eingedrungen wäre, das Versteck des Steinkönigs gefunden, sich den Besitz des schwarzen Elfensteins gesichert und Horner Dees beiseite geschafft hätte …
Er zuckte zusammen.
Trotz seiner Bereitschaft erschrak er, als sich gegenüber die Steinplatte hob und der Kratzer erschien. Schnell verdrängte er alle weiteren Gedanken an Quickening. Der dunkle Leib des Schleichers glitzerte, wo die dünnen Lichtstrahlen der Sterne, die es geschafft hatten, durch die Wolkendecke zu dringen, sich auf den Panzerplatten spiegelten. Das Monster trat aus der Öffnung und blieb dann stehen, als sei es auf etwas aufmerksam geworden. Die Fühler wedelten prüfend durch die Luft, der Peitschenschwanz zuckte. Die zwei Männer duckten sich noch tiefer in den Schatten ihres Verstecks. Der Schleicher verweilte noch einen Moment reglos, dann schien er befriedigt, drehte sich um und betätigte den Riegel über seinem Kopf. Die Steinplatte glitt geräuschlos an ihren Platz. Der Kratzer wandte sich um und watschelte in den Nebel und die Finsternis davon, seine eisernen Beine schlurften über den Boden wie lockere Ketten.
Pe Ell wartete, um sicherzugehen, daß das Biest wirklich fort war, dann winkte er Horner Dees, ihm zu folgen. Gemeinsam glitten sie auf die Straße hinaus, überquerten sie und blieben vor dem Unterschlupf des Kratzers stehen. Dees holte ein Seil mit einem Kletterhaken hervor und schleuderte ihn über einen steinernen Vorsprung über die Geheimtür. Der Anker traf mit einem dumpfen Klirren auf und hielt. Dees prüfte das Seil, nickte und reichte Pe Ell das Ende. Pe Ell kletterte mühelos hinauf, bis er auf der Höhe des Riegels angekommen war. Er betätigte ihn, und das Paneel begann sich zu heben. Pe Ell ließ sich flink zu Boden gleiten, und mit Horner Dees an seiner Seite beobachtete er, wie der finstere Keller des Gebäudes in Sicht kam.
Vorsichtig schlichen sie hinein.
Hinter dem Eingang herrschte tiefste Finsternis. Fahles graues Licht fiel von den höher gelegenen Fenstern durch Löcher in den verrotteten Fußböden und beleuchtete kleine Flecken in der Schwärze. Kein Geräusch war von drinnen zu hören. Nichts rührte sich.
Pe Ell drehte sich zu Dees. »Überwach du die Straße«, flüsterte er. »Pfeif, wenn was ist.«
Er schlüpfte in die Finsternis, verschmolz damit so selbstverständlich, als wäre er ein Teil der Schatten. Er war sofort in seinem Element, und seine Augen und Ohren paßten sich an die Umgebung an. Die Mauern des Gebäudes waren nackt und verwittert, an manchen Stellen feucht, wo das Wasser durch die Fugen gesickert und über den Stein geronnen war, hoch und starr in dem schwachen Licht. Pe Ell bewegte sich vorsichtig weiter und wartete darauf, daß irgend etwas sich bemerkbar machen würde. Er fühlte nichts. Das Haus wirkte völlig leer.
Etwas knirschte unter seinen Stiefeln und erschreckte ihn. Er spähte in die Schwärze hinunter. Knochen lagen über den Boden verstreut, Hunderte von Knochen, Überreste von Geschöpften, die der Kratzer bei seinen nächtlichen Reinigungszügen eingesammelt und in seinen Bau gebracht hatte, um sie zu fressen.
Vom Eingang führte ein breiter Flur in eine große Halle und endete dort. Keine Türen, keine Gänge. Die Halle war einmal ein Innenhof gewesen und ragte bald hundert Meter zu einer gewölbten Decke, die von seltsamen Lichtmustern und dem langsamen Vorüberziehen der Wolken gesprenkelt war. In der Halle war es still. Pe Ell sah sich unglücklich um. Er wußte sofort, daß es hier nichts zu entdecken gab – weder den Steinkönig noch den schwarzen Elfenstein. Er hatte sich geirrt. Wut und Enttäuschung stiegen in ihm auf und zwangen ihn, seine Suche fortzusetzen, obwohl er wußte, daß es sinnlos war. Er machte sich daran, die gegenüberliegende Wand zu untersuchen, ließ seinen Blick in der verzweifelten Hoffnung, irgend etwas zu finden, über die Mörtelfugen wandern, über den Boden, die Wände und hinauf bis zur Decke.
Da pfiff Horner Dees.
Fast gleichzeitig hörte Pe Ell das leise Kratzen von Metall auf Stein.
Er wirbelte auf dem Absatz herum und stürmte durch die dunkle Halle zurück. Der Kratzer war wiedergekommen. Es gab keine andere Erklärung dafür, als daß er sie entdeckt hatte. Aber wie? Hektisch kämpfte er gegen die Verwirrung an. Der Kratzer war blind, er verließ sich auf seine anderen Sinne. Gesehen konnte er sie nicht haben. Vielleicht gewittert? Pe Ell wußte die Antwort im gleichen Augenblick. Ihr Geruch vor dem Eingang hatte ihn alarmiert, darum war er dort stehengeblieben. Er hatte so getan, als ginge er fort, wartete und kam wieder.
Pe Ell kochte vor Zorn über seine eigene Dummheit. Wenn er nicht machte, daß er sofort hier rauskam, saß er in der Falle.
Er stürmte in den düsteren Eingang und stellte fest, daß es zu spät war. Durch die offene Tür sah er, wie der Kratzer eben um die Hausecke gegenüber bog und so schnell ihn seine Beine tragen konnten zu seinem Bau watschelte. Das Seil und Horner Dees waren verschwunden. Pe Ell verschmolz mit dem Schatten an der dunkelsten Stelle der Wand und glitt geräuschlos vorwärts. Er mußte den Eingang erreichen, ehe der Schleicher den Riegel betätigte. Wenn es ihm mißlang, saß er in der Falle. Selbst der Stiehl würde ihn da nicht retten können.
Der Kratzer stampfte mit knirschenden Krallen durch die Öffnung, seine Tentakel peitschten gegen die Steinmauern, und er begann, das Innere zu untersuchen. Pe Ell zog den Stiehl aus der Scheide und kauerte sich ins Dunkel. Er mußte schnell sein. Er war seltsam ruhig, so wie vor einem Mord. Er beobachtete, wie das Monster die Öffnung ausfüllte und hereinkam.
Er sprang sofort los und rannte. Der Kratzer entdeckte ihn sofort, seine Instinkte noch schärfer als Pe Ells. Ein Tentakel schlug aus und erwischte ihn wenige Zentimeter vor dem Ausgang. Der Stiehl schnellte hervor und zerschlitzte die Fessel. Der Mörder war wieder frei. Der Kratzer schnellte keuchend herum. Pe Ell versuchte zu fliehen, doch da waren schlängelnde Arme überall.
Da schoß der Ankerhaken aus der Dunkelheit hinter dem vorwärtsstürmenden Schleicher, und das Seil wickelte sich um seine Beine. Das Seil straffte sich, und das Monster wurde nach hinten gerissen. Es strampelte mit allen Gliedern und versuchte sich festzukrallen. Für einen Augenblick war seine Aufmerksamkeit abgelenkt. Der Augenblick reichte. Im Bruchteil einer Sekunde war Pe Ell an ihm vorbei und rannte so schnell er konnte auf die Straße. Horner Dees rannte fast gleichzeitig neben ihm her, seine Bärengestalt hatte Mühe bei der Anstrengung. Hinter ihnen hörten sie das Seil reißen und den Kratzer die Verfolgung aufnehmen.
»Hier!« bellte Dees und zerrte Pe Ell nach links in einen Eingang.
Sie jagten hinein, mehrere Treppen hinauf, einen Flur entlang und hinaus auf eine Brücke, die zu einem anderen Haus führte. Der Schleicher polterte hinterher und zerschmetterte dabei alles, was ihm in den Weg kam. Die Männer rasten in das Gebäude am anderen Ende der Brücke, wieder mehrere Treppen hinunter und auf die Straße zurück. Die Geräusche ihres Verfolgers wurden leiser. Sie verlangsamten ihren Lauf, bogen um eine Ecke und spähten vorsichtig die leere Straße hinunter. Dann folgten sie dem Gehsteig mehrere Häuserblöcke weit nach Süden zu einer Gruppe kleinerer Gebäude, die einen guten Unterschlupf boten, und krochen hinein. Sicher drinnen angekommen, ließen sie sich erschöpft nebeneinander niedersinken, den Rücken an die Wand gelehnt, und atmeten heftig.
»Ich dachte, du wärst abgehauen«, keuchte Pe Ell.
Dees grunzte und schüttelte den Kopf. »Wäre ich gern, aber ich hatte dir mein Wort gegeben. Was machen wir jetzt?«
Pe Ell dampfte vor Schweiß, doch tief innen baute sich eine kalte Wut auf. Er konnte den Tentakel des Kratzers um seinen Leib noch immer fühlen. Er empfand einen solchen Ekel, daß er sich kaum daran hindern konnte, laut herauszubrüllen.
Noch nie war er dem Tod so nah gewesen.
Er drehte sich zu Horner Dees um und sah, wie sich das grobe, bärtige Gesicht runzelte und die Augen glitzerten. Pe Ells Stimme war frostig vor Zorn. »Du kannst tun, was du willst, Alter«, flüsterte er. »Aber ich gehe zurück und bring’ das Viech um.«