Morgan Leah.
So hieß der Mann, den Pe Ell ausfindig machen und zu der Tochter des Königs vom Silberfluß bringen sollte.
Die Straßen von Culhaven waren leergefegt. Nur ein paar Heimatlose kauerten in den Nischen und Einfahrten der Läden, formlose, zerlumpte Bündel, die die Nacht abwarteten. Pe Ell beachtete sie nicht auf seinem Weg ins Ortszentrum zu den Föderationsgefängnissen. Die Morgendämmerung war noch mindestens zwei Stunden entfernt; er hatte mehr als genug Zeit, das Nötige zu tun. Er hätte diese Befreiungsangelegenheit auf eine andere Nacht verschieben können, doch er sah keinen Grund dafür. Je eher dieser Kerl gefunden wurde, desto schneller waren sie alle unterwegs. Er hatte das Mädchen noch nicht gefragt, wohin sie gehen würden. Das spielte keine Rolle.
Er hielt sich im Schatten, während er sich vorwärtsschlich und dabei über die widersprüchliche Wirkung, die sie auf ihn hatte, nachgrübelte. Er war gleichzeitig erregt und abgestoßen. Sie versuchte, in ihm das Gefühl zu erzeugen, ein Mann zu sein, der dabei ist, sich selbst wiederzuentdecken und sich gleichzeitig wie ein Idiot vorzukommen. Felsen-Dall würde vermutlich für letzteres plädieren und sagen, er spiele das allergefährlichste aller Spiele, er lasse sich an der Nase herumführen und bilde sich dabei ein, das Kommando zu haben. Aber Felsen-Dall hatte kein Herz, keine Seele und keinen Sinn für die Poesie von Leben und Tod. Er scherte sich um nichts und niemanden – nur um die Macht, über die er verfügte oder abzusichern suchte. Er war ein Schattenwesen, und Schattenwesen waren leere Dinger. Wie auch immer Felsen-Dall die Sache sah, Pe Ell glich ihm weit weniger, als der Erste Sucher meinte. Pe Ell wußte um die rauhe Wirklichkeit des Daseins, die praktische Notwendigkeit, am Leben zu bleiben und sich abzusichern; doch er hatte auch einen Sinn für die Schönheiten der Dinge, insbesondere angesichts des Todes. Der Tod besaß große Schönheit. Felsen-Dall sah darin nur Vernichtung. Aber wenn Pe Ell tötete, so tat er es, um erneut die Grazie und die Symmetrie zu entdecken, die den Tod zu dem wunderbarsten Ereignis des Lebens machten.
Er war überzeugt, daß der Tod von Quickening von atemberaubender Schönheit sein würde. Es würde ganz etwas anderes sein als alle Morde, die er je begangen hatte.
Er würde es also nicht übereilen, die unwiderrufliche Tatsache nicht überstürzen. Er würde sich Zeit lassen und es auskosten. Die Gefühle, die sie in ihm auslöste, würden den Handlungsablauf, den er sich vorgenommen hatte, nicht verändern oder gegenteilig beeinflussen. Er verachtete sich nicht dafür, daß er so empfand; das war ein Teil seines Wesens, eine Bestätigung seiner Menschlichkeit. Felsen-Dall und seine Schattenwesen hatten keine Ahnung von solchen Gefühlen; sie waren so gefühlskalt wie Stein. Nicht so Pe Ell. Absolut nicht.
Er schlich an den Arbeitshäusern vorbei und mied die Lichter der Anlage und die Wache haltenden Föderationssoldaten. Der umliegende Wald war still und schlief, eine schwarze Leere, in der Geräusche körperlos und irgendwie furchteinflößend wurden. Pe Ell wurde Teil dieser Leere und fühlte sich wohl in ihrer Hülle, während er sich geräuschlos fortbewegte. Er konnte sehen und hören, was niemand sonst wahrnahm; es war immer so gewesen. Er spürte, was im Dunkeln lebte, selbst wenn es sich vor ihm verbarg. Die Schattenwesen waren so; doch selbst sie konnten sich nicht wie er einpassen.
An einer beleuchteten Kreuzung machte er halt und vergewisserte sich, daß die Luft rein war. Es gab überall Patrouillen.
Er stellte sich Quickening im Schein einer einzelnen Straßenlaterne vor. Ein Kind, eine Frau, ein magisches Wesen – sie war all das und noch viel mehr. Sie war die Verkörperung der allerschönsten Dinge des Landes – eine sonnige Bergschlucht, ein tosender Wasserfall, ein blauer Mittagshimmel, ein Farbenkaleidoskop des Regenbogens, ein endloser Sternenhimmel bei Nacht über einer kahlen Ebene. Sie war ein Geschöpf aus Fleisch und Blut, ein Menschenwesen, und dennoch war sie auch Teil der Erde, aus frisch umgepflügtem Boden, aus Bergströmen, aus großen alten Felsen, die nichts anderem als der Zeit nachgeben. Sie war ihm ein Rätsel, doch er fühlte Dinge in ihr, die widersinnig und gleichzeitig miteinander vereinbar waren. Wie war das möglich? Was war sie, außer dem, was sie zu sein vorgab?
Er bewegte sich schnell durch das Licht und verschmolz wieder mit den Schatten. Er wußte die Antwort nicht, aber er war entschlossen, sie zu finden.
Der eckige, dunkle Kasten der Gefängnisse ragte vor ihm auf. Pe Ell nahm sich einen Augenblick Zeit, seine Alternativen zu überdenken. Er kannte die Anlage der Föderationsgefängnisse von Culhaven; er war ein- oder zweimal drinnen gewesen, auch wenn das außer Felsen-Dall niemand wußte. Sogar im Gefängnis gab es Männer, die umgebracht werden mußten. Aber das war für heute nacht nicht vorgesehen. Zugegeben, er hatte in Betracht gezogen, diesen Mann, den er befreien sollte, diesen Morgan Leah, zu ermorden. Das wäre eine Möglichkeit, das Mädchen daran zu hindern, darauf zu bestehen, daß er sie bei der Suche nach dem Talisman begleitete. Jetzt diesen und später den anderen umlegen, das wäre damit das Ende dieser Angelegenheit. Er könnte lügen darüber, wie es geschehen wäre, doch das Mädchen mochte die Wahrheit ahnen oder erraten. Sie vertraute ihm. Warum sollte er das aufs Spiel setzen? Außerdem hatte sie vielleicht recht, vielleicht wurden diese Männer gebraucht, um den Talisman zu beschaffen. Er wußte noch nicht genug über das, was sie vorhatte. Es war besser abzuwarten.
Er ließ seine schlanke Gestalt in der Steinmauer verschwinden, an der er nachdenklich lehnte. Er konnte das Gefängnis einfach direkt betreten, dem Kommandanten sein Schattenwesen-Abzeichen unter die Nase halten und die Freilassung des Mannes verlangen, ohne daß es irgendein Aufhebens machte. Aber das hieß, daß er sich zeigen mußte, und er zog es vor, das nicht zu tun. Niemand kannte ihn außer Felsen-Dall. Er war der private Mörder des Ersten Suchers. Keiner der anderen Schattenwesen ahnte von seiner Existenz, keiner hatte ihn je zu Gesicht bekommen. Jene, die ihm begegnet waren, Schattenwesen und andere, waren alle tot. Er war für jedermann ein Geheimnis, und er zog es vor, es dabei zu belassen. Es war besser, den Mann in der üblichen Weise herauszuholen, leise, heimlich und allein.
Pe Ell lächelte sein schiefes Lächeln. Den Mann jetzt retten, um ihn später umzubringen. Was für eine verrückte Welt.
Er kam aus der Wand und schlich durch die Finsternis zu den Gefängnissen.
Morgan Leah schlief nicht. Er lag in eine Decke gewickelt in seiner Zelle auf einer Strohpritsche und dachte nach. Er hatte den größten Teil der Nacht wachgelegen, zu rastlos zum Schlafen, von Sorgen und Kummer und einem nagenden Gefühl der Aussichtslosigkeit geplagt, das er nicht verbannen konnte. Die Zelle war erdrückend, kaum dreieinhalb Meter im Quadrat, dafür aber über sechs Meter hoch, mit einer mehrere Zentimeter dicken Eisentür und einem einzigen, vergitterten Fenster so hoch oben, daß er es nicht erreichen konnte, um hinauszuschauen, nicht einmal, wenn er in die Höhe sprang. Die Zelle war nicht gereinigt worden, seit man ihn hineingeworfen hatte, und folglich stank es. Sein Essen wurde ihm zweimal am Tag durch einen Schlitz unten in der Tür zugeschoben. Auf die gleiche Weise bekam er Wasser zum Trinken, doch keines zum Waschen. Er war jetzt seit fast einer Woche eingesperrt, und er hatte niemanden zu Gesicht bekommen. Er kam langsam zu der Überzeugung, daß es auch in Zukunft so bleiben würde.
Das waren düstere Aussichten. Als sie ihn geschnappt hatten, war er sicher gewesen, daß sie es eilig hätten, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln herauszufinden, warum er sich solche gewaltigen Schwierigkeiten aufgehalst hatte, um die beiden alten Zwergendamen zu befreien. Er hatte einen Föderationsoffizier zusammengeschlagen und vielleicht sogar getötet. Er hatte eine Föderationsuniform gestohlen, um einen Föderationssoldaten zu verkörpern, hatte den Namen eines Föderationsmajors benutzt, um sich Eintritt in die Arbeitshäuser zu verschaffen, hatte den Föderationsoffizier im Dienst getäuscht und hatte die Föderationsarmee im ganzen wie einen Haufen von Tölpeln aussehen lassen. Das alles, um zwei alte Damen zu befreien. Ein ausgetrickstes, mißbrauchtes Föderationskommando mußte doch wissen wollen, warum. Sie mußten ihm doch die Demütigung und den Schaden, die er ihnen zugefügt hatte, heimzahlen wollen. Und doch hatte man ihn allein gelassen.
Er spielte im Geiste die Möglichkeiten durch. Es war unwahrscheinlich, daß er unbegrenzt ignoriert werden, daß er hier in dieser Zelle gehalten werden würde, bis man ihn einfach vergessen hatte. Major Assomal war, wie er erfahren hatte, im Feld. Vielleicht warteten sie auf seine Rückkehr, um mit dem Verhör zu beginnen. Aber wäre Kommandant Soldt geduldig genug, bis dahin zu warten, nach dem, was man ihm angetan hatte? Oder war er tot? Hatte Morgan ihn am Ende getötet? Oder warteten sie auf jemand anderen?
Morgan seufzte. Jemand anderer. Immer wieder kam er zu dem unausweichlichen Schluß. Sie warteten auf Felsen-Dall.
Er wußte, daß es das sein mußte. Teel hatte Elise und Jilt der Föderation, aber insbesondere den Schattenwesen verraten. Felsen-Dall mußte über ihre Verbindung zu Par und Coll Ohmsford und allen, die auf die Suche nach dem Schwert von Shannara gegangen waren, unterrichtet sein. Wenn jemand kam, um sie zu befreien, würde er gewiß davon in Kenntnis gesetzt werden – und würde nachschauen kommen, wen sie da erwischt hatten.
Behutsam drehte Morgan sich auf die andere Seite mit dem Rücken zur Wand und starrte ins Dunkel. Er hatte nicht mehr so starke Schmerzen wie in den ersten Tagen; die Spuren der Schläge begannen zu heilen.
Er hatte Glück, daß er nichts gebrochen hatte – er hatte überhaupt Glück, daß er noch am Leben war.
Oder vielleicht auch kein Glück, korrigierte er seinen Gedanken, je nachdem, wie man es betrachtete. Seine Glücksträhne, so schien es, war abgelaufen. Er dachte einen Moment an Par und Coll und bedauerte, daß er nicht zu ihnen gehen und nach ihnen schauen konnte, wie er es versprochen hatte. Was würde ohne ihn aus den beiden werden? Was war ihnen in seiner Abwesenheit widerfahren? Er fragte sich, ob Damson Rhee sie nach ihrer Flucht aus dem Schlund von Tyrsis versteckt hatte. Er fragte sich, ob Padishar Creel herausgefunden hatte, wo sie waren.
Er stellte sich tausend Fragen, und für keine fand er eine Antwort.
Am meisten fragte er sich, wie lange man ihn am Leben halten würde.
Er rollte sich wieder auf den Rücken und dachte daran, wie anders die Dinge für ihn hätten sein können. In einem anderen Zeitalter wäre er Prinz von Leah gewesen und hätte eines Tages über sein Heimatland regiert. Aber die Föderation hatte vor mehr als zweihundert Jahren der Monarchie ein Ende gesetzt, und heute regierte seine Familie über gar nichts. Er schloß die Augen und versuchte, alle Gedanken an das, was hätte sein können, zu vertreiben, weil er dort keinen Trost fand. Er hatte noch immer Hoffnung, und sein Geist war intakt, trotz all der Widerwärtigkeiten; seine Spannkraft, die ihm durch so vieles geholfen hatte, war noch immer da. Er hatte nicht die Absicht aufzugeben. Es gab immer einen Weg.
Er wünschte nur, er wüßte, welchen.
Er döste ein wenig ein und verlor sich in einem Strom von Einbildungen, die in einer Welle von Gesichtern und Stimmen durcheinander strudelten und ihn mit unzusammenhängenden, falschen Verbindungen narrten, Lügen über Dinge, die es nie gab und nie geben würde.
Er versank in Schlaf.
Dann legte sich eine Hand auf seinen Mund und erstickte seinen Überraschungsschrei. Eine zweite Hand drückte ihn nieder. Er strampelte, doch der Griff, der ihn hielt, war nicht zu brechen.
»Still jetzt«, flüsterte eine Stimme. »Pssst!«
Morgan wurde still. Ein adlergesichtiger Mann in Föderationsuniform beugte sich über ihn und starrte ihm fest in die Augen. Die Hände ließen locker, und der Mann setzte sich zurück. Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, und Lachfältchen durchfurchten sein schmales Gesicht.
»Wer bist du?« fragte Morgan leise.
»Jemand, der dich hier rausbringen kann, wenn du klug genug bist, zu tun, was ich dir sage, Morgan Leah.«
»Du kennst meinen Namen?«
Die Lachfältchen vertieften sich. »Gut geraten. Ich bin natürlich ganz zufällig hier reingekommen. Kannst du mir den Ausgang zeigen?«
Morgan starrte ihn an. Es war ein großer, schlaksiger Kerl, der aussah wie ein Mann, der wußte, was er tat. Sein Lächeln schien festgenagelt zu sein und hatte überhaupt nichts Freundliches. Morgan schlug die Decke beiseite und stand auf, wobei ihm auffiel, wie der andere zurückwich und immer den gleichen Abstand zwischen ihnen hielt. Vorsichtig, dachte Morgan, wie eine Katze.
»Gehörst du zu der Bewegung?« fragte er den Mann.
»Ich gehöre zu mir selbst. Zieh das an.«
Er warf Morgan ein Bündel Kleider zu. Als der Hochländer sie auseinanderfaltete, erkannte er eine Föderationsuniform. Der Fremde verschwand für einen Augenblick wieder im Finsteren und tauchte kurz darauf mit einem großen Bündel auf der Schulter wieder auf. Er warf seine Bürde grunzend auf die Pritsche. Morgan fuhr zusammen, als er begriff, daß es eine Leiche war. Der Fremde nahm die Decke und drapierte sie über den Toten, so daß es aussah, als schliefe er.
»Auf diese Weise brauchen sie länger, um zu merken, daß du fort bist«, flüsterte er mit diesem frostigen Lächeln.
Morgan wandte sich ab und zog sich, so schnell er konnte, an. Als er fertig war, winkte ihm der andere Mann ungeduldig, dann schlichen sie zusammen durch die offene Zellentür.
Der Korridor war eng und leer. Lampen beleuchteten ihn nur schwach. Morgan hatte nichts von den Gefängnissen gesehen, als sie ihn hergebracht hatten, denn er war von den Schlägen noch immer bewußtlos gewesen und kannte den Weg nicht. Wachsam folgte er dem Fremden durch den Gang zwischen Mauern aus Steinblöcken an Reihen von Zellentüren wie der seinen vorbei, die alle verschlossen und verriegelt waren. Sie begegneten niemandem.
Als sie die erste Wachstation erreichten, fanden sie auch die leer. Offenbar hatte dort niemand Dienst. Der Fremde eilte in den Korridor dahinter, doch Morgan erhaschte durch eine halbgeöffnete Tür auf einer Seite einen Blick auf glänzende Metallklingen. Er verlangsamte seine Schritte und lugte hinein. Waffengestelle zierten alle Wände des kleinen Raumes. Er dachte plötzlich an das Schwert von Leah und wollte nicht ohne es fortgehen.
»Warte einen Moment!« flüsterte er hinter dem Mann her.
Der Fremde drehte sich um. Eilig drückte Morgan gegen die Tür, die sich nur widerwillig öffnen ließ, weil etwas im Weg lag. Morgan stemmte sich dagegen, bis der Spalt groß genug war. Drinnen lag gegen die Tür gesackt ein weiterer Toter. Morgan schluckte gegen das Gefühl an, das ihn überkam, und durchsuchte die Gestelle nach dem Schwert von Leah.
Er fand es fast sofort. Es steckte noch in seiner Behelfsscheide und hing an einem Nagel hinter einem Ständer mit Speeren. Hastig legte er die Waffe an, nahm sich noch ein Breitschwert und ging wieder hinaus.
Der Fremde wartete. »Keine weiteren Verzögerungen«, sagte er scharf. »Der Wachwechsel ist gleich nach Sonnenaufgang. Es ist schon fast soweit.«
Morgan nickte. Sie folgten einem weiteren Gang, stiegen eine von Holzbalken getragene Hintertreppe hinunter, die quietschte und knarrte, und gelangten in einen Hof. Der Fremde kannte den Weg ganz genau. Es gab keine Wachen, bis sie einen Posten direkt an der Mauer erreichten, und selbst dann wurden sie nicht angerufen. Sie schritten durch die Gefängnistore nach draußen, als der erste schwache Lichtschimmer am Horizont aufzutauchen begann.
Der Fremde führte Morgan ein Stück weit die Straße hinunter und dann durch eine Hintertür in eine Scheune, wo es so finster war, daß der Hochländer sich den Weg ertasten mußte. Sobald sie im Inneren waren, machte der Fremde eine Lampe an. Er wühlte unter einem Stapel leerer Futtersäcke und zog für jeden andere Kleider hervor, die gleiche Waldarbeiterkluft, wie sie die meisten Ostlandarbeiter trugen. Wortlos zogen sie sich um und stopften die abgelegten Föderationsuniformen unter die Säcke.
Der Fremde winkte Morgan hinter sich her, und sie traten hinaus in das erste Licht des neuen Tages.
»Du bist Hochländer, nicht wahr?« fragte der Fremde unvermittelt, während sie ostwärts durch das erwachende Dorf gingen.
Morgan nickte.
»Morgan Leah. Wie das Land. Deine Familie hat einst über die Hochländer regiert, oder?«
»Ja«, erwiderte Morgan. Sein Gefährte war jetzt etwas entspannter, und seine langen Schritte waren locker und ohne Hast, auch wenn seine Augen nicht aufhörten, sich zu bewegen. »Aber die Monarchie existiert schon seit vielen Jahren nicht mehr.«
Sie überquerten eine schmale Brücke über einen abwasserverseuchten Nebenfluß des Silberflusses. Eine alte Frau mit einem Kind auf dem Arm kam an ihnen vorbei. Beide sahen hungrig aus. Morgan schaute sie an. Der Fremde nicht.
»Mein Name ist Pe Ell«, sagte er. Er reichte ihm nicht die Hand.
»Wohin gehen wir?« wollte Morgan von ihm wissen.
Die Mundwinkel des anderen zuckten ein wenig nach oben. »Wirst du schon sehen.« Dann fügte er hinzu: »Zu der Dame, die mich beauftragt hat, dich zu retten.«
Morgan dachte sofort an Elise und Jilt. Aber woher sollten die beiden so jemanden wie Pe Ell kennen? Der Mann hatte schon gesagt, er gehöre nicht der Freiheitsbewegung an; und es war unwahrscheinlich, daß er mit dem Zwergenwiderstand alliiert war. Pe Ell, dachte Morgan, gehörte genau, wie er gesagt hatte, zu sich selbst.
Aber wer war dann die Dame, in deren Auftrag er gekommen war?
Sie folgten den Wegen, die sich zwischen den Zwergenkaten und Hütten am Rande von Culhaven entlangschlängelten, verfallenden Stein- und Brettergebilden, die über den Köpfen ihrer Bewohner verrotteten. Morgan konnte das Rauschen des Silberflusses näher kommen hören. Die Häuser wurden seltener, der Baumbestand dichter, und bald waren kaum noch welche zu sehen. Zwerge schauten mißtrauisch von ihrer Gartenarbeit auf. Falls Pe Ell es bemerkbemerkte, so zeigte er es jedenfalls nicht.
Die Sonne brach in immer breiteren Strahlen durch die Bäume, als sie schließlich ihr Ziel, eine gepflegte kleine Kate, erreichten. Um die herum war ein zerlumpter Haufen, der am Rande des Grundstücks gelagert hatte, dabei, das Frühstück zu beenden und das Schlafzeug zusammenzurollen. Die Männer flüsterten untereinander und schauten Pe Ell dabei fest und lange an. Pe Ell ging wortlos an ihnen vorbei, Morgan hinter ihm. Sie gingen die Stufen zur Eingangstür hinauf und traten ins Haus. Eine Zwergenfamilie saß um einen kleinen Tisch herum und begrüßte sie mit Kopfnicken und kurzem Willkommensgruß. Pe Ell reagierte kaum. Er führte Morgan in den hinteren Teil des Hauses in ein kleines Schlafzimmer und machte sorgfältig die Tür hinter sich zu.
Ein Mädchen saß auf dem Bettrand.
»Danke, Pe Ell«, sagte sie und stand auf.
Morgan Leah starrte sie an. Das Mädchen war umwerfend schön, mit zarten, vollkommenen Zügen und den schwärzesten Augen, die der Hochländer je gesehen hatte. Sie hatte langes, silbriges Haar, das schimmerte wie eingefangenes Licht, und eine Sanftheit, die zum Beschützen einlud. Sie trug einfache Kleider – eine Jacke, Hosen, die mit einem breiten Ledergürtel gehalten wurden, und Stiefel – doch die Kleider konnten auch nicht annähernd die Grazie und Sinnlichkeit ihres Körpers verbergen.
»Morgan Leah«, flüsterte das Mädchen.
Morgan blinzelte, als ihm plötzlich bewußt wurde, daß er sie anstarrte. Er errötete.
»Ich heiße Quickening«, sagte das Mädchen. »Mein Vater ist der König vom Silberfluß. Er hat mich aus seinen Gärten in die Welt der Menschen gesandt, um einen Talisman zu suchen. Ich bitte dich, mir dabei zu helfen.«
Morgan setzte zur Antwort an und hielt inne, weil er nicht wußte, was er sagen sollte. Er warf einen Blick auf Pe Ell, doch die Augen des anderen waren auf das Mädchen gerichtet. Pe Ell war ebenso fasziniert wie er.
Quickening trat zu ihm, und die Röte seines Gesichts und Halses erfaßte heiß seinen ganzen Leib. Sie streckte die Hände aus und legte sie ihm sanft auf beide Seiten des Gesichts. Er hatte noch nie eine solche Berührung gefühlt. Er dachte, er würde alles dafür geben, das noch einmal zu erleben.
»Schließ die Augen, Morgan Leah«, flüsterte sie.
Er stellte keine Fragen, er tat einfach, was sie ihm sagte. Er war augenblicklich voller Frieden. Er konnte Stimmen hören, die sich irgendwo draußen unterhielten, das Rauschen des nahen Flusses, das Wispern des Windes, Vogelgezwitscher und das Kratzen einer Gartenharke. Dann drückten Quickenings Finger ein wenig fester auf seine Haut, und alles verschwand in einem Farbenstrudel.
Morgan Leah schwebte, als würde er von einem Traum davongetragen. Diesige Helligkeit umgab ihn, doch nichts war deutlich zu erkennen. Dann klärte die Helligkeit sich auf, und die Bilder begannen. Er sah, wie Quickening auf einer Straße, die von jubelnden, rufenden Männern, Frauen und Kindern gesäumt war, nach Culhaven gelangte. Er sah, wie sie durch die wachsende Menge von Zwergen, Südländern und Gnomen zu dem kahlen Hügelgelände ging, wo einst die Meadegärten geblüht hatten. Es war, als würde er Teil jener Volksmenge, als stünde er unter jenen, die gekommen waren, um zu sehen, was das Mädchen tun würde. Er empfand selbst ihre Erwartungen und ihre Hoffnung. Dann stieg sie den Hügel hinan, grub ihre Hände in die versengte Erde und ließ ihren wunderbaren Zauber wirken. Vor seinen Augen wandelte sich die Erde, die Meadegärten erstanden aufs neue.
Farben, Düfte und Geschmäcker ihres Wunders füllten die Luft, und Morgan empfand ein Stechen von unendlicher Süße in seiner Brust. Er fing an zu weinen.
Die Bilder verblaßten. Er fand sich wieder in der Kate, fühlte, wie ihre Finger ihn losließen, und rieb sich mit dem Handrücken heftig über die Augen, als er sie aufschlug. Sie schaute ihn an.
»War das Wirklichkeit?« fragte er. Seine Stimme war belegt, trotz seiner Entschlossenheit, sie fest klingen zu lassen. »Ist das tatsächlich geschehen? Es stimmt, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte sie.
»Du hast die Gärten wiedergebracht. Warum?«
Sie lächelte leicht und süß. »Weil die Zwerge etwas brauchen, woran sie wieder glauben können. Weil sie sterben.«
Morgan holte tief Luft. »Kannst du sie retten, Quickening?«
»Nein, Morgan Leah«, antwortete sie zu seiner Enttäuschung. »Das kann ich nicht.« Sie wandte sich einen Moment in den Schatten des Zimmers. »Du wirst es vielleicht eines Tages tun können. Doch im Augenblick mußt du mit mir kommen.«
Der Hochländer zögerte unsicher. »Wohin?«
Sie hob ihr exquisites Gesicht wieder ins Licht. »Nach Norden, Morgan Leah. Nach Darklin Reach. Um Walker Boh zu suchen.«
Pe Ell stand abseits in dem kleinen Schlafzimmer, für den Augenblick vergessen. Ihm gefiel nicht, was er sah. Ihm gefiel die Art und Weise nicht, in der sie den Hochländer berührte, noch die Art und Weise, wie der Hochländer darauf reagierte. Ihn hatte sie nicht so berührt. Es störte ihn auch, daß sie den Namen des Hochländers kannte. Auch den Namen des anderen. Seinen hatte sie nicht gekannt.
Da wandte sie sich an ihn und bezog ihn in die Unterhaltung mit Morgan Leah mit ein, erklärte ihnen beiden, daß sie nach Norden reisen und den dritten Mann suchen müßten. Sobald sie ihn gefunden hätten, würden sie sich auf die Suche nach dem Talisman begeben, den sie zu finden ausgesandt war. Sie sagte ihnen nicht, was der Talisman war, und keiner von ihnen fragte danach. Es lag an der merkwürdigen Wirkung, die sie auf beide hatte, sagte sich Pe Ell, daß sie nichts von dem, was sie ihnen sagte, in Frage stellten. Sie glaubten ihr. Pe Ell hatte das noch nie getan. Aber er wußte instinktiv, daß dieses Mädchen, dieses Kind des Königs vom Silberflusses, dieses Geschöpf wunderbaren Zaubers, nicht log. Er hielt sie für unfähig zu lügen.
»Ich brauche dich«, sagte sie wieder zu dem Hochländer.
Er schaute zu Pe Ell. »Gehst du auch mit?«
Die Art, wie er die Frage stellte, gefiel Pe Ell. In der Stimme des Hochländers klang Besorgnis mit. Vielleicht sogar Angst. Er lächelte geheimnisvoll und nickte. Natürlich, Hochländer, aber nur, um euch beide zu töten, wenn ich Lust dazu habe, dachte er.
Der Hochländer wandte sich wieder dem Mädchen zu und begann, ihr irgend etwas über zwei alte Zwergendamen zu erklären, die er aus den Arbeitshäusern befreit habe, und daß er herausfinden müsse, ob sie sich in Sicherheit befänden, weil er einem Freund ein Versprechen gegeben habe. Er starrte das Mädchen dabei an, als ob ihr Anblick ihm Leben geben würde. Pe Ell schüttelte den Kopf. Dieser hier stellte jedenfalls keine Bedrohung für ihn dar. Er konnte sich nicht vorstellen, warum das Mädchen meinte, er würde für die Wiederbeschaffung dieses mysteriösen Talismans unbedingt gebraucht.
Quickening sagte dem Hochländer, daß sich unter den Leuten, die mit ihr zu der Kate gekommen waren, jemand befinde, der in der Lage sei, herauszufinden, was aus den Zwergendamen geworden sei. Der würde sich darum kümmern, daß sie wohlauf seien. Sie wolle ihn sofort darum bitten.
»In dem Fall werde ich mit dir kommen, wenn du mich wirklich brauchst«, versprach ihr Morgan Leah.
Pe Ell wandte sich ab. Der Hochländer kam mit, weil er keine andere Wahl hatte, denn das Mädchen hatte ihn gefangen. Er konnte es in den Augen des jungen Mannes lesen. Pe Ell verstand dieses Gefühl. Er empfand auch ein bißchen davon. Der einzige Unterschied zwischen ihnen bestand in dem, was sie daraus machen würden.
Pe Ell fragte sich wieder, wie es wohl wäre, wenn er das Mädchen schließlich tötete. Er fragte sich, was er in ihren Augen entdecken würde.
Quickening führte Morgan zu ihrem Bett, damit er sich ausruhe. Pe Ell verließ schweigend das Zimmer und die Kate. Draußen stand er mit geschlossenen Augen da und ließ die Sonne sein Gesicht wärmen.