28

Bei Tagesanbruch verließen die drei ihr Versteck und gingen auf die Straßen hinunter. Der Regen hatte aufgehört, die Wolken waren über die Dächer der Häuser gestiegen, und das Licht war grau und stählern. Stille umhüllte das Gebein von Eldwist wie ein Leichentuch; es war völlig windstill, leer und frei von Nebel. Aus der Ferne war dumpf das Murmeln des Ozeans zu hören. Ihre Schritte hallten dumpf, und ihr Echo stieg wie ein Wispern in den Himmel. Erfolglos suchten sie nach Leben in der Stadt. Weder ein Zeichen von Horner Dees noch von Pe Ell. Der Kratzer hatte sich in seinem Bau verkrochen. Der Malmschlund schlief unter der Erde. Und in seiner kuppeltragenden Festung erwartete sie Uhl Belk für die unvermeidliche, finstere Konfrontation.

Aber Walker Boh war dennoch im Frieden mit sich selbst.

Er schritt vor Morgan und Quickening einher, überrascht über die Tiefe seiner Ruhe. Er hatte sich so verausgabt in dem Kampf, den Sinn und das Ziel seines Lebens zu verstehen und zu kontrollieren, hin- und hergerissen zwischen dem Zwillingsgespenst seines Erbes und seines Schicksals. Jetzt war das alles in den Hintergrund gerückt. Zeit und Ereignisse hatten ihn zu diesem Augenblick geführt, einem unerbittlichen Strudel, der den Sinn seines Lebens für ihn entscheiden würde. Die Begegnung mit dem Steinkönig würde darüber entscheiden, wer und was er war. Entweder war er des Auftrags würdig, den Allanons Schatten ihm gegeben hatte, oder er war es nicht. Entweder war er dazu bestimmt, in den Besitz des schwarzen Elfensteins zu gelangen und Paranor und die Druiden zurückzubringen, oder er war es nicht. Entweder würde er Uhl Belk überleben, oder auch nicht. Er stellte nicht mehr in Frage, daß seine Zweifel einer Entschlossenheit weichen mußten; er erlaubte sich nicht mehr, sich mit »Was, wenn’s« abzugeben, die ihn so lange geplagt hatten. Die Umstände hatten ihn an diesen Ort geführt, und das war genug. Gleich, ob er überlebte oder den Tod fand, er wäre endlich frei von der Vergangenheit. War die Shannara-Magie in ihm lebendig und trotz des Verlustes seines Armes an das Asphinxgift stark genug, um dem Zorn des Steinkönigs standzuhalten? War das Vermächtnis, das Allanon Brin Ohmsford übertragen hatte, für ihn bestimmt? Er würde es erfahren. Wissen, dachte er mit unleugbarer Ironie, war immer befreiend.

Morgan Leah war weniger gewiß.

Ein halbes Dutzend Schritte hinter ihm klammerte sich der Hochländer an Quickenings Hand, eine zerbrechliche Schale, in der Ängste und Befürchtungen wie gefangene Fliegen umhersummten. Im Gegensatz zu Walker Boh wußte er schon viel zuviel. Er wußte, daß Walker nicht mehr der Dunkle Onkel von früher war, daß der Mythos seiner Unbesiegbarkeit gleichzeitig mit seinem Arm in Scherben gegangen war und daß er von der gleichen Welle von Prophezeiungen und Versprechungen getragen wurde, wie sie alle. Er wußte, daß er selber noch unfähiger war, ein Mann ohne eine intakte Waffe und einer Magie beraubt, die ihn bei früheren Auseinandersetzungen mit weit geringeren Gegnern nur um Haaresbreite gerettet hatte. Er wußte, daß alles von ihnen beiden allein abhing, daß Quickening nicht eingreifen konnte, daß sie ihr Schicksal teilen, aber nicht beeinflussen konnte. Er konnte behaupten, daß er verstand, warum sie den schwarzen Elfenstein brauchte, warum sie den Versprechungen ihres Vaters glaubte und darauf vertraute – er konnte es beim Namen nennen. Er konnte beten, daß sie das, was sie da unternahmen, irgendwie überleben würden, daß ein Wunder sie retten würde. Aber die Ängste und Befürchtungen ließen sich durch Worte und Gebete nicht vertreiben; sie ließen sich mit falschen Hoffnungen nicht beschwichtigen. Sie flohen in seinem Inneren wie aufgeschrecktes Wild, und er konnte sein Herz zur Antwort auf ihre Flucht heftig pochen hören.

Was würde er tun, fragte er sich verzweifelt, wenn der Steinkönig diese toten Augen auf ihn richtete? Wo sollte er die Kraft hernehmen?

Heimlich warf er einen Seitenblick auf Quickening, auf die Linien und Schatten ihres Gesichts und den dunklen, beruhigenden Glanz in ihren Augen.

Doch Quickening ging neben ihm, ohne es zu merken.

Sie folgten den leeren Straßen zum Herzen der Stadt, schlichen wie Katzen mit dem Rücken zu den Hausmauern entlang der steinernen Bänder der Gehsteige. Sie konnten den Boden unter sich beinahe von dem Leben des Steinkönigs pulsieren fühlen; konnten fast das Geräusch seines Atems in der Stille hören. Eine alte Gottheit, ein Geist, ein Wesen von unbegreiflicher Macht – sie konnten seine Augen auf sich gerichtet fühlen. Die Minuten verstrichen, Straßen und Gebäude kamen und gingen mit einer Gleichförmigkeit, die von Zeitaltern wisperte, die gekommen und gegangen waren, von Leben vor dem ihren, das diesen Weg gegangen war, ohne Spuren zu hinterlassen. Eine erdrückende Gewißheit erfaßte sie, eine wortlose Stimme, ein kaum erinnertes Gesicht, eine federleichte Berührung, alles dazu angetan, sie von der Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens zu überzeugen. Sie fühlten seine Gegenwart und reagierten jeder auf seine Weise, jeder mit der ihm zur Verfügung stehenden Abwehr. Keiner kehrte um. Keiner gab nach.

Aneinander gebunden durch ihre Entschlossenheit, diesem Alptraum ein Ende zu setzen, gingen sie weiter.

Im Osten hellte sich das fahle Dämmerlicht zu frostigem Silbernebel auf, der sich mit den Wolken paarte und die Stadt kristallen machte.

Kurz darauf sahen sie die Kuppel zum ersten Mal, und Walker Boh drängte sich in den Schatten des Hauses, an dem sie entlanggingen, als fürchte er, die Kuppel könne sie sehen. Er führte sie den Gehsteig zurück und eine Nebenstraße entlang, hinüber und eine andere hinunter; im Zickzack schlängelten sie sich durch das Labyrinth. Sie schlichen durch die Feuchtigkeit wie ein Wasserrinnsal, das immer das niedrigste Niveau sucht und nie langsamer wird. Ihr Weg führte sie in Mäandern, doch die Kuppel rückte hinter den Mauern, die sie abschirmte, immer näher.

Schließlich blieb Walker stehen und hob den Kopf aus der Kapuze seines Umhangs, als schnuppere er die Luft. Er war nach innen gekehrt, lotete in der Finsternis seines Bewußtseins die Magie aus, die ihn führen würde, so seine Augen nicht sehen konnten. Dann ging er wieder weiter, führte sie über eine Straße, durch eine kleine Gasse und weitere Straßen hinunter zu einem Gebäude mit einem Eingang zu einem breiten Treppenhaus. Sie stiegen die dunklen Treppen hinunter in einen höhlenartigen Keller, wo Dutzende der Waggons der Alten Welt auf ihren versteinerten Schienen ruhten. Die massiven, steinernen Wagen, vom Zahn der Zeit zerbrochen und zerklüftet, gaben dem Keller das Aussehen eines Gebeinhauses. Licht fiel in dünnen Streifen über die Skelette, und Staubwolken dekorierten die Luft mit feinem Dunst.

Die Treppen führten weiter in die Tiefe, und die drei stiegen hinunter. Sie gelangten in einen Vorraum mit einem runden Portal am gegenüberliegenden Ende, gingen zögernd hindurch und befanden sich wieder im Abwassersystem der Stadt. Die Kanäle führten in drei Richtungen in die Finsternis – Katakomben, in Schweigen gehüllt und mit dem Geruch toter Dinge geschwängert. Walker hob seine Hand und silbernes Licht strahlte aus seinen Fingern. Er blieb wieder stehen, als untersuche er die Luft. Dann führte er sie nach links.

Der Tunnel verschluckte sie mühelos mit seinen undurchdringlichen, steinernen Wänden, die sie für immer festzuhalten drohten. Die Stille war ein heimlicher, unsichtbarer Beobachter. Der Malmschlund war nicht zu hören – kein Gerumpel, nicht einmal das Beben seines Atems. Eldwist fühlte sich wieder an wie ein Grab, vom Leben verlassen, eine Heimat der Toten. Sie gingen im Gänsemarsch hintereinander, Walker vorneweg, dann Quickening und hinter ihr Morgan. Kein Wort wurde gewechselt, kein Blick. Sie hielten die Augen auf das Licht gerichtet, das Walker in die Höhe hielt, auf den Tunnelboden, auf dem sie gingen, und auf die Bewegungen ihrer eigenen Schritte.

Walker wurde langsamer. Seine leuchtende Hand bewegte sich erst zu der einen, dann zur anderen Seite. Ein schwacher Schein erfaßte die Umrisse einer dunklen Öffnung in der linken Wand mit einer Treppe dahinter.

Wieder stiegen sie tiefer, folgten den feuchten, glitschigen, groben Stufen durch ein Wurmloch in der Erde. Sie rochen jetzt den Gezeitenstrom, hörten sein fernes Donnern gegen Eldwists Küste. Sie lauschten aufmerksam auf das Quieken der Ratten, doch sie hörten nichts. Als sie das untere Ende der Treppe erreichten, führte Walker sie nach rechts durch einen engen Spalt, gespickt mit messerscharfen, von der Natur und der Zeit geschliffenen steinernen Vorsprüngen. Langsam und vorsichtig bewegten sie sich nah beieinander, um innerhalb des Lichtkegels zu bleiben, hindurch. Nässe überzog die Wände mit dunklen Flecken. Im Licht bewegte sich etwas, flitzte davon. Morgan erhaschte einen Blick darauf. Meeresgetier, erkannte er überrascht. Kleine, schwarze Krebse. Waren sie tief genug unter Uhl Belk, daß solche Tiere hier leben konnten? Waren sie nah genug am Wasser?

Dann gelangten sie wieder in die unterirdische Höhle unter der Stadt. Sie standen auf dem Felsvorsprung zwischen den Felswänden, und unter ihnen schäumten der Ozean wild um die Klippen. Nebel wirbelte durch die Höhle und füllte auch die hintersten Winkel mit einem weißen Schleier. Tageslicht hellte die Schatten auf, wo die Felsen gespalten waren, und erzeugten kleine, fast farblose Regenbögen vor dem Nebel.

Der Vorsprung verlief in beide Richtungen. Walker Boh untersuchte beide Seiten, erfühlte jene Gegenwart, von der er wußte, daß sie da wäre, spürte den Puls ihrer Magie. Seine Augen hoben sich auf das Ungesehene. Uhl Belk.

»Hier entlang«, sagte er leise und wandte sich nach links.

Dann ertönte das Donnern des erwachenden Malmschlunds, und ganz Eldwist bebte heftig.


Der Plan war einfach, aber einfache Pläne waren meistens auch jene, die am besten klappten. Das einzige Problem bei diesem hier, dachte Pe Ell, als er im Schatten des Hauses gegenüber von der Behausung des Kratzers stand, daß er derjenige war, der das ganze Risiko zu tragen hatte, während Horner Dees sich in Sicherheit befand.

Aber der Plan stammte natürlich von dem Alten.

Wie Quickening, Walker und Morgan waren sie bei Tagesanbruch aus ihrem Refugium auf die Straße hinuntergeschlichen und hatten den freudlosen Tag mit zusammengekniffenen Augen und mißtrauischem Stirnrunzeln begrüßt. Nach einem kurzen Blickaustausch hatten sie sich aufgemacht, waren zunächst zu der Behausung des Kratzers gegangen und hatten dann die Strecke festgelegt, der entlang Pe Ell den Schleicher locken würde. Als Dees sicher war, daß Pe Ell sie sich gut eingeprägt hatte, installierten sie die Ausrüstung für den alten Mann, prüften die Hebelwirkung des Behelfsflaschenzugs und trennten sich.

Pe Ell ging wieder zurück zum Bau des Kratzers, und dort stand er nun und wartete.

List und Schnelligkeit würde er brauchen, zuerst das eine, dann das andere, und nicht zu viel von beidem – Werkzeuge eines Mörders.

Er lauschte lange in die Stille, schätzte die Entfernung, die er zurücklegen mußte, und maß seinen Fluchtweg ab. Diesmal würde ihm keiner zu Hilfe kommen, wenn etwas schiefging. Sein schmales Gesicht wandte sich hierhin und dorthin, hob sich in den Geruch von Meer und Steinen, schärfte sich gegen den Nebel und wachte über die Instinkte, die ihm sagten, daß der Schleicher noch wach war.

Er lächelte sein kaltes, leeres Lächeln. Die Wut war verflogen. Die Aussicht auf das Morden beruhigte ihn wie Quickenings Berührung, tröstete ihn und schenkte ihm Frieden. Er war still und im reinen mit sich selbst; alles war bereit und an Ort und Stelle, so scharf wie die Klinge des Stiehls und ebenso gewiß.

Geräuschlos überquerte er die Straße zum Eingang in den Bau. Das Seil mit dem Ankerhaken hielt er fest in der Hand. Vor der Tür schleuderte er den Haken wieder über den gleichen steinernen Vorsprung, den er am Vorabend benutzt hatte. Mit einem scharfen Klirren landete der Haken und hielt. Pe Ell wich zurück und wartete. Doch die Tür blieb verschlossen. Der Kratzer hatte ihn entweder nicht gehört, oder er bereitete sich auf das, was als nächstes geschehen würde vor. Pe Ell hatte gehofft, daß das Geräusch des Hakens das Vieh herauslocken und ihm die Mühe des Kletterns ersparen würde. Aber er wußte, daß das zu viel verlangt war.

Er holte tief Luft. Das war der Augenblick, in dem der Plan wirklich gefährlich zu werden begann.

Er packte das Seil, das von dem Ankerhaken baumelte, und begann zu klettern. Er war schnell und stark genug, daß er nur seine Hände brauchte. Oben angekommen, packte er den Hebel, der den versteckten Eingang zu dem Unterschlupf betätigte, drückte heftig darauf und ließ sich behende wie eine Katze an dem Seil zu Boden gleiten. Die Tür öffnete sich schon, als er unten anlangte. Ein leises Geräusch drang von drinnen, und er sprang augenblicklich zurück. Ein Tentakel erwischte ihn um Haaresbreite, pfiff an seinem Kopf vorbei. Der Kratzer hatte sich schon in Bewegung gesetzt, watschelte als Bündel wedelnder Tentakel vorwärts.

Sobald sich die Tür vollständig geöffnet hatte, preschte der Schleicher wild fuchtelnd und ohne sich um die Tatsache zu scheren, daß es schon Tag war, heraus. Wütend über Pe Ells Störung, setzte er augenblicklich zur Verfolgung an. Der Mörder jagte direkt vor dem wildgewordenen Biest her in die Schatten der Gasse auf der anderen Straßenseite. Der Schleicher folgte schneller, als Pe Ell erwartet hatte. Ihm kam der Verdacht, daß er seine Chance falsch eingeschätzt haben könnte. Aber er hatte jetzt keine Zeit, die Angelegenheit zu überdenken, und die Zweifel wichen einer wilden Entschlossenheit, die ihn vorwärtstrieb.

Er raste die Gasse entlang und auf die angrenzende Straße hinaus, kam schliddernd zum Stillstand. Vorsicht vor den Falltüren, dachte er. Paß auf, daß du nicht selbst von einer erwischt wirst. Denn das war, was sie für den Kratzer geplant hatten, der alte Mann und er. Einen langen Sturz in ein tiefes Loch – einen Sturz in Eldwists Eingeweide. Wenn er lange genug am Leben blieb.

Der Kratzer schoß durch die Tür des Hauses neben ihm, wählte jetzt seine eigene Route und überrumpelte ihn beinahe. Um Haaresbreite entkam er den Tentakeln, entwischte, ehe das Vieh ihn packen konnte. Er flitzte um die Hausecke, der Kratzer dicht hinter ihm. Sein Eisenpanzer klirrte und schepperte, klapperte und quietschte. Pe Ell konnte seine Größe hinter sich aufragen fühlen wie eine Lawine, die gleich losbricht. Er durchquerte ein Gebäude und noch eines und gelangte wieder auf eine Straße. Nicht mehr weit, nur noch zwei Blocks. Und das Monster? Er drehte sich suchend um. Er konnte es herannahen hören, aber das Geräusch schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Wo …?

Aus dem Schatten eines dunklen Eingangs schoß der Schleicher hervor und schlug mit seinen eisernen Armen wenige Zentimeter neben Pe Ell auf den Boden, und der Mörder sprang davon. Pe Ell brüllte vor Wut und Entsetzen.

So schnell!

Er wollte sich umwenden und kämpfen, wollte das Monster auf das kalte Eisen des Stiehls reagieren sehen, wenn er seinen Leib in Streifen zerschnitt. Er wollte fühlen, wie der Schleicher starb. Aber er rannte statt dessen wieder weiter, jagte über die Steinwege der Stadt, die Straßen hinunter an den Hausmauern entlang, durch Schatten und graues Licht, ein Hauch von etwas, das schwärzer war als die Nacht. Tentakel knisterten und peitschten hinter ihm her, fingen sich in Türen und Fensterrahmen, fetzten sie auseinander und ließen Staub und Steinsplitter aufstieben. Der massige Leib raste auf metallenen Beinen donnernd über den Stein. Der Kratzer schien immer schneller zu werden. Falls das Tageslicht ihn störte, falls seine Blindheit ihn behinderte, so war davon jetzt nichts zu merken. Pe Ell konnte seine wilde Wut fühlen, als wäre sie greifbar.

Die Verfolgungsjagd führte eine weitere Straße entlang und um eine letzte Ecke. Pe Ell fühlte, daß er an Vorsprung verlor. Vor ihm endete die Straße vor einem versteinerten Park mit Stufen, die in ein Becken mit einer geflügelten Statue in der Mitte führten – und davor eine Falle, die gleiche Falle, in die der Hochländer und der alte Mann ein paar Tage zuvor gestürzt waren.

Horner Dees wartete an das Seil gebunden am Rand der versteckten Tür als Köder für die Falle. Pe Ell sprang seitlich auf den Gehsteig und beschleunigte, als der Kratzer hinter ihm mit peitschenden Tentakeln um die Ecke bog. Er rannte an Horner Dees vorbei, erhaschte einen Blick auf sein rauhes, unter dem dichten Bart bleiches Gesicht, und sprang zu der Mauer, wo die Seile für den Flaschenzug bereitlagen. Er zog sie stramm, und Horner Dees wurde über der Falle in die Höhe gerissen. Pe Ell hörte den Schleicher die Straße entlangtrampeln, und er hörte Horner Dees schreien. Der Kratzer entdeckte den alten Mann, veränderte seine Richtung leicht und stürmte auf ihn zu. Dees strampelte gegen seinen Willen, als der Moloch mit quietschenden Eisenscharnieren auf ihn zudonnerte.

Dann löste sich die Falltüre und das Monster begann abzustürzen. Es schlidderte wild und scheppernd die Steinrampe hinunter. Es war so begierig gewesen, den Fährtensucher zu schnappen, daß es die Falle vergessen hatte. Jetzt hatte es den Schleicher erwischt, und er rutschte hinunter und außer Sicht. Pe Ell schrie entzückt auf.

Doch plötzlich kamen die Tentakel zum Vorschein und klammerten sich an steinerne Vorsprünge – eine Ecke der Stufen des Beckens, ein Stück einer halb eingestürzten Mauer, was immer sie fanden. Und das Vieh rutschte nicht mehr. Staub stieg auf und verdunkelte alles. Pe Ell zögerte, vergaß einen Augenblick lang an dem Seilzug zu ziehen, der Dees festhielt. Dann hörte er den alten Mann brüllen. Er riß heftig an den Seilen, doch sie rührten sich nicht. Etwas zog am anderen Ende, etwas, das weit mehr Kraft hatte als er. Er hatte zu lange gewartet. Der Kratzer hatte Horner Dees.

Pe Ell zauderte nie. Er dachte nicht an sein Versprechen; sein Wort zu halten, war ihm nie wichtig erschienen. Er reagierte nur. Er ließ die Seile fallen, sprang von der Mauer und raste durch das steinerne Becken auf die Straße. Er sah den alten Fährtensucher mit Händen und Füßen um sich schlagend, einen Fangarm um seinen stämmigen Leib gewickelt, über den Stein zum Rand des Lochs rutschen. Er erreichte Horner Dees gerade in dem Moment, in dem der alte Mann im Loch verschwinden würde. Mit einem Hieb des Stiehls wurde der Fangarm durchtrennt, ein zweiter zerschnitt die Seile des Flaschenzugs.

»Hau ab!« brüllte Pe Ell und stieß den kräftigen Mann vorwärts.

Ein Tentakel schlängelte sich näher und versuchte, ihm die Arme zu fesseln. Er wand sich, die Klinge des Stiehls glühte mit magischer Kraft, und der Fangarm fiel ab. Pe Ell raste nach links und zerschnitt die Tentakel, die den Kratzer festhielten. Staubwolken stiegen in die Luft und vermischten sich mit dem Dunst, bis man kaum noch etwas erkennen konnte. Pe Ell folgte seinem Instinkt. Er huschte und sprang zwischen dem Gewirr von Tentakeln herum, und zerhackte einen nach dem anderen. Dann hörte er ein Knirschen, und das Monster begann wieder abzurutschen.

Noch einmal fuchtelten die Tentakel wild in der Luft herum, dann war der Kratzer verschwunden. Er stürzte von der Rutsche und hinunter in den Abgrund. Pe Ell unterdrückte seine Erleichterung und raste wieder zurück, um Dees zu suchen. Er fand ihn, wie er erschöpft an den Stufen des Beckens entlangkroch. »Steh auf!« brüllte er, riß ihn auf die Füße und stieß ihn vorwärts.

Hinter ihnen zerbarst der Boden, und Steinbrocken flogen hoch in die Luft. Die beiden Männer stolperten und fielen und schauten sich um.

Der letzte Akt von Horners Plan kam zur Erfüllung.

Aus den Tiefen von Eldwist stieg wütend der Malmschlund, der von dem Aufprall des Kratzers geweckt worden war. Der monströse Wurm brüllte und schüttelte sich, als er sich himmelwärts hob. Sein zerklüfteter, schuppiger Schlangenleib glänzte und war so gigantisch, daß er das graue Tageslicht verdüsterte. Der Kratzer hing ihm aus dem Maul, verwandelte sich langsam zu Stein unter der Berührung des Gifts, sein Strampeln wurde schwächer. Der Malmschlund hielt ihn einen Augenblick lang fest, dann schleuderte er ihn fort, wie es ein Hund mit einer Ratte tun würde. Der Kratzer flog durch die Luft und prallte gegen eine Hauswand. Die Mauer stürzte unter dem Aufprall ein, und der Kratzer zerbarst in Stücke.

Der Malmschlund ließ sich wieder unter die Erde gleiten, und sein Getöse verklang. Die Staubwolken legten sich langsam, und es wurde wieder heller.

Impulsiv packte Pe Ell die Hand von Horner Dees und drückte sie. Ihr Keuchen war das einzige Geräusch, das in der darauffolgenden Stille zu hören war.


Unter der Erde, in der Höhle unter der Kuppelfestung des Steinkönigs, verklang das Getöse des erwachten Malmschlunds und wich dem Branden des Ozeans gegen Eldwists Felsenriffs. Morgan Leah hob sein sonnengebräuntes Gesicht und spähte durch den Dunst.

»Was war das?« flüsterte er.

Walker Boh schüttelte den Kopf. Er wußte die Antwort nicht. Er konnte das Beben der Erde noch fühlen, das Echo von des Monsters Wut. Irgend etwas hatte es aufgeschreckt – das war nicht sein normales Erwachen. Die Reaktion der Kreatur war anders gewesen, als auf den Befehl des Steinkönigs, ungeduldiger, heftiger.

»Schläft er wieder?« drängte der Hochländer ängstlich, besorgt, in der Falle zu sitzen.

»Ja.«

»Und er?« Morgan zeigte in den Dunst. »Weiß er davon?«

Uhl Belk. Walker prüfte durch Schichten von Felsen hindurch, was wohl im Gange war. Aber er war zu weit weg, der Stein zu dicht, um mit seiner Magie hindurchdringen zu können. Es ginge nur, wenn er ihn damit berührte, doch wenn er das täte, würde der Steinkönig alarmiert werden.

»Er ruht noch immer«, antwortete Quickening unerwartet. Sie trat neben ihn, ihr Gesicht glatt und ruhig, ihre Augen in die Ferne gerichtet. Der Wind zauste ihr Silberhaar und wehte es ihr ins Gesicht. Sie stemmte sich dagegen. »Keine Sorge, Morgan. Er hat keine Veränderung bemerkt.«

Doch Walker spürte es, was immer es war, genau wie das Mädchen. Kaum wahrnehmbar bislang, doch die Wirkungen begannen anzuschwellen. Es war etwas jenseits des Verstreichens von Zeit, der Erosion von Fels und Stein. Der Wind wisperte es, die Erde hallte davon wider, und die Luft atmete es. Als Kinder der Magie hatten sowohl die Tochter des Königs vom Silberfluß als auch der Dunkle Onkel sein Kräuseln gefühlt. Nur der Hochländer merkte es nicht.

Walker Boh wurde plötzlich von unerwarteter Eile erfaßt. Die Zeit raste davon.

»Wir müssen uns sputen«, sagte er und machte sich wieder auf den Weg. »Schnell jetzt. Kommt.«

Er führte sie nach links über den glitschigen, unebenen Felsrand. Mit dem Rücken zur Wand tasteten sie sich vorsichtig auf dem an manchen Stellen nur wenige Zentimeter breiten Sims entlang. Die Meereswellen sprühten sie mit jedem neuen Brecher naß. Jenseits der Stelle, wo sie sich befanden, erstreckte sich die Höhle in die Ferne wie eine weite, verborgene Welt, und es war, als könnten sie die Augen ihrer unsichtbaren Bewohner auf sich gerichtet fühlen.

Der Felsvorsprung endete vor einem Stollen, der in die Finsternis führte. Walker Boh hob sein magisches Silberlicht, und eine Treppe wurde sichtbar, die sich aufwärts in den Fels spiralte.

Walker begann hinaufzusteigen. Morgan und Quickening folgten ihm wie Schatten.

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