Seattle, im September, fünf Jahre nach dem fehlgeschlagenen chinesischen Raketenangriff. Ein verregneter Freitag. Ich fuhr im Feierabendverkehr nach Hause. In meiner Wohnung angekommen, schaltete ich die Audioschnittstelle ein und rief eine Liste auf, die ich unter dem Titel »Therapie« zusammengestellt hatte.
Es war ein langer Tag in der Harborview-Notaufnahme gewesen. Zwei Schusswunden, ein Selbstmordversuch. An der Innenseite meiner Augenlider trieb sich noch eines der Bilder herum: Blut, das von den Rädern einer Rollbahre spritzt. Ich zog meine regenfeuchten Sachen aus, schlüpfte in Jeans und Pullover, goss mir etwas zu trinken ein und stellte mich ans Fenster, um das Flimmern der Stadt zu betrachten. Irgendwo da draußen war der lichtlose Raum des Puget Sound, von wogenden Wolken verdunkelt. Der Verkehr auf der I-5 war fast zum Stillstand gekommen, ein leuchtender roter Strom.
Mein Leben, im Wesentlichen so, wie ich es eingerichtet hatte. Und es hing ganz an einem Wort.
Dann sang Astrid Gilberto, voll Wehmut und ein bisschen falsch, über Gitarrenakkorde und Corcovado, aber ich war noch immer zu aufgedreht, um darüber nachzudenken, was Jason gestern Abend am Telefon gesagt hatte. Zu aufgedreht sogar, um die Musik so zu hören, wie es ihr angemessen war. »Corcovado«, »Desafinado«, ein paar Stücke von Gerry Mulligan, ein paar von Charlie Byrd. Therapie. Aber alles verschwamm im Geräusch des Regens. Ich schob mir etwas zu essen in die Mikrowelle und verzehrte es, ohne es zu schmecken; dann begrub ich alle Hoffnung auf karmische Gelassenheit und beschloss, an Giselles Tür zu klopfen, zu sehen, ob sie zu Hause war.
Giselle Palmer wohnte drei Türen weiter im gleichen Flur. Sie öffnete mir in zerschlissener Jeans und einem alten Flanellhemd, was dafür sprach, dass sie einen häuslichen Abend verbringen wollte. Ich fragte sie, ob sie beschäftigt sei oder ob sie vielleicht Lust habe, ein bisschen mit mir abzuhängen.
»Ich weiß nicht, Tyler. Du siehst ziemlich düster aus.«
»Es ist eher so, dass ich mich in einem Konflikt befinde. Ich denke daran, die Stadt zu verlassen.«
»Tatsächlich? So eine Art Geschäftsreise?«
»Nein, ich meine endgültig.«
»Oh?« Ihr Lächeln verflog. »Wann hast du denn das entschieden?«
»Ich hab mich noch nicht entschieden. Das ist ja der springende Punkt.«
Sie machte die Tür weiter auf und winkte mich hinein. »Im Ernst? Wo willst du denn hin?«
»Lange Geschichte.«
»Soll heißen, du brauchst erst einen Drink, bevor du darüber reden kannst?«
»So ungefähr.«
Giselle hatte sich mir letztes Jahr bei einer Mieterversammlung im Keller des Hauses vorgestellt. Sie war vierundzwanzig und reichte mir ungefähr bis zum Schlüsselbein. Sie arbeitete in einem Restaurant in Renton, doch als wir anfingen, uns sonntagnachmittags zum Kaffee zu treffen, erzählte sie mir, sie sei »eine Nutte, eine Prostituierte. Das ist mein Nebenjob.«
Gemeint war damit, dass sie einem lockeren Kreis von Freundinnen angehörte, in dem die Namen älterer (gesellschaftsfähiger, in der Regel verheirateter) Männer zirkulierten, Männer, die bereit waren, gutes Geld für Sex zu zahlen, aber einen Horror vor dem Straßenstrich hatten. Als sie mir das erzählte, hatte sie ihre Schultern gestrafft und sah mich herausfordernd an, für den Fall, dass ich schockiert oder abgestoßen wäre. War ich aber nicht. Wir lebten schließlich in Spin-Zeiten. Leute in Giselles Alter schufen sich ihre eigenen Regeln, ungeachtet möglicher Folgen, und Leute wie ich enthielten sich eines Urteils.
Wir tranken weiterhin zusammen Kaffee und gingen auch manchmal zum Essen, und einige Male schrieb ich ihr eine Überweisung, die sie für ihre Blutuntersuchungen brauchte. Ihrem letzten Test zufolge war Giselle HIV-negativ, und die einzige übertragbare Krankheit, gegen die sie Antikörper entwickelt hatte, war der Westnilvirus. Mit anderen Worten: sie war vorsichtig gewesen und hatte Glück gehabt.
Nun war es, berichtete Giselle, mit dem gewerblichen Sex allerdings so, dass er, selbst wenn er wie in ihrem Fall auf Amateurniveau betrieben wurde, das eigene Leben immer mehr prägte und vereinnahmte. Zusehends, sagte sie, werde man zu jemandem, der Kondome und Viagra mit sich herumträgt. Aber warum tat sie es dann, wenn sie doch auch, nur so als Beispiel, einen Nachtschichtjob bei Wal-Mart antreten konnte? Das war eine Frage, die ihr nicht gefiel, die sie defensiv beantwortete: »Vielleicht ist es ein Tick. Oder vielleicht auch ein Hobby, nicht wahr, so wie Modelleisenbahnen.« Ich wusste jedoch, dass sie vor Jahren in Saskatoon vor einem Stiefvater davongelaufen war, der sie missbraucht hatte, und es war nicht schwer, daraus Schlüsse zu ziehen. Und natürlich hatte sie dieselbe Entschuldigung für riskantes Verhalten, wie wir sie alle, die wir in einem bestimmten Alter waren, hatten: die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit unserer aller Auslöschung. Sterblichkeit übertrumpft die Moral, so hatte es ein Schriftsteller meiner Generation einmal ausgedrückt.
»Nun denn«, sagte sie jetzt, »wie betrunken soll es denn sein? Nur angeschickert oder sternhagelvoll? Vielleicht musst du’s aber auch nehmen, wie’s kommt. Die Bar ist im Moment etwas dünn bestückt.«
Sie mixte mir etwas, das hauptsächlich aus Wodka bestand und schmeckte, als sei es aus einem Benzintank gepumpt worden. Ich nahm die heutige Zeitung von einem Stuhl und setzte mich. Giselles Wohnung war recht anständig eingerichtet, aber mit dem Saubermachen hielt sie es nicht besser als ein College-Frischling im Studentenwohnheim. Bei der Zeitung war die Kommmentar- und Meinungsseite aufgeschlagen. Der Cartoon handelte vom Spin: die Hypothetischen waren als ein paar schwarze Spinnen gezeichnet, die die Erde mit ihren haarigen Beinen umklammerten. Der Text dazu: FRESSEN WIR SIE GLEICH ODER WARTEN WIR BIS ZUR WAHL?
»Das kapier ich überhaupt nicht«, sagte Giselle, ließ sich aufs Sofa nieder und deutete mit einem Fuß auf die Zeitung.
»Den Cartoon?«
»Die ganze Geschichte. Den Spin. ›Kein Zurück‹. Wenn ich die Zeitung lese, frag ich mich immer nur, äh… was ist los? Da ist irgendetwas auf der anderen Seite des Himmels und es ist uns nicht freundlich gesinnt. Das ist eigentlich alles, was ich weiß.«
Vermutlich hätte die Mehrheit der Menschheit diese Erklärung unterschreiben können, aber aus irgendeinem Grund — vielleicht war es der Regen, vielleicht das Blut, das heute in der Notaufnahme geflossen war — reagierte ich etwas ungehalten darauf. »So schwer ist es nicht zu verstehen.«
»Nein? Okay, warum passiert es also?«
»Um das Warum geht es nicht. Niemand weiß über das Warum Bescheid. Was aber das Was angeht…«
»Nein, ich weiß. Du brauchst mir keinen Vortrag zu halten. Wir stecken in einer Art kosmischem Sack, und das Universum gerät ins Trudeln, und so weiter und so fort.«
Was mich erneut reizte. »Du kennst doch deine eigene Adresse, oder?«
Sie nahm einen Schluck. »Natürlich.«
»Weil du nämlich gerne weißt, wo du bist. Ein paar Kilometer vom Meer entfernt, ein paar hundert Kilometer von der Grenze, ein paar tausend Kilometer westlich von New York, stimmt’s?«
»Stimmt, na und?«
»Was ich damit sagen will: die Leute können problemlos zwischen Spokane und Paris unterscheiden, aber wenn’s um den Himmel geht, sehen sie nichts als einen großen, amorphen, rätselhaften Klecks. Wie kommt das?«
»Ich weiß nicht. Weil ich mein ganzes Wissen über Astronomie aus Star Trek bezogen habe? Ich meine, wie viel muss ich denn wirklich über den Mond und die Sterne wissen? Dinge, die ich nicht mehr gesehen habe, seit ich ein kleines Kind war. Sogar die Wissenschaftler geben zu, dass sie die Hälfte der Zeit gar nicht wissen, wovon sie reden.«
»Und das findest du in Ordnung?«
»Was für ne Scheißrolle spielt es denn, was ich finde? Hör zu, vielleicht sollte ich den Fernseher anmachen. Wir können uns einen Film angucken, und du erzählst mir, warum du die Stadt verlassen willst.«
Sterne sind wie Menschen, sagte ich ihr. Sie leben und sterben in voraussagbaren Zeiträumen. Die Sonne altert rapide und je weiter das Altern voranschreitet, desto schneller verbraucht sie ihren Brennstoff, ihre Leuchtkraft nimmt alle Milliarden Jahre um zehn Prozent zu. Das Sonnensystem hat sich bereits so sehr verändert, dass die Erde unbewohnbar wäre, wenn der Spin von einem Tag auf den anderen aufhören würde. Kein Zurück mehr. »Das ist es, wovon in den Zeitungen die Rede ist. Es wäre gar nicht in den Nachrichten gewesen, wenn nicht Präsident Clayton in einer Rede offiziell zugegeben hätte, dass es nach Meinung der führenden Wissenschaftler keine Rückkehr zum Status quo ante geben könne.«
Worauf sie mich etwas unglücklich anstarrte »Dieser ganze Quatsch…«
»Es ist kein Quatsch.«
»Kann sein, aber es bringt mir nichts.«
»Ich wollte nur erklären…«
»Scheiße, Tyler. Hab ich dich um eine Erklärung gebeten? Nimm deine Albträume und geh nach Hause. Oder gib Ruhe und erzähl mir, warum du aus Seattle wegwillst. Es hat mit deinen Freunden zu tun, nicht wahr?«
Ich hatte ihr von Jason und Diane erzählt. »Hauptsächlich mit Jason.«
»Das sogenannte Genie.«
»Nicht nur sogenannt. Er ist in Florida…«
»Macht da irgendwas für die Satellitenleute, hattest du erzählt, oder?«
»Verwandelt den Mars in einen Garten.«
»Das stand auch in der Zeitung. Ist das wirklich möglich?«
»Ich habe keine Ahnung. Jason scheint es zu glauben.«
»Aber würde es nicht ewig lange dauern?«
»Ab einer bestimmten Höhe geht die Uhr schneller.«
»Aha. Und wofür braucht er dich?«
Tja, wofür? Gute Frage. Ausgezeichnete Frage. »Perihelion will einen Arzt für die interne Ambulanz einstellen.«
»Ich dachte, du wärst nur ein gewöhnlicher praktischer Arzt.«
»Bin ich auch.«
»Was qualifiziert dich dann dafür, ein Astronautendoktor zu werden?«
»Absolut nichts. Aber Jason…«
»Tut einem alten Kumpel einen Gefallen? Tja, hätte man sich denken können. Gott segne die Reichen, hm? Bleibt alles im Freundeskreis.«
Ich zuckte mit den Achseln. Sollte sie es ruhig glauben. Nicht nötig, Giselle einzuweihen, und außerdem hatte Jason ohnehin nichts Genaueres gesagt… Aber bei unserem Gespräch hatte ich den Eindruck gewonnen, dass er mich nicht nur als Betriebsdoktor haben wollte, sondern auch als seinen Leibarzt. Denn er hatte ein gesundheitliches Problem. Ein Problem, das er dem Perihelion-Personal nicht anvertrauen wollte, über das er am Telefon nicht reden wollte.
Giselle war zwar der Wodka ausgegangen, aber nachdem sie ein wenig in ihrer Handtasche gewühlt hatte, brachte sie einen in einer Tamponschachtel versteckten Joint zum Vorschein. »Wird gut bezahlt, möchte ich wetten.« Sie knipste ein Plastikfeuerzeug an, hielt die Flamme an die eingedrehte Spitze des Joints und nahm einen tiefen Zug.
»Wir haben noch keine Details besprochen.«
Sie stieß den Rauch aus. »Irgendwie nicht normal. Vielleicht hältst du es deswegen aus, die ganze Zeit an den Spin zu denken. Tyler Dupree, Autismuskandidat. Das bist du nämlich, weißt du. Alle Anzeichen sind da. Ich wette, dieser Jason Lawton ist genauso. Ich wette, er kriegt jedes Mal einen Steifen, wenn er das Wort ›Milliarde‹ ausspricht.«
»Unterschätz ihn nicht. Er könnte tatsächlich dazu beitragen, die menschliche Rasse zu erhalten.« Wenn auch nicht jedes einzelne Exemplar.
»Also, wenn das kein Streberprojekt ist. Und seine Schwester, die, mit der du geschlafen hast…«
»Einmal.«
»Einmal. Die ist religiös geworden, stimmt’s?«
»Stimmt.« War es wohl auch immer noch, soweit mir bekannt war. Seit jener Nacht in den Berkshires hatte ich nichts mehr von Diane gehört. Nicht, dass ich mich nicht darum bemüht hätte. Mehrere E-Mails waren allerdings unbeantwortet geblieben. Auch Jason hörte nicht viel von ihr, aber Carol zufolge lebte sie mit Simon irgendwo in Utah oder Arizona, einem Staat im Südwesten jedenfalls, den ich nie besucht hatte und von dem ich keine Vorstellungen besaß. Dorthin hatte es sie nach dem Zerfall der New-Kingdom-Bewegung verschlagen.
»Das ist auch nicht so schwer zu verstehen.« Giselle reichte mir den Joint. So richtig wohl war mir nicht, was das Kiffen anging, aber Giselles Bemerkungen über Autismus und Strebertum hatten vielleicht doch einen wunden Punkt getroffen. Ich nahm einen ausführlichen Zug, und die Wirkung war genau die gleiche wie beim letzten Mal in Stony Brook: augenblickliche Aphasie. »Es muss furchtbar für sie gewesen sein. Als das mit dem Spin passiert war, wollte sie nichts anderes, als nicht daran denken zu müssen, was aber das Letzte war, was du und ihre Familie zugelassen hätten. Ich wäre an ihrer Stelle auch religiös geworden. Im Scheißchor würde ich singen.«
Ich sagte (mit säuselnder Verzögerung): »Ist es wirklich so schwer, der Welt ins Auge zu blicken?«
Giselle streckte die Hand aus und nahm den Joint zurück. »Von meinem Standpunkt aus schon. Im Großen und Ganzen.« Sie wandte zerstreut den Kopf. Wind rüttelte am Fenster, als ärgerte er sich über die trockene Wärme in der Wohnung. Unangenehmes Wetter näherte sich vom Sund her. »Ich wette, das wird wieder einer von diesen Wintern. So ein richtig fieser. Ich wünschte, ich hätte hier einen Kamin. Musik könnte auch nichts schaden. Aber ich bin zu müde, um aufzustehen.«
Ich ging zu ihrer Musikanlage, rief den Download eines Stan-Getz-Albums auf, und schon bald erwärmte das Saxophon die Wohnung auf eine Weise, wie kein Kamin der Welt es vermocht hätte.
Sie nickte beifällig. Nicht unbedingt das, was sie selbst ausgewählt hätte, aber — ja doch, okay. »Er hat dich also angerufen und dir diesen Job angeboten.«
»Jawohl.«
»Und du hast ihm gesagt, dass du ihn annimmst?«
»Ich hab ihm gesagt, dass ich darüber nachdenke.«
»Und das tust du jetzt? Darüber nachdenken?«
Sie schien damit irgendetwas andeuten zu wollen, aber ich wusste nicht, was. »Ja, ich glaube schon.«
»Ich glaube, eher nicht. Ich glaube, du weißt schon, was du tun wirst. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du bist hier, um dich zu verabschieden.«
Ich sagte ihr, das sei wohl möglich.
»Dann komm wenigstens rüber und setz dich neben mich.«
Ich ging schwerfällig zum Sofa. Giselle streckte sich aus und legte ihre Füße auf meinen Schoß. Sie trug Männersocken, flauschige Argyles, was ein wenig albern aussah. Die Aufschläge ihrer Jeans rutschten über die Knöchel. »Für jemanden, der sich Schusswunden ansehen kann, ohne mit den Wimpern zu zucken, hast du es ziemlich gut drauf, allen Spiegeln aus dem Weg zu gehen.«
»Was soll das denn heißen?«
»Soll heißen, dass du offensichtlich noch nicht fertig bist mit Jason und Diane. Vor allem nicht mit ihr.«
Aber es war gar nicht möglich, dass Diane mir noch immer etwas bedeutete. Vielleicht wollte ich gerade dafür den Beweis antreten. Vielleicht war das der Grund, warum wir am Ende in Giselles Schlafzimmer stolperten, noch einen Joint rauchten, auf die rosa Bettdecke fielen, unter den regenblinden Fenstern miteinander schliefen und uns in den Armen hielten, bis wir eingeschlafen waren.
Aber es war nicht Giselles Gesicht, das mir im postkoitalen Traum erschien, und als ich ein paar Stunden später erwachte, dachte ich: Mein Gott, sie hat Recht — ich gehe nach Florida.
Letztlich dauerte es dann noch einige Wochen, um alles zu arrangieren, sowohl auf Jasons Seite als auch im Krankenhaus. Während dieser Zeit sah ich Giselle noch einmal, aber nur kurz. Sie suchte nach einem Gebrauchtwagen, ich verkaufte ihr meinen. Ich wollte die Fahrt über Land nicht riskieren (die Steigerungsrate beim Straßenraub auf den Interstate-Highways lag im zweistelligen Bereich). Doch wir sprachen nicht mehr von der Intimität zwischen uns, die mit dem Regen gekommen und wieder gegangen war, ein Akt leicht betrunkener Freundlichkeit. Wessen Freundlichkeit? Vermutlich eher ihre.
Von Giselle abgesehen, gab es nur wenige Menschen in Seattle, denen ich auf Wiedersehen sagen musste, und in meiner Wohnung gab es, abgesehen von einigen — sehr leicht zu transportierenden — digitalen Dateien und ein paar hundert antiken Platten, nichts Wesentliches, das ich behalten wollte. Am Tag meiner Abreise half Giselle mir, das Gepäck im Taxi zu verstauen. »Sea-Tac-Airport«, sagte ich zu dem Fahrer, und sie winkte mir zum Abschied nach, als das Taxi in den Verkehr einfädelte, nicht übermäßig traurig, aber immerhin ein bisschen wehmütig.
Giselle war in Ordnung und sie führte ein riskantes Leben. Ich hab sie nie wiedergesehen, aber ich hoffe, sie hat das Chaos überlebt, das später folgte.
Der Flieger nach Orlando war ein knarrender alter Airbus. Die Sitzbezüge waren abgenutzt und die in die Rückenlehnen eingelassenen Videobildschirme hätten längst erneuert werden müssen. Ich setzte mich auf meinen Platz zwischen einem russischen Geschäftsmann am Fenster und einer Frau mittleren Alters am Gang. Der Russe war mürrisch und legte wenig Wert auf Konversation, aber die Frau wollte reden: sie war Freiberuflerin, fertigte medizinische Transkriptionen an; sie flog für zwei Wochen nach Tampa, um ihre Tochter und ihren Schwiegersohn zu besuchen. Sie hieß Sarah, und wir fachsimpelten ein wenig über medizinische Dinge, während das Flugzeug rumpelnd seine Reiseflughöhe ansteuerte.
In den fünf Jahren seit dem chinesischen Feuerwerk war reichlich Geld aus Bundesmitteln in die Luft- und Raumfahrtindustrie gepumpt worden. Nur wenig davon war allerdings dem kommerziellen Flugverkehr zugute gekommen, was zur Folge hatte, dass diese notdürftig aufpolierten Airbusse noch immer flogen. Der Großteil des Geldes war stattdessen in allerlei Projekte geflossen, die E. D. Lawton von seinem Washingtoner Büro aus leitete und Jason bei Perihelion in Florida ausgestaltete: Spin-Forschung und, seit kurzem, das Mars-Projekt. Die Clayton-Administration hatte all diese Haushaltsposten durch einen willfährigen Kongress geschleust, der nur zu gern den Eindruck vermitteln wollte, er würde greifbare Maßnahmen gegen den Spin unterstützen. Das war gut für die öffentliche Moral. Und noch besser war, dass niemand sofort greifbare Ergebnisse erwartete.
Die Investitionen aus dem Bundeshaushalt hatten dazu beigetragen, die heimische Wirtschaft über Wasser zu halten, zumindest im Südwesten, im Großraum Seattle und im Küstengebiet von Florida. Der Aufschwung, der damit angestoßen worden war, erwies sich jedoch als schleppend und prekär, und Sarah machte sich Sorgen um ihre Tochter: Ihr Schwiegersohn arbeitete als Installateur und war von seiner Firma, einem Erdgasunternehmen in der Gegend von Tampa, auf unbestimmte Zeit freigestellt worden. Sie lebten in einem Wohnwagen, bekamen Unterstützung aus einem Hilfsfond der Regierung und versuchten ihren dreijährigen Sohn, Sarahs Enkel Buster, halbwegs ordentlich großzuziehen.
»Ist das nicht ein seltsamer Name«, fragte sie, »für einen Jungen? Ich meine, Buster? Klingt wie ein Stummfilmstar. Aber irgendwie passt er sogar zu ihm.«
Ich sagte ihr, Namen seien wie Kleider: du trägst sie oder sie tragen dich. Sie erwiderte: »Ja, ist das so, Tyler Dupree?«, und ich lächelte verlegen.
»Allerdings«, fuhr sie fort, »weiß ich nicht, warum junge Leute heutzutage überhaupt Kinder haben wollen. So schrecklich das klingt. Nichts gegen Buster natürlich. Ich liebe ihn von ganzem Herzen und hoffe, dass er ein langes und glückliches Leben haben wird. Aber man muss sich doch fragen: Wie stehen seine Chancen?«
»Die Menschen brauchen manchmal einen Grund, um zu hoffen«, sagte ich und fragte mich, ob es diese banale Weisheit gewesen war, die Giselle versucht hatte mir nahezubringen.
»Andererseits bekommen viele junge Leute keine Kinder, ich meine, mit voller Absicht nicht, sozusagen aus Rücksichtnahme. Sie sagen, das Beste, was man für ein Kind tun könne, sei, ihm all das Leid zu ersparen, das uns erwartet.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob irgendjemand weiß, was uns erwartet.«
»Na ja, Sie wissen schon: der Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt und alles…«
»Diesen Punkt haben wir bereits passiert. Aber wir sind noch da. Aus welchem Grund auch immer.«
Sie wölbte die Augenbrauen. »Sie glauben, es gibt Gründe, Dr. Dupree?«
Wir plauderten noch ein bisschen, dann sagte sie: »Ich muss versuchen, ein bisschen zu schlafen«, und stopfte das mickrige Kissen in die Lücke zwischen Nacken und Kopfstütze. Jenseits des Fensters, halb verdeckt von dem gleichgültigen Russen, war die Sonne untergegangen, der Himmel rußschwarz geworden; es war nichts zu sehen außer der sich spiegelnden Deckenleuchte, die ich jetzt etwas dämpfte und auf meine Knie richtete.
Dummerweise befand sich mein gesamter Lesestoff in meinem Koffer. Aber im Sitz vor Sarah steckte eine Zeitschrift, also langte ich hinüber und schnappte sie mir. Die Zeitschrift, die ein schlicht weißes Titelblatt hatte, hieß Gateway, eine religiöse Publikation, vermutlich von einem früheren Fluggast zurückgelassen.
Ich blätterte darin und musste, unvermeidlich, an Diane denken. In den Jahren nach dem fehlgeschlagenen Angriff auf die Spin-Artefakte war die New-Kingdom-Bewegung mehr oder weniger zerbröselt — ihre Begründer verleugneten sie und ihr glücklicher Sexualkommunismus verpuffte unter dem Druck von Geschlechtskrankheiten und menschlicher Habgier. Heute wollte sich niemand mehr, schon gar nicht die Avantgarde der trendbewussten Religiosität, schlicht als »NKler« bezeichnen. Man gehörte den Hektorianern, den Preteristen (der radikalen oder gemäßigten Fraktion) oder den Wiederaufbauern des Königreichs an — nie aber einfach dem »Neuen Königreich«. Die Ekstasis-Veranstaltungen, die Diane und Simon in jenem Sommer unserer Begegnung in den Berkshires besucht hatten, gab es nicht mehr.
Keine der verbleibenden NK-Fraktionen verfügte über eine nennenswerte Anhängerschaft und den entsprechenden Einfluss. Die Southern Baptist Convention allein hatte mehr Mitglieder als sämtliche Kingdom-Sekten zusammen. Aber ihre millenaristische Ausrichtung hatte der Bewegung ein unverhältnismäßig großes Gewicht in der durch den Spin ausgelösten religiösen Weltuntergangsstimmung verliehen. So war es auf NK zurückzuführen, dass so viele Plakatwände an den Straßen verkündeten, die TRÜBSALZEIT sei angebrochen, und dass viele der alteingesessenen Kirchen sich gezwungen sahen, die Frage der Apokalypse neu zu stellen.
Gateway schien das Presseorgan einer Wiederaufbau-Fraktion von der Westküste zu sein, gerichtet an eine breite Öffentlichkeit. Neben einem Leitartikel, der das unselige Wirken von Calvinisten und Presbyterianern anprangerte, enthielt die Ausgabe drei Seiten mit Rezepten und eine Filmkritikkolumne. Was aber meine Aufmerksamkeit erregte, war ein Artikel mit der Überschrift »Blutopfer und die Rote Färse« — eine Geschichte über ein rotes Kalb, das »in Erfüllung der Prophezeiung« erscheinen und auf dem Tempelberg in Jerusalem geopfert werden würde; mit diesem Vorgang werde dann die Entrückung eingeleitet. Offenbar war der alte NK-Glaube, wonach der Spin ein Akt der Erlösung sei, aus der Mode geraten. »Denn wie ein Fallstrick wird er kommen / über alle die auf Erden wohnen«, Lukas 21:35. Ein Fallstrick, keine Erlösung. Lieber sich ein Tier zum Verbrennen suchen — die Trübsalzeit war wohl doch problematischer als erwartet.
Ich stopfte die Zeitschrift zurück in den Sitz, während das Flugzeug in Turbulenzen geriet. Sarah runzelte im Schlaf die Stirn, und der russische Geschäftsmann rief die Stewardess und bestellte sich einen Whisky Sour.
Das Auto, das ich am nächsten Morgen in Orlando mietete, wies zwei Einschusslöcher in der Beifahrertür auf, zwar verspachtelt und überlackiert, aber doch deutlich sichtbar. Ich fragte den Angestellten, ob er nichts anderes habe. »Ist zur Zeit das einzige auf dem Gelände«, erwiderte er. »Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, ein paar Stunden zu warten…«
Nein, sagte ich, das ginge schon.
Ich nahm den Bee Line Expressway nach Osten und bog dann nach Süden auf die 95. Frühstückspause machte ich bei einem Denny’s am Rande von Cocoa, wo die Kellnerin sehr freigebig mit der Kaffeekanne war, vielleicht, weil sie meine Heimatlosigkeit spürte. »Lange Fahrt?«
»Nicht mehr als eine Stunde noch.«
»Na, dann sind Sie ja praktisch da. Zu Hause oder in der Fremde?« Als sie merkte, dass ich darauf keine Antwort parat hatte, lächelte sie. »Das werden Sie schon noch rauskriegen, mein Lieber. Tun wir alle, früher oder später.« Als Gegenleistung für diesen Raststätten-Segen hinterließ ich ein absurd großes Trinkgeld auf dem Tisch.
Der Perihelion-Campus — von Jason beunruhigenderweise als »das Gelände« bezeichnet — lag ein ganzes Stück südlich von den Canaveral/Kennedy-Startrampen, wo die strategischen Planungen in physische Handlung umgesetzt wurden. Die Perihelion-Stiftung (inzwischen offiziell eine Regierungsbehörde) war kein Bestandteil der NASA, bildete aber mit dieser eine »Schnittstelle«, indem man sich gegenseitig Ingenieure und anderes Personal auslieh. In gewissem Sinne stellte sie eine bürokratische Schicht dar, die der NASA seit Beginn des Spins von mehreren aufeinanderfolgenden Regierungen übergestülpt worden war, um die erstarrte Raumfahrtbehörde in eine Richtung zu treiben, von der ihre alten Bosse noch nicht einmal geträumt hätten. E. D. saß dem Lenkungsausschuss vor, und Jason hatte faktisch die Kontrolle über die Programmentwicklung übernommen.
Es wurde jetzt wärmer, eine für Florida typische Hitze, die direkt aus der Erde zu steigen schien: das feuchte Land schwitzte wie ein Bruststück auf dem Grill. Ich fuhr an zerfransten Palmen vorbei, trüben Surfer-Läden, überwucherten Straßengräben und mindestens einem Verbrechensschauplatz: Streifenwagen umzingelten einen schwarzen Pick-up, drei Männer standen über die heiße Motorhaube gebeugt, die Hände im Rücken gefesselt. Ein den Verkehr regelnder Polizist warf einen ausgiebigen Blick auf das Nummernschild meines Mietwagens — in seinen Augen blinkte ein unspezifischer, gewissermaßen vorsorglicher Verdacht — und winkte mich dann weiter.
Das Perihelion-»Gelände« erwies sich als weniger düster, als ich befürchtet hatte. Es war ein lachsfarbenes Industriezentrum, modern und sauber, inmitten einer tadellos gepflegten, sanft hügeligen Rasenfläche gelegen, abgezäunt, aber nicht völlig abweisend. Ein Wärter am Tor spähte in meinen Wagen, bat mich, den Kofferraum zu öffnen, tastete meine Koffer und Plattenkisten ab, dann händigte er mir einen befristeten Passierschein an einem Taschenclip aus und wies mir den Weg zum Besucherparkplatz (»hinter dem Südflügel, folgen Sie der Straße nach links, einen schönen Tag noch«). Seine hellblaue Uniform war vom Schweiß dunkel eingefärbt.
Ich hatte kaum mein Auto abgestellt, da kam Jason durch eine Glastür mit der Aufschrift ALLE BESUCHER MÜSSEN SICH REGISTRIEREN LASSEN, überquerte ein Stück Rasen und trat in die sengende Hitze des Parkplatzes. »Tyler!«, sagte er und blieb einen Meter vor mir abrupt stehen, als könne ich gleich wieder verschwinden, wie eine Fata Morgana.
»Hey, Jase«, sagte ich lächelnd.
»Dr. Dupree!« Er grinste. »Aber dieses Auto. Ein Mietwagen? Wir werden ihn nach Orlando zurückbringen lassen. Dir etwas Hübscheres besorgen. Hast du schon eine Bleibe?«
Ich erinnerte ihn daran, dass er sich auch darum zu kümmern versprochen hatte.
»Oh, haben wir. Beziehungsweise: wir tun es gerade. Handeln einen Leasingvertrag aus für ein kleines Häuschen, keine zwanzig Minuten von hier. Mit Meeresblick. Bezugsfertig in ein paar Tagen. In der Zwischenzeit brauchst du ein Hotel, aber das kriegen wir leicht arrangiert. Also, was stehen wir hier rum und absorbieren UV-Strahlung?«
Ich folgte ihm in den Südflügel des Gebäudes. Dabei beobachtete ich seinen Gang — mir fiel auf, dass er eine Schlagseite nach links zu haben schien und fast ausschließlich seine rechte Hand einsetzte.
Die Klimaanlage überfiel uns, eine frostige Kälte, deren Geruch die Vermutung nahelegte, sie sei aus sterilen Gewölben tief unter der Erde gepumpt worden. In der Empfangshalle gab es sehr viel Granit und glänzende Fliesen. Und weiteres Wachpersonal, das aber zu formvollendeter Höflichkeit ausgebildet war. »Ich bin wirklich froh, dass du hier bist«, sagte Jason. »Ich habe zwar eigentlich keine Zeit, aber ich will dich herumführen. Wir machen den Schnelldurchgang. Ich hab Leute von Boeing im Konferenzraum sitzen. Einen aus Torrance und einen von der IDS-Gruppe in St. Louis. Xenon-Ion-Nachrüstungen, sind sie sehr stolz drauf, haben sie noch ein bisschen mehr Durchlauf rausgepresst, als würde es darauf wirklich ankommen. Wir brauchen keine Finesse, sag ich ihnen, wir brauchen Verlässlichkeit, Einfachheit…«
»Jason.«
»Sie… ja, was?«
»Hol mal Luft zwischendurch.«
Er warf mir einen verärgerten Blick zu. Dann gab er nach, lachte laut. »Tut mir Leid. Es ist nur, es ist wie… weißt du noch, als wir Kinder waren? Jedes Mal wenn jemand ein neues Spielzeug hatte, musste er damit angeben?«
Für gewöhnlich war es Jase gewesen, der die neuen Spielzeuge hatte, oder jedenfalls die teuren. Aber ja, sagte ich, ich könne mich noch gut erinnern.
»Tja, es wäre sicher leichtfertig, es jemand anderem auf diese Weise zu beschreiben, aber was wir hier haben, Tyler, das ist die größte Spielzeugkiste der Welt. Lass mich damit angeben, okay? Danach kannst du dich erst einmal einrichten. Wir lassen dir ein bisschen Zeit, dich an das Klima zu gewöhnen.«
Also folgte ich ihm durch das Erdgeschoss aller drei Flügel, bewunderte brav die Konferenzräume und Büros, die riesigen Labore und technischen Werkstätten, in denen Prototypen konzipiert oder Aufgaben definiert wurden, bevor man Pläne und Zielvorgaben an die Leute mit dem großen Geld weitergab. Alles sehr interessant. Alles sehr verwirrend. Schließlich landeten wir in der Ambulanz, wo ich mit Dr. Koenig bekannt gemacht wurde, dem scheidenden Arzt, der mir ohne Begeisterung die Hand schüttelte und sich dann mit einem über die Schulter gesprochenen »Viel Glück, Dr. Dupree« davonmachte.
Unterdessen hatte sich Jasons Pager so oft gemeldet, dass er ihn nicht länger ignorieren konnte. »Die Boeing-Leute«, sagte er. »Man muss ihre PPUs bewundern, ohne die wären sie bestimmt längst trübsinnig geworden. Findest du allein zur Rezeption zurück? Sally wartet dort auf dich, meine persönliche Assistentin, sie wird dir ein Zimmer besorgen. Wir können uns später noch unterhalten. Tyler, es ist wirklich schön, dich wiederzusehen!«
Noch ein Händeschütteln, seltsam kraftlos, und dann eilte er davon, immer noch mit der Neigung nach links, sodass ich mich nicht mehr fragte, ob er krank war, sondern wie krank er war und wie viel schlimmer es noch werden würde.
Auf Jasons Wort war Verlass. Nach weniger als einer Woche zog ich in ein kleines möbliertes Haus ein, das so zerbrechlich gebaut war, wie es hier in Florida üblich schien: nur Bretter und Latten, die Wände hauptsächlich Fensterfronten. Aber bestimmt war es teuer gewesen — die obere Veranda blickte über einen langen Abhang, vorbei an einem Gewerbegebiet, aufs Meer. Während dieser Woche wurde ich bei drei Gelegenheiten von dem wortkargen Dr. Koenig eingewiesen, der offensichtlich bei Perihelion nicht glücklich geworden war, mir seine Praxis aber sehr gravitätisch übergab, indem er mir die Krankenakten und seinen Assistentenstab nachdrücklich ans Herz legte. Am Montag empfing ich dann meinen ersten Patienten, einen jungen Metallurgen, der sich bei einem betriebsinternen Football-Spiel auf dem Südrasen den Knöchel verdreht hatte. Die Klinik war offenkundig »übertechnisiert«, wie Jason sich vielleicht ausgedrückt hätte, für die vergleichsweise triviale Arbeit, die hier verrichtet wurde. Aber Jason erklärte, er rechne mit Zeiten, in denen es schwierig werden könnte, »dort draußen« medizinische Versorgung zu erhalten.
Ich begann mich einzugewöhnen. Ich schrieb Rezepte aus oder verlängerte sie, gab Aspirin aus, sah die Krankenakten durch. Ich tauschte höfliche Floskeln mit Molly Seagram, meiner Empfangsdame, der ich (wie sie sagte) sehr viel besser gefiel als Dr. Koenig.
Abends ging ich nach Hause und sah zu, wie Blitze aus Wolken zuckten, die sich vor der Küste aufgebaut hatten wie riesige elektrifizierte Klipper.
Und ich wartete auf einen Besuch von Jason, doch der blieb aus, fast einen Monat lang. Dann, an einem Freitagabend nach Sonnenuntergang, stand er unangekündigt vor der Tür, in Freizeitkleidung (Jeans, T-Shirt), die ihn ein glattes Jahrzehnt jünger erscheinen ließ. »Dachte, ich schau mal vorbei. Wenn’s dir recht ist?«
Selbstverständlich war es das. Wir gingen nach oben, holten uns zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und setzten uns auf den weiß getünchten Balkon. Nach einer Weile begann Jason Sachen zu sagen wie »Wirklich schön, dich wiederzusehen« oder »Toll, dich in der Mannschaft zu haben«, bis ich ihn unterbrach: »Hör auf. Diese blöden Begrüßungssprüche brauche ich nicht mehr. Ich bin’s doch nur, Jase.«
Er lachte verlegen, und von da an war es leichter.
Wir schwelgten in Erinnerungen. Irgendwann fragte ich ihn: »Hörst du oft von Diane?«
Er zuckte mit den Achseln. »Eher selten.«
Ich hakte nicht nach. Dann, als wir beide ein paar Flaschen geleert hatten, die Luft kühler und der Abend still geworden war, fragte ich ihn, wie’s ihm denn so gehe, ganz persönlich gesprochen.
»Viel zu tun gehabt«, erwiderte er. »Wie du dir gedacht haben wirst. Wir stehen kurz vor den ersten Saatabschüssen — wir sind weiter, als wir der Presse verraten haben, E. D. hat gern einen gewissen Vorsprung. Er ist die meiste Zeit in Washington. Clayton persönlich hält sich immer auf dem Laufenden, wir werden richtig verhätschelt von der Regierung, jedenfalls vorläufig. Aber dadurch bin ich sehr viel mit Geschäftsführungsscheiß befasst — ein Fass ohne Boden — anstatt mit der Arbeit, die ich tun möchte und tun muss, nämlich Projektplanung. Es ist…« Er wedelte mit den Händen.
»Stressig.«
»Ja, stressig. Aber wir machen Fortschritte. Ganz allmählich.«
»Mir ist aufgefallen, dass ich gar keine Akte von dir habe. In der Klinik. Von allen anderen Angestellten oder Verwaltungsbeamten gibt es Unterlagen. Nur von dir nicht.«
Er sah weg, dann lachte er, ein bellendes, nervöses Lachen. »Tja… ich hätt’s ganz gern, wenn es so bleibt, Tyler. Bis auf weiteres.«
»Dr. Koenig hatte andere Vorstellungen?«
»Dr. Koenig glaubt, dass wir alle ein bisschen verrückt sind. Was natürlich auch stimmt. Habe ich erzählt, dass er auf einem Kreuzfahrtschiff angeheuert hat? Kannst du dir das vorstellen? Koenig in einem Hawaiihemd, wie er Gravol-Pastillen an die Touristen ausgibt?«
»Sag mir einfach, was dir fehlt, Jason.«
Er blickte auf den sich verdunkelnden Himmel im Osten. Ein schwaches Licht hing dort ein paar Grad über dem Horizont, kein Stern, sondern vermutlich einer der Aerostaten seines Vaters. »Die Sache ist die«, sagte er fast flüsternd. »Ich habe ein bisschen Angst, dass ich gerade in dem Moment außer Gefecht gesetzt werde, wo wir erste Ergebnisse bekommen.« Er wandte sich wieder mir zu. »Ich möchte dir trauen können, Ty.«
»Keiner hier außer uns.«
Und dann endlich trug er seine Symptome vor — ruhig, fast schematisch, als kämen Schmerzen und Schwäche kein größeres emotionales Gewicht zu als den Fehlzündungen eines Motors. Ich versprach, einige Tests zu machen, die nicht in den Krankenblättern erscheinen würden. Er gab sein Einverständnis, und dann ließen wir das Thema und machten noch eine Flasche Bier auf, und schließlich dankte er mir und schüttelte mir die Hand, feierlicher vielleicht als nötig, und dann verließ er das Haus, das er für mich gemietet hatte, mein neues, unvertrautes Heim.
Ich ging zu Bett und hatte Angst um ihn.